Von der Notwendigkeit dogmatischer Arbeit

Die Bibel ist kein dogmatisches Buch. Die Bücher der Bibel gehören verschiedenen Gattungen, im Alten Testament finden wir Geschichtsbücher, Lehrbücher, Psalmen und Prophetenbücher. Das Neue Testament enthält die Evangelien, die Geschichte der ersten Gemeinden und Mission, die verschiedenen Briefe und das Buch der Offenbarung. Selbst der Römerbrief des Paulus, zweifellos ein Werk, das in sehr schlüssiger Weise Gedanken entfaltet, ist keine Dogmatik, sondern ein Schreiben mit konkreten Anlässen und Adressaten.

Auf der Grundlage dieses Sachverhalts kann man fragen, ob wir denn so etwas wie Dogmatik überhaupt brauchen. Tatsächlich habe ich mal auf einer Tagung ein Gespräch mit einem Theologen geführt, der fest davon überzeugt war, dass die Christenheit fast alle Streitereien der Dogmatik verdanke und der Zeitpunkt gekommen sei, diese von den Lehrplänen zu streichen. Warum hat Gott uns kein dogmatisches Lehrbuch offenbart? Vielleicht will er ja gar keine Dogmatik?

Viele Christen hegen Vorbehalte gegenüber der Dogmatik. Warum brauchen wir die klaren Definitionen und komplizierten Aussagesätze (Propositionen) und Argumente? Das Evangelium ist so einfach, so dass jeder Laie es verstehen kann. Die ersten Jünger Jesu waren keine Professoren, sondern Fischer. Das Evangelium von der vergebenden Barmherzigkeit Gottes ist für das Herz und Leben des Menschen gedacht, nicht für sein Bedürfnis, Verstandesdispute zu führen. Dogmatik führt doch nur in das abgehobene, theoretische Debattieren. Gott aber will uns in die Gemeinschaft rufen und zu Werken der Barmherzigkeit anstiften. Es geht dem Christentum nicht um die reine Lehre, sondern um den Glauben an die Person Jesus Christus. Die dogmatische Lehre, so häufig zu hören, widerspreche dem Leben, fördere die Intoleranz und ersticke die tätige Liebe (vgl. dazu W. Künneth, Fundamente des Glaubens, 1980, S. 40–42).

Solche und ähnliche Vorbehalte sind schon alt und nicht gänzlich unberechtigt. Lehre kann lebensfremd sein. Tatsächlich warnt bereits die Bibel vor dem unnützen Gezänk streitsüchtiger Menschen (vgl. 1Tim 6,5). Dogmatische Streitigkeiten spiegeln manchmal nur das Bedürfnis nach Selbstdarstellung, Gewinnsucht (vgl. Tit 1,11; 2Petr 2,3) oder auch Manipulation von Menschen. Auch unter den Dogmatikern gibt es „böse Leute“ und „Scharlatane“, die zum Schlechten hin „verführen“ und „verführt werden“ (2Tim 3,13).

Dennoch dringen diese Vorbehalte nicht zum Kern der Sache vor.

Einmal können wir einwenden, dass die Heilige Schrift, obwohl sie kein dogmatisches Lehrbuch ist, gleichwohl den unschätzbaren Wert der Lehre herausstellt. Nachfolger Jesu sollen die Zuverlässigkeit der Lehre erkennen (vgl. Lk 1,4), an der Lehre der Apostel festhalten (vgl. Apg 2,42), der Lehre gegenüber von ganzem Herzen Gehorsam werden (Röm 6,17). Alles, was uns im Römerbrief geschrieben ist, ist „uns zur Belehrung geschrieben“ (Röm 15,4). Wir finden in den Pastoralbriefen die aufschlussreiche Wertschätzung der „gesunden Lehre“ (2Tim 4,3), so dass ein Ältester am Wort festzuhalten hat, das „zuverlässig ist und der Lehre entspricht“ (Tit 1,9).

