Voreingenommen vom „Ich“

Bei der Lektüre biblischer Texte setzten wir Aussagen laufend in ein Verhältnis zu uns selbst. Wir fragen etwa oft zu schnell: „Was bedeutet das für mich?“. Randolph Richards und Brandon O’Brien zeigen in ihrem Buch Misreading Scripture with Western Eyes, dass neuzeitliche Denkvoraussetzungen uns häufig den Blick für den eigentlichen Textsinn eintrüben.

Ein Beispiel  (S. 197–198):

Wir glauben, dass die Bibel unsere Vereinnahmung mit uns selbst befürwortet. Wir schließen aus der Schrift, dass Gott uns einzigartig gemacht hat, für jeden von uns einen besonderen Plan hat und daher uns in den Seiten der Schrift etwas zu sagen hat. Gott sagte zu Jeremia: „Bevor ich dich im Mutterleib geformt habe, kannte ich dich, bevor du geboren wurdest, habe ich dich ausgesondert“ (Jer 1,5). Ebenso sprachen Jesaja und Paulus davon, beim Namen gerufen (Jes 49,1) oder im Mutterleib abgesondert (Gal 1,15) worden zu sein. Als „Westler“ finde ich mich selbst als jemand wieder, der denkt: Wenn Gott sie im Mutterleib auswählte, dann musste er mich auch so auserwählt haben. Ich kann sogar Psalm 139,13 als Beweistext heranziehen. Aber die Begründung ist zirkulär; wir gehen davon aus, dass es so zu verstehen ist, weil unsere Kultur uns sagt, dass wir etwas Besonderes sind. Der Punkt, den die Bibel macht, scheint ganz das Gegenteil zu sein: Jeremia, Jesaja und Paulus waren anscheinend eine Ausnahme. Im Gegensatz zu allen anderen wurden sie für ein besonderes Wort und eine besondere Aufgabe vom Herrn auserkoren. Aber in der Art, wie wir es lesen, ist Jeremia in der Weise „besonders“, wie jeder andere es auch ist.

Das Buch Misreading Scripture with Western Eyes gibt es im April 2017 für Anwender der Logos-Software gratis. Hier die Quelle: www.logos.com.

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8 Kommentare
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7 Jahre zuvor

Hört sich nach einem „must read“ an!

Schandor
7 Jahre zuvor

Wenns mal nicht so läuft, wie man sichs wünscht, kanns schnell mal heißen:
Schau Mose an, auch der musste sehr lange warten, bis …

Darauf frage ich immer zurück: Was war mit den unzähligen Menschen im Land Gosen, die von den Ägyptern unterdrückt wurden? Wieso vergleichst du mich ausgerechnet mit Mose? Die Wahrscheinlichkeit, dass ich eher einer „aus dem Volk“ bin, ist doch ungleich höher, oder?

Aber der Sager: „Du bist etwas Besonderes“, Gott hat „einen Plan für dich“ usw., der ist bereits geistlich voll verstoffwechselt. Für jemand, der an Gottes Vorsehung glaubt, sind solche Aussagen zwar nicht gerade falsch, aber doch Truismen. Und daher so nicht richtig. Ich selbst jedenfalls kann in mir nichts besonderes sehen.

Alle, die meinen, die Bibel hat ihnen mit jedem Vers etwas zu sagen, grüße ich mit Daniel 5,1:
Und König Belsazar machte ein Mahl für seine tausend Mächtigen und soff sich voll mit ihnen.
Nun denn!

Niko
7 Jahre zuvor

Und was sage ich einem Niedergeschlagenem in der Seelsorge?

Matze
7 Jahre zuvor

@Niko:
Dass wir Gott wir wirklich wichtig sind sieht man daran, dass unsere Haare auf dem Haupt gezählt sind. Auch die Bibelstellen, die zeigen, dass Gott Jesus auf diese Welt aus großer Liebe zu uns gesandt hat sagen dies aus. Auch denke ich dass Gott einen Plan mit jedem hat.

Wo aber das Problem ist, dass uns in vielen Predigten eingeredet wird: Du bist etwas ganz besonderes. Gott hat für dich einen ganz besonderen Auftrag. Und dann meinen wirklich manche sie wären Mose oder Paulus.
Mit diesem hohen Anspruch wird mancher Niedergeschlagener frustriert.
Warum reicht es nicht aus zu wissen: Gott hat mich lieb, ich bin in seiner Hand, er trägt mich durch, er sorgt für mich? Warum kann ich nicht einfach ein Normalo sein und mich an Gott erfreuen und damit zufrieden sein? Wenn Gott für mich einen so ganz besonderen Plan hat kann er es mir ja sagen.

7 Jahre zuvor

Danke Ron.
Habe mich z.B. gefragt, wie das wäre, die sog. geistliche Waffenrüstung konsequent im Plural auszulegen und zu predigen: so wie es da steht. Was wäre, wenn die Gemeinde die Waffenrüstung anzieht? Und nicht nur jeder Einzelne, so wie es immer gepredigt wird!?

Gruß.

Artur Wiebe

PeterG
7 Jahre zuvor

@Arthut Wiebe
Das ist ein Grundübel unserer bibeltreuen Gemeinden – dieser Individualismus. Dass der größte Teil des Neuen Testaments im Plural geschrieben wurde und sich die Briefe an Gemeinden richten, wird völlig übersehen. Selbst die Pastoralbriefe wurden in den Gemeinden für alle vorgelesen.

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