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Erdoganismus in Reinkultur

Heiko Maas fühlt sich „in Berlin als Justiz- und Verbraucherschutzminister mehr als wohl“ und steht voll hinter Martin Schulz, der seiner Meinung nach die richtigen Themen anspricht. Die richtigen Themen, das bedeutet für Schulz wie Maas: mehr Macht dem Staate! Deshalb hat Heiko Maas auch einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sich so liest, als stamme er aus dem Roman „1984“ von George Orwell.

Harald Martenstein hat des Ministers Kampf gegen „Hatespeech“ trefflich kommentiert:

In Zukunft sollen Facebook, Twitter, Youtube, WhatsApp et cetera verpflichtet werden, alle „offensichtlich rechtswidrigen Inhalte“ zu löschen, und zwar zum Teil schon innerhalb von 24 Stunden. Ansonsten drohen den Internetfirmen Strafgelder von bis zu 50 Millionen Euro. Aber was, zum Teufel, ist „offensichtlich rechtswidrig“? Gerichte brauchen oft mehrere Instanzen, um es herauszufinden. Nun sollen diese Firmen entscheiden, sie werden zu Hilfssheriffs ernannt. Sie sind Fahnder und Richter in einem. Wenn sie zu milde urteilen, sind sie selber dran, Millionenstrafen.

Ich halte das für einen Angriff auf das Prinzip der Gewaltenteilung, für Erdoganismus in Reinkultur. Renate Künast von den Grünen ist sogar das noch zu wenig Diktatur. Sie will „Diskriminierung“ aus dem Netz löschen lassen, und zwar ausdrücklich auch solche, die „noch nicht strafbar“ ist. Irre, oder? Ein Tweet oder eine Nachricht auf WhatsApp, die nicht strafbar sind, sollen einfach gelöscht werden, nur, weil der Text nach Ansicht von Renate Künast „diskriminierend“ sein könnte. Meinungsfreiheit? Vergesst es. Renate, wann kommt eigentlich die gute alte Briefzensur wieder?

Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann vor allem das Recht, anderen Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen. Dieser Satz ist von George Orwell.

Mehr: www.tagesspiegel.de.

Empfohlen sei zusätzlich die Analyse von Markus Reuter. Er schreibt:

Der Gesetzentwurf ist sehr weit gefasst und betrifft deutlich mehr Dienste als die großen marktdominanten und meinungsbildenden sozialen Netzwerke Facebook und Twitter, die in der bisherigen Debatte immer als Grund für das Gesetz herhalten mussten. In der weiten Definition des Gesetzentwurfes sind auch Messenger wie WhatsApp enthalten. Zudem könnten laut Gesetzestext kommerzielle Maildienstleister sowie Datenspeicherdienste wie Dropbox betroffen sein, selbst wenn das Justizministerium sowohl in der Begründung wie auch uns gegenüber sagt, dass diese nicht darunter fielen. Am Ende zählt aber nur der Gesetzestext.

Würde der Entwurf Gesetz werden, macht man die betroffenen Netzwerke ohne vorhergehende richterliche Überprüfung zu Ermittler, Richter und Henker über die Meinungsfreiheit. Nutzer könnten sich nur noch im Nachhinein gerichtlich gegen eine Löschung ihrer Inhalte wehren. Dass sich die Nutzer prinzipiell gegen Löschentscheidungen wehren können ist gut, doch eine zeitliche Verschiebung bis zum Gerichtstermin kann dazu führen, dass ein Inhalt dann nicht mehr relevant ist.

Gleichzeitig würde das Gesetz zu einer Ausweitung automatischer und gefährlicher Zensurmechanismen führen. Diese können die beanstandeten Inhalte auf der kompletten Plattform aufspüren und löschen, sowie ein erneutes Hochladen verhindern. Diese Filter existierten schon gegen Kinderpornografie und neuerdings gegen nicht näher-definierte „Terrorpropaganda“. Nun werden diese Filter mit dem Gesetzentwurf auf weitere Straftatbestände ausgeweitet.