Noch einschneidender ist die Beobachtung, dass die Wirklichkeit so geschaffen ist, dass wir ohne Dogmatik nicht leben können. Kurz: Jeder Mensch ist durch die Welt, in die er hineingestellt ist, gezwungen, „Dogmatiker“ zu sein. Walter Künneth spricht von einer anthropologischen Grundbestimmtheit der Lehre und schreibt (W. Künneth, Fundamente des Glaubens, 1980, S. 42):

Von ausschlaggebender Bedeutung ist die Einsicht, daß das Menschsein in seiner Tiefe und Hintergründigkeit von einer dogmatischen Weichenstellung nicht zu lösen ist. Es gibt demnach keinen Menschen, der sich nicht unbewußt oder bewußt, indirekt oder direkt von einer geheimen dogmatischen Überzeugung leiten ließe. Die Behauptung einer Grundsatzneutralität muß als Selbsttäuschung durchschaut werden. Jedes menschliche Denken und Handeln wird von irgendwelchen vorausgegebenen Grundsätzen, die man auch als ‚Lehren‘ bezeichnen könnte, unterbewußt oder willensmäßig gesteuert. Die Quellorte dieser den Menschen dirigierenden Prinzipien und Lehren sind unendlich mannigfach, zu denken ist an Tradition und Sitte, Umwelteinflüsse, tiefenpsychologisch zu analysierende Urgründe der menschlichen Psyche, seine persönlichen Überzeugungen und Erfahrungen, die sich zu normgeladenen Lebensgrundsätzen verdichten. So entstehen und wirken ‚dogmatische‘ Leitbilder, die auf Verhaltensweise und Lebensgestaltung einen zielsetzenden Einfluß ausüben. Niemand kann daher dieser Grundbestimmtheit durch eine ‚Lehrerkenntnis‘ oder ein ‚Lehrurteil‘ entfliehen. Die Ausrichtung des Daseins durch irgendeine ‚Lehre‘ ist unvermeidbar.

Folglich geht es gar nicht um Dogma versus Leben, sondern um Dogma versus Dogma, Irrtum und Lüge versus Wahrheit. Die wesentliche Frage ist: Lenken falsche oder gesunde Glaubenssätze unser Leben? Immer werden es Glaubenssätze sein, die unserem Leben Richtung und Sinn geben. Die falsche Lehre knechtet uns, macht uns geistliche krank und lenkt in das Verderben. Jesus als der wahre Lehrer und Erlöser führt uns durch seine Worte in die Wahrheit und damit auch in die Freiheit.

Überdenken wir zur Illustration kurz den geläufigen Einwand, es komme auf die Liebe und nicht auf die Lehre an. Der Rückzug auf die „Liebe“ entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als eine zutiefst dogmatische Entscheidung. Was ich auch immer unter „Liebe“ verstehe, meine Auffassung von Liebe ist ein dogmatische. Der eine versteht unter Liebe, dass ich die Interessen des Nächsten in jedem Fall zu achten habe. Ein anderer verbindet mit Liebe möglicherweise ein bestimmtes Gefühl. Wieder ein anderer möchte um der Liebe willen einen Menschen vor seinen selbstsüchtigen Sehnsüchten schützen. Was auch immer wir unter Liebe verstehen, unsere Deutung und Verwirklichung der Liebe ist von Einsichten, Erfahrungen und Urteilen über den Menschen und seine Beziehungen getränkt, die dogmatischer Natur sind. Liebe ersetzt Erkenntnis also nicht, sondern setzt sie voraus. Lehre im Sinne von dogmatischen Grundentscheidungen ist deshalb unausweichlich. Auch wer Lehre ablehnt, lehrt. Die entscheidende Frage ist: Welche Lehre bestimmt unser Denken und Handeln? Dogmatik will unsere Herzen unter die Herrschaft der Wahrheit bringen. Deshalb entfaltet sie uns die unüberbietbare Lehre, die uns Christus gebracht hat.

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5 Kommentare
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DanielV
8 Jahre zuvor

Ich habe schon mehrmals gestaunt, wie oft Paulus gegenüber Timotheus und Titus von der „gesunden bzw. heilsamen Lehre“ und ihren praktischen Konsequenzen schreibt. Wir brauchen heute tatsächlich nicht weniger Lehre, sondern eine gesunde und in der Bibel gegründete, die im Gebet und ohne Denkfaulheit erarbeitet wird. Ein guter Impuls – Dankeschön!

Schandor
8 Jahre zuvor

Großartiger Beitrag, danke!

Scott
8 Jahre zuvor

Interessant ist ein Artikel von Philip Cary in „First Things“ (http://www.firstthings.com/blogs/firstthoughts/2015/06/the-benedict-option-for-evangelicals), worin er sagt: „Today’s evangelical Christians are taught to find God by listening for the voice of the Spirit in their hearts.“ Also, die Unterbetonung der Lehre verletzt auf zwei Weisen: (1) wir haben eine unvertrauenswürdige Basis (Gefühl bzw „einfache Liebe“) und (2) falls man merkt, dass diese Basis nicht ausreichend ist, ist man so geprägt, das, was helfen könnte (Lehre und Denken), als unhilfreich betrachtet wird.

7 Jahre zuvor

[…] Mehr lesen: theoblog.de […]

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