Geschlecht als soziale Konstruktion?

In der aktuellen Ausgaben der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) kritisiert Peter Döge in dem Aufsatz »Anerkennung und Respekt – Geschlechterpolitik jenseits des Gender Trouble« die Ausblendung der Biologie beim Konzept des »Sozialen Geschlechts«. Weshalb kam es zur unkritischen Aneignung von Behauptungen, die aus der behavioristischen Psychologie stammen? Döge schreibt:

Aber nicht nur die Existenz von homogenen Genusgruppen, sondern die Existenz von zwei Geschlechtern überhaupt wird seit Beginn der 1990er Jahre in Zweifel gezogen. Ausgangspunkt für das Konzept der »sozialen Konstruktion von Geschlecht« waren insbesondere die Arbeiten von Judith Butler. Die sich auf Butler berufende sogenannte Queer-Therie geht gegenwärtig sogar soweit, die Zwei-Geschlechtlichkeit als gesellschaftliche Norm insgesamt infrage zu stellen. Ins Blickfeld von Geschlechterpolitik rücken in diesem Zusammenhang vor allem Geschlechtsidentitäten und Geschlechterrollen, wobei angenommen wird, diese beliebig modifizieren zu können. Ihren politischen Niederschlag finden diese Ideen zum Beispiel in Maßnahmen wie dem Girl’s und dem Boy’s Day sowie in all den Programmen zur Veränderung des Berufs- und Studienfachwahlverhaltens von Frauen. Allerdings hat sich dieses in den vergangenen Jahren auf europäischer Ebene ebenso wenig verändert wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung oder das geschlechtsspezifische Muster in der Versorgung von kleinen Kindern.

Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, sich die theoretischen Wurzeln des sozial-konstruktivistischen Gender-Konzepts in Erinnerung zu rufen. Diese finden sich in einem psychologischen Ansatz, der in den 1920er Jahren ausgebildet wurde und unter dem Begriff des Behaviorismus eng mit den Namen Budrus F. Skinner und J.B. Watson verbunden ist. Der Behaviorismus geht davon aus, dass menschliches Verhalten in einem Reiz-Reaktions-Muster ausschließlich durch die Umwelt bestimmt wird, wobei gleiche Umweltbedingungen zu ähnlichen Verhaltensmustern führen sollen. Individuelle kognitive Bewusstseinsprozesse als Determinante von Verhalten erkennen die Behavioristen nicht an, jeder Mensch ist bei Geburt eine tabula rasa. Die empirische Grundlage dieser basalen Annahmen der behavioristischen Psychologie bilden dabei im Wesentlichen Experimente mit Tauben, Ratten und Hunden – die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Menschen bleibt doch eher fraglich. Es ist erstaunlich, dass dieser Aspekt im Queer-Diskurs niemals einer ebensolchen kritischen Reflexion unterzogen worden ist wie die Ergebnisse der Primaten-Forschung oder der Evolutionspsychologie.

Der Behaviorismus verkennt in seiner einseidigen Perspektive auf die Umwelt als Verhaltensdeterminante zudem, dass die soziale Umwelt, die auf die Individuen einwirkt und ein bestimmtes Verhalten evoziert, immer das Produkt der Handlungen eben dieser Individuen, dieser Frauen und dieser Männer, ist. Und dann stellt sich die Frage, wovon das Handeln dieser Individuen bei der Gestaltung der sozialen Strukturen, die wiederum genau das Verhalten hervorbringen, das wir beobachten können, letztendlich bestimmt wird. Bei der Beantwortung dieser Frage wird deutlich, dass der Queer-Diskurs ein bedeutendes Moment des sozialkonstruktivistischen Ansatzes dauerhaft übersieht – nämlich die Biologie des Menschen: »Biologische Fakten beschränken die gesellschaftlichen Möglichkeiten des Einzelnen. Aber die gesellschaftliche Welt, die vor jedem Einzelnen ist, beschränkt auch das, was für den Organismus biologisch möglich wäre.« Soziale Konstruktionsprozesse entwickeln sich Peter Berger und Thomas Luckmann zufolge immer im Spannungsfeld von Natur und Kultur. Ein solcher Blick auf Männer und Frauen als Lebewesen wird von der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung und der Geschlechterpolitik bedauerlicherweise vorschnell als »biologistisch« abgetan – dies nicht selten ohne ein genaues Verständnis davon, was Biologie eigentlich ist oder in weitgehender Gleichsetzung von Biologie mit genetischem Determinismus. Auf diese Weise wird dann ein Faktum völlig übersehen, das für das Geschlechterverhältnis und für Geschlechterpolitik von zentraler Bedeutung ist: der Aspekt der Reproduktion beziehungsweise der Fortpflanzung.

Die die APuZ-Ausgabe: 6YZJND.pdf.

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