Öffentliches Schweigen

Nachfolgend ein Buchhinweis aus Glauben & Denken heute 1/2015 zu:

Csm 9783506779960 3b3cdc03fbAuf meinen Lesestapel liegen hin und wieder Bände aus der katholischen Welt. Nicht nur, weil akademische Arbeit dies gebietet, auch Neugier und Staunen treiben mich an. Im vergangenen Jahr habe ich die Theologische Anthropologie (2011) von Thomas Pröpper und die Katholische Dogmatik (2005) von Gerhard Ludwig Müller studiert. Die Dogmatik ist didaktisch ausgesprochen klug aufbereitet. Pröpper hat mit seinem zweibändigen Werk einen eigenständigen Beitrag zur christlichen Anthropologie geliefert. Seine Darstellung des thomistisch-molinistischen Gnadenstreits (Bd. 2, S. 1351–1401) ist sehr zuträglich. Obwohl ich als reformierter Christ selbsterklärend viele Dinge anders sehe, erweitert die Lektüre meinen Horizont und hilft mir bei der „Versicherung“ meiner eigenen Glaubenspositionen, gerade auch im Blick auf die Gnadentheologie.

Nicht nur hochtheologische Bücher liegen auf dem Stapel, Zeitschriften und Periodika gehören auch dazu. Zum Beispiel die FUGE, ein Journal für Religion & Moderne, das von Martin Knechtges und Jörg Schenuit im Verlag Ferdinand Schöningh herausgegeben wird. In einer Zeit, in der im öffentlichen Raum fast nur noch Marktschreier gehört werden, setzt die FUGE auf die Wahrung von Stille und Andacht. Tatsächlich erlebe ich beim Stöbern in der FUGE „Entschleunigungsmomente“. Das Journal „zwingt mich“, langsam und aufmerksam zu lesen. Wohltuend.

Der Doppelband 14/15 steht unter dem Thema „Öffentliches Schweigen“. Die 224 Seiten enthalten viele nennenswerte Beiträge. Ich will drei erwähnen.

Die Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Ekaterina Poljakova erörtert in ihrem Aufsatz zur Klerikalismuskritik Charles Taylors aus dem Jahr 1960 das Thema soziale Gerechtigkeit auf einem Niveau, das ich andernorts vermisse. Anstatt uns, so ihr Vorwurf, mit dem Gerechtigkeitsanspruch der Bibel auseinanderzusetzen, orientieren wir uns allzu oft an den Reichtumside-alen der westlichen Zivilisationen. Aber ist der irdische Wohlstand ein christliches Ziel? „Hier bitte ich die Leser, einen Moment inne zu halten, bevor sie sich empören. Auch mir gefällt die schreiende Ungerechtigkeit ‚dort draußen‘ nicht. Aber zwischen einem ‚mir gefällt es nicht‘ und ‚Gott gefällt es nicht‘ könnte, so möchte ich zu bedenken geben, auch in diesem schwierigen Fall durchaus ein Unterschied in re bestehen. (Schon sprachlich deutet sich dies ja an: Das Wort ‚Gerechtigkeit‘ ist im Deutschen leicht irreführend, entsprechen ihm in der Bibel doch verschiedene Wörter. Die irdische Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit Gottes jedenfalls werden unterschiedlich bezeichnet, und schon dies sollte uns zur Vorsicht mahnen.) Meine provokante Frage möchte ich nun also in der Sache noch einmal formulieren. Wenn ich es für mich selbst für gut halte, arm zu sein und in Christi Namen verfolgt zu werden – also meine Haltung ganz nach dem klaren Wort des Herrn ‚Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein‘ (Mt 5,12) ausrichte, und wenn ich diese Freude als etwas Heiliges, als etwa Erwünschtes ansehe, warum sollte ich meinem Nächsten nicht dasselbe wünschen, will ich ihn doch lieben wie mich selbst? In jedem Fall scheinen Zweifel angebracht, ob die christliche Liebe wirklich ganz selbstverständlich darin bestehen sollte, Arme reich zu machen oder allen Menschen Wohlstand und ein möglichst langes Leben zu sichern“ (S. 105).

Berührt hat mich Brigitte Sändigs Essay „Sprechen, Schweigen und Geschwätz“. Die Literaturwissenschaftlerin schreibt über ihre Erfahrungen in der ehemaligen DDR und entwickelt eine kleine „Phänomenologie des Geschwätzes“. Eindrucksvoll deckt sie auf, dass die „Freisetzung des Sprechens“ nach dem Fall der Mauer nicht nur das ehrliche Gespräch, sondern auch das „taktische, verbrämte, vorgegebene Sprechen“ (S. 14) wiedergebracht hat. Das aufrichtige Wort, das in der DDR im nichtöffentlichen Raum immerhin eine Möglichkeit war und hin und wieder spürbaren Tiefgang erreicht hat, ist in der freien Welt vom Regime manipulativer Sprachregelungen eingefangen worden. Sändig zitiert das Bologna-Schwarzbuch (Bonn, 2009): „Systemische Unterdrückung der Freiheit beginnt in der Regel mit Eingriffen in die Sprache. Mittels Sprachregelung versucht man das Denken der Menschen schleichend zu manipulieren …“ Weiter schreibt sie: „Zur Manipulation gehört etwa die ständige Wiederholung absichtsvoll geschaffener Begriffe, die dadurch in den Status des Selbstverständlichen erhoben werden und sich unversehens in den allgemeinen Sprachgebrauch einschleichen“ (S. 15).

Höhepunkt ist für mich der Beitrag über Reinhold Schneider von Bettina Klix. Schneider war ein katholischer Schriftsteller, der sich von Anfang an mit der Diktatur des Nationalsozialismus auseinandersetzte und gegen Unterdrückung, Rassenwahn und Volksverherrlichung anschrieb. Mit seinem Werk Las Casas vor Karl V. Szenen aus d. Konquistadorenzeit (1938) stellte sich Schneider mitten in der NS-Zeit gegen die Judenverfolgung. Einer Anklage wegen Hochverrat konnte Schneider entkommen, da 1945 das „Großreich“ zusammenbrach und es nicht mehr zur Verhandlung kam. Bettina Klix beschreibt in Skizzen das Leben und Werk Schneiders und würdigt seine Arbeiten besonders, indem sie erzählt, wie er ihr in Tagen eigener Beunruhigung ein aufrichtender Begleiter geworden ist. Als sich die Schriftstellerin intensiv mit dem Schrecken des Konzentrationslagers Bergen-Belsen auseinandersetzte und angesichts der geschilderten Gräueltaten fast verzweifelt ist, waren es Schriften Schneiders, die sie aufgerichtet haben. „Gemäß dem biblischen Wort, dass nur die Wahrheit uns freimachen kann, stellt Schneider fest: ‚Der neue Glaube aber, den Ereignisse von unverwindlicher Furchtbarkeit von uns fordern, ist der Einbruch der Wahrheit in unser Leben‘“ (S. 35).

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