Die Union hält den Gesetzentwurf übrigens nur für „einen ersten, kleinen Schritt in die richtige Richtung“.

Doğan Akhanlı dankt

Im 10. August 2010 wurde der Kölner Schriftsteller und Menschenrechtler Doğan Akhanlı bei der Einreise in die Türkei auf einem Istanbuler Flughafen festgenommen; die Reise galt dem kranken Vater D. Akhanlıs, der während der Haftzeit verstarb (vgl. hier).

Inzwischen ist Doğan wieder frei und in Deutschland und bedankt sich für die Unterstützung während der zurückliegenden Monate:

Liebe Freundinnen und Freunde,

an dieser Stelle möchte ich Euch endlich persönlich meinen Dank aussprechen. Obwohl ich Schriftsteller bin, ist das für mich schwierig – einige von Euch wissen ja. Vielleicht liegt daran, dass für Euer unglaubliches Engagement Dankesworte zu einfach, zu wenig erscheinen.
Dass Solidarität für Menschen, die in so ernsthaften Schwierigkeiten wie ich steckten überlebensnotwendig sein kann, wusste ich ja theoretisch. Während meiner Haftzeit durfte ich praktisch erfahren, wie wichtig sie für das Leben dort, für das seelische Überleben tatsächlich ist. Eure Solidarität hat mich gelehrt, dass das Gefängnis, in welches ich gesteckt wurde, als „Ort“ verschwinden kann – in meinen Gedanken und in meinem Herzen konnte ich ja immer bei Euch sein. Manche von Euch habe ich sogar öfter gesehen als früher.
Meine für türkische Verhältnisse „frühzeitige“ Freilassung habe ich Eurem großartigen Einsatz zu verdanken. Ohne Euch hätte ich sicher anderthalb Jahre warten müssen. Wie ich überlebt hätte, weis ich nicht.
Habt Dank, liebe Freundinnen und Freunde! Ich weis das, was Ihr für mich getan habt, sehr zu schätzen. All die kleinen und großen Taten, ob Grußbotschaften oder Solidaritätsaktionen, jede einzelne war für mich wichtig.
Ich bin froh und erleichtert, dass ich mich nach meiner Freilassung doch dazu entschlossen habe mit meiner Tochter und meiner jüngeren Schwester zum Dorf meiner Kindheit zu fahren. Der Besuch des Friedhofs auf dem meine Mutter, mein „Lieblingsbruder Erdal abi“ und nun, während meiner Haft auch mein Vater begraben wurde, das Einatmen der Luft in dem Haus meiner Geburt und die Begegnung mit den liebenswürdigen Dorfbewohnern, die mich stolz wie einen verlorenen Sohn empfangen haben waren für mich heilsam und haben dazu beigetragen, dass es der türkischen Justiz nicht gelungen ist, mich in ein erneutes seelisches Exil zu schicken. Dass ich nun gesünder zurückkehre als ich fortgefahren bin, habe ich Euch zu verdanken.

Doğan Akhanlı

Gerechtigkeit für Doğan Akhanlı

Im ersten Halbjahr 2010 sind 587 Schriftsteller weltweit verfolgt, inhaftiert oder sogar getötet worden. Das wird vom Komitee für die Unterstützung von inhaftierten Schriftstellern und Autoren der Internationalen Schriftstellervereinigung P.E.N. dokumentiert.

Seit dem 10. August ist Doğan Akhanlı einer der Inhaftierten. Jetzt gibt es eine Internetseite, die zur Unterstützung von Doğan Akhanlı aufruft. Hier: gerechtigkeit-fuer-dogan-akhanli.de.

Türkei: Festnahme und Anklage des Menschenrechtlers Dogan Akhanli

Im 10. August 2010 wurde der Kölner Schriftsteller und Menschenrechtler Doğan Akhanlı bei der Einreise in die Türkei auf einem Istanbuler Flughafen festgenommen; die Reise galt dem kranken Vater D. Akhanlıs. Nach Auskunft seines Anwaltes Haydar Erol wird Doğan Akhanlı seit dem 20. August in einem Gefängnis in der Provinz Tekirdağ unter dem Vorwand festgehalten, er sei 1989 an einem Raubüberfall auf eine Wechselstube in Istanbul beteiligt gewesen. Diese Anklage stütze sich auf Zeugenaussagen, von denen eine unter Folter gemacht worden sei, erklärte Erol. Der vermeintliche zweite Zeuge – der Sohn des Getöteten – habe später bestritten, Akhanli jemals auf einem Foto identifiziert zu haben. „Dieses Szenario hat die Polizei produziert“, meint Rechtsanwalt Erol. Es handele sich um den Versuch einer späten Abrechnung mit der politischen Linken. Trotz der Entlastungsbeweise, die Anwalt Erol bei den bisherigen zwei Haftprüfungsterminen erbringen konnte, hat ein Staatsanwalt gegen Doğan Akhanlı Anklage wegen Raubes und Totschlags erhoben. Drei Haftbeschwerden sind bisher gescheitert.

Zu vermuten ist, dass die Festnahme D. Akhanlıs und die zweifache Ablehnung seiner Freilassung durch die Staatsanwaltschaft auch in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Engagement des Autors für die Anerkennung des offiziell noch immer in der Türkei bestrittenen Genozids an Christen steht.

Für Bemühungen um eine Freilassung von Dogan Akhanli werden hier Unterschriften gesammelt: www.aga-online.org.

Ehrliche Auseinandersetzung mit dem politischen Islam fehlt

In manchen linken Kreisen herrscht Solidarität mit islamistischen Strukturen. Die Aktivistin Schilan Kurdpoor warnt in ihrem aufschlussreichen Interview vor gefährlichen Diskursverschiebungen in Deutschland. Unter anderem sagt sie:

Präsident Erdogan macht keinen Hehl daraus, dass er vom Osmanischen Reich träumt. Er versucht, die arabische und kurdische Welt gezielt für sich zu gewinnen – und setzt dabei ganz bewusst auf den politischen Islam. Islamismus ist für ihn ein Werkzeug zur Machterweiterung. Die Besetzung kurdischer Gebiete wie Afrin im Nordwesten Syriens seit 2018 ist längst Realität.

Doch gerade in Europa – insbesondere in linken Diskursen – fehlt oft jedes Bewusstsein für diesen spezifischen Imperialismus. Es gibt kaum eine Auseinandersetzung mit der imperialen Ideologie. Stattdessen wird jede Kritik daran schnell als „rassistisch“ oder „islamophob“ abgetan. Diese analytische Leerstelle ist gefährlich. Denn sie verhindert eine ehrliche Auseinandersetzung mit der realen Bedrohung, die von autoritären, islamistisch geprägten Regimen ausgeht – und damit auch eine klare Positionierung im Sinne echter Solidarität gegenüber denjenigen, die unter deren Herrschaft leiden.

Mehr: www.welt.de.

Türkei: Aktive Christen unerwünscht

Der erneute Einmarsch der Türkei und mit ihr verbundener islamistischer Milizen in Syrien ist mit ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen, insbesondere der Vertreibung von Kurden, Christen und Jesiden im türkischen Nachbarland verbunden. Fast unbemerkt „reinigt“ die Regierung Erdoğan aber auch das türkische Inland von Christen und anderen Minderheiten. Ausweisungen und Einreiseverbote für engagierte Christen nehmen ein immer größeres Ausmaß an, berichtet die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM).

Seit Beginn 2019 sind bereits insgesamt 25 Personen ausgewiesen worden, die inoffiziell als Bedrohung für die nationale Sicherheit dargestellt werden. Hinzu kommen Ehepartner und weitere Familienangehörige, so dass allein in diesem Jahr bereits 60 bis 70 Personen Opfer dieser Politik geworden sind. Die Opfer sind Ausländer, die sich zum Teil bereits vor Jahrzehnten in der Türkei niedergelassen hatten und die in ihren türkischen Gemeinden als besonders aktiv gelten. Sie stammen aus Deutschland, Großbritannien, Finnland, USA, Neuseeland, Kanada und Australien. Die meisten Betroffenen erfuhren von ihrer Ausweisung bei einer Ausreise aus dem Land, manche auch erst bei der Wiedereinreise.

„Die Religionsfreiheit einschließlich des Rechts auf Mission wird in der türkischen Gesetzgebung garantiert. Eine Ausweisung von missionarisch aktiven Gläubigen ist rechtswidrig. Die Anschuldigung, die Betroffenen seien eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit, ist lächerlich und empörend“, erklärt Martin Lessenthin, Vorstandssprecher der IGFM. 

Die Ausgewiesenen sind in der Türkei integriert. Die allermeisten lebten und arbeiteten im Großraum Istanbul, Ankara und Izmir. Sie haben dort Familien und Beruf, besitzen Häuser oder haben Kinder in Ausbildung. Sie haben sich nie etwas zu Schulden kommen lassen, sind teilweise sogar Arbeitgeber für Einheimische. Die Ausgewiesenen erhalten gleichzeitig ein Einreiseverbot. Die türkische Regierung gibt keine schriftliche Erklärung ab, warum die Betroffenen plötzlich eine Bedrohung darstellen und ihnen der Code „N-82“ oder „G-82“ zugeordnet wird, der faktisch als Einreiseverbot wirkt. Etliche ausgewiesene Christen haben gegen diese Anordnung der Behörden Klage eingereicht.

Dazu IGFM-Sprecher Lessenthin: „Es ist notwendig, dass Vertreter der Bundesregierung diese Gerichtsverfahren, die ihr allesamt bekannt sind, beobachten und dafür Vertreter der Botschaften und Konsulate zu den Gerichtsverhandlungen entsenden. Das Auswärtige Amt sollte von der türkischen Regierung Erklärungen fordern, weshalb der Code N-82 oder G-82 angewendet wird.“

Die Serie der Ausweisungen begann im Juli 2017 und hat 2019 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Es gibt bei diesen ausgewiesenen Personen keine Gemeinsamkeiten, außer der, dass sie alle protestantische Christen sind, die aktiv im Gemeindeleben stehen oder/und evangelistisch tätig sind.

Auch Politiker können sich irren

Recep Tayyip Erdogan hat die Eröffnung der großen Moschee in Köln-Ehrenfeld als Bühne für sich benutzt. Politiker zeigten sich überrascht und enttäuscht. Allen voran der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), der sich vor rund 10 Jahren vehement für den Bau der Moschee ins Zeug gelegt hatte.

Musste er wirklich überrascht sein? Als der jüdische Schriftsteller Ralph Giordano vor 10 Jahren auf das Problempotential der Ditib aufmerksam machte und – wie wir im Nachhinein festellen können – in vielen Punkten schlicht und einfach richtig lag, fiel dem damaligen Integrationsminister Armin Laschet nichts anderes ein, als den Juden Giordano in die rechte Ecke zu stellen.

Laschet hätte lieber auf die Argumente Giordanos hören sollen. Die Kölnerin Hildegard Stausberg, die beim Einkaufen hin und wieder mit Giordano klönen konnte, erinnerte im Februar 2017 in DER WELT an den 2014 verstorbenen Schriftsteller:

Auch zeigt sich immer klarer, dass enge strukturelle Verflechtungen zwischen Ditib und den türkischen Generalkonsulaten einen direkten Zugriff Ankaras hier in Deutschland ermöglichen. Was für ein Horrorszenario: Moscheen in Deutschland als servile Unterstