Augustinus: Lehrer der Gnade (Teil 7)

Augustinus behandelt weiterhin die Unentschuldbarkeit des Menschen vor Gott (S. 360–365). Er behauptet in Anlehnung an den Apostel Paulus, dass alle Menschen vor Gott schuldig sind, da Gott sein unsichtbares Wesen alle Menschen offenbart hat (vgl. Röm 1,18–20). Anschließend geht er besonders auf die Menschen ein, die den Willen Gottes kennen. Wenn schon diejenigen, die das Gesetz nicht kennen, sich eines Tages dafür verantworten müssen, dass sie Gott nicht geehrt haben, wie wird es wohl jenen Menschen ergehen, die im Gesetz unterrichtet sind aber nicht danach leben? Das Gesetz deckt unsere Sünde auf, damit wir uns an den Erlöser wenden. Er nämlich, Jesus Christus, kann uns von der Macht der Sünde befreien.



Augustinus: Die Gnade des Erlösers

Auch kann man von Erwachsenen mit Recht sagen: Sie wollten nicht Verstand annehmen, um gut zu handeln; sie haben, was ärger ist, zwar eingesehen, aber doch nicht Gehorsam geleistet, so dass an ihnen in Erfüllung geht: »Ein hartnäckiger Knecht wird durch Worte nicht gebessert; wenn er auch die Sache begreift, so wird er doch nicht gehorchen« (Spr 29.19). Warum gehorcht er nicht als aus dem Grunde, dass sein Wille sehr böse ist? Darum gebührt ihm nach göttlichem Gerichte eine schwerere Strafe; denn wem mehr gegeben ist, von dem wird auch mehr verlangt. Jene nennt die Heilige Schrift unentschuldbar, denen die Wahrheit nicht unbekannt ist und die doch in der Ungerechtigkeit verharren. »Denn es offenbart sich«, sagt der Apostel, »der Zorn Gottes vom Himmel über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit jener Menschen, die die Wahrheit Gottes in Ungerechtigkeit gefangen halten; denn was von Gott bekannt ist, ist unter ihnen kund, weil Gott es ihnen kundgetan hat. Denn von Erschaffung der Welt an ist sein unsichtbares Wesen durch die geschaffenen Werke erkennbar und sichtbar, auch seine ewige Kraft und Gottheit, so dass sie keine Entschuldigung haben« (Röm 1,21).

Wenn er also jene unentschuldbar nennt, die Gottes unsichtbares Wesen durch die geschaffenen Werke erkennen und sehen konnten, aber der Wahrheit kein Gehör schenkten, sondern ungerecht und gottlos blieben und nicht aus Unkenntnis, sondern – obwohl sie, wie es heißt, Gott erkannten – »ihn doch nicht als Gott verherrlichten oder ihm dankten« (Röm 1,18–20), wie viel unentschuldbarer sind dann diejenigen, die, in Gottes Gesetz unterrichtet, sich die Führer der Blinden zu sein getrauen und andere lehren, sich selbst aber nicht lehren, die predigen, dass man nicht stehlen dürfe, aber selbst stehlen, und was sonst der Apostel von ihnen sagt! Ihnen ruft er zu: »Deshalb bist du unentschuldbar, o Mensch, wer immer du seiest, wenn du richtest. Denn indem du einen anderen richtest, verurteilst du dich selbst. Du tust ja gerade das, worüber du richtest« (Röm 2,1).

Auch spricht der Herr selbst im Evangelium: »Wenn ich nicht gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie keine Entschuldigung für ihre Sünde« (Joh 15,22). Dies ist nicht so zu verstehen, als ob sie überhaupt keine Sünde hätten, da sie voll waren von anderen und großen Sünden; sondern es will sagen, dass sie ohne seine Ankunft jene Sünde, dass sie, obwohl sie ihn gehört, doch nicht an ihn glaubten, nicht gehabt hätten. Der Herr erklärt, dass sie jene Entschuldigung nicht haben, kraft welcher sie sprechen konnten. »Wir haben nicht gehört, darum haben wir nicht geglaubt«. Der menschliche Stolz hält sich ja im Vertrauen auf die Kraft des freien Willens für entschuldigt, wenn die Sünde von der Unwissenheit und nicht vom Willen herzurühren scheint.

Diese Entschuldigung meint die Heilige Schrift, wenn sie jene unentschuldbar nennt, die, wie sie nachweist, mit Wissen sündigen. Gottes gerechtes Gericht aber verschont selbst jene nicht, die nicht gehört haben. »Denn alle, die ohne Gesetz gesündigt haben, werden ohne Gesetz zugrunde gehen« (Röm 2,12). Und obwohl sie selbst sich entschuldigen möchten, so lässt derjenige diese Entschuldigung nicht zu, der weiß, dass er den Menschen in Geradheit erschaffen und ihm das Gebot des Gehorsams gegeben hat und dass die Sünde, ebenso wie die Erbsünde, nur aus dem Missbrauche des freien Willens entstanden ist. Auch wird hierbei niemand ohne Sünde verdammt, denn es ist jene Sünde von einem auf alle übergegangen, von jenem einen, in dem alle zusammen gesündigt haben, noch ehe bei den einzelnen persönliche Sünden vorhanden waren. Und darum ist jeder Sünder unentschuldbar, entweder wegen der Erbsünde oder außerdem noch wegen persönlicher Sünden, mag er nun davon wissen oder nicht wissen, mag er urteilen oder nicht urteilen. Denn auch die Unwissenheit selbst ist bei jenen, die nicht erkennen wollten, unzweifelhaft Sünde, bei jenen aber, die nicht erkennen konnten, Strafe der Sünde. Deshalb ist in beiden Fällen keine gerechte Entschuldigung vorhanden, sondern die Verdammung ist gerecht.

Darum aber nennt die Heilige Schrift diejenigen unentschuldbar, die nicht aus Unwissenheit, sondern mit Wissen sündigen, damit sie auch nach dem Urteile ihres Stolzes, vermöge dessen sie auf die Kräfte ihres freien Willens großes Vertrauen setzen, sich als unentschuldbar erkennen. Denn in diesem Falle können sie sich nicht mit Unwissenheit entschuldigen, und doch wäre dies noch nicht die Gerechtigkeit, zu der nach ihrer Ansicht der freie Wille ausreicht. Jener aber, dem der Herr die Gnade des Wissens und des Gehorsams verliehen hat, spricht: »Durch das Gesetz erfolgt die Erkenntnis der Sünde« (Röm 3,20), und: »Die Sünde erkannte ich nicht anders als durch das Gesetz. Denn ich würde nicht von der Begierlichkeit wissen, wenn das Gesetz nicht sagte: ›Du sollst nicht begehren‹« (Röm 7,7). Auch will er den Menschen nicht als unbekannt mit dem gebietenden Gesetze, sondern als unwürdig der errettenden Gnade aufgefasst wissen, wenn er sagt: »Ich freue mich am Gesetze Gottes dem inneren Menschen nach« (Röm 7,22); aber obwohl er nicht nur das Gesetz Gottes erkannt, sondern auch an ihm sich erfreut, spricht er später: »Ich unglückseliger Mensch! Wer wird mich befreien von dem Leibe dieses Todes? Die Gnade Gottes durch Jesus Christus, unseren Herrn« (Röm 7,24–25).

Niemand also errettet von den Wunden jenes Würgers als die Gnade des Erlösers; niemand befreit die wegen der Sünde Verkauften von den Fesseln ihres Kerkermeisters als die Gnade des Erlösers.

So werden also alle, die sich wegen ihrer Sünden und Ungerechtigkeiten entschuldigen wollen, deshalb mit vollster Gerechtigkeit bestraft, weil alle, die gerettet werden, nur durch die Gnade errettet werden. Wenn aber jene Entschuldigung gerecht wäre, dann würde nicht mehr die Gnade, sondern die Gerechtigkeit befreien. Wenn aber die Gnade befreit, so findet sie in dem, den sie befreit, nichts Gerechtes, weder den Willen noch die Handlungsweise, nicht einmal die Entschuldigung. Wäre diese gerecht, so würde jeder, der sie gebraucht, nach Recht und nicht nach Gnade befreit werden. Wir wissen ja, dass durch die Gnade Christi auch einige von denen gerettet werden, die sprechen: »Warum beklagt er sich also? Denn wer widersteht seinem Willen?« (Röm 9,19). Wenn diese Entschuldigung gerecht ist, so werden sie nicht mehr durch unverdiente Gnade, sondern wegen der Gerechtigkeit dieser Entschuldigung gerettet. Wenn es aber die Gnade ist, durch die sie gerettet werden, so ist offenbar diese Entschuldigung nicht gerecht; dann ist es wahrhaft Gnade, wodurch der Mensch gerettet wird, wenn sie nicht aus Gerechtigkeitspflicht gespendet wird. An jenen also, die sprechen: »Warum klagt er noch? Wer widersteht seinem Willen?« geschieht nichts anderes, als was im Buche Salomons geschrieben steht: »Die Torheit des Mannes verdirbt ihm den Weg; gegen Gott aber murrt er in seinem Herzen« (Spr 19,3).

Obwohl also Gott die Gefäße des Zornes zum Verderben bereitet, um seinen Zorn zu offenbaren und seine Macht zu zeigen, vermöge welcher er auch die Bösen zum Guten gebraucht, und um den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Barmherzigkeit kundzutun, die er zur Ehre bildet, die aber nicht dem verdammlichen Stoffe gebührt, sondern durch die Freigebigkeit seiner Gnade verliehen wird, so wußte doch Gott an diesen Gefäßen des Zornes, die wegen der Verdammlichkeit des Stoffes zur gebührenden Schmach bereitet sind, d.h. an den Menschen, die zwar wegen der natürlichen Güter erschaffen, aber wegen der Sünde zur Strafe bestimmt sind, die von der Wahrheit mit allem Rechte verworfene Ungerechtigkeit zu verdammen, nicht aber diese selbst zu vollbringen. Denn wie die ohne Zweifel lobenswerte menschliche Natur im göttlichen Willen ihren Grund hat, so hat die unstreitig verdammenswerte Sünde im Willen des Menschen ihren Grund. Dieser Wille des Menschen hat entweder die Erbschuld auf die Nachkommen gebracht, die, als er sündigte, in ihm eingeschlossen waren, oder die übrigen Sünden sich zugezogen, da jeder für sich ein schlechtes Leben führte. Aber weder von dieser Erbschuld noch von jenen Sünden, die ein jeder in seinem eigenen Leben, ohne es zu erkennen oder ohne es erkennen zu wollen, aufhäuft oder auch trotz der Belehrung durch das Gesetz infolge fortgesetzter Übertretung zum Übermaß bringt, auch von diesen wird niemand befreit und niemand gerechtfertigt außer vermittels der Gnade Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus, der uns erbarmungsvoll Liebe und Gebet und Erfolg unseres Gebetes verleiht, bis er alle unsere Schwachheiten heilt, unser Leben vom Verderben errettet und uns in Erbarmung und Gnade krönet.

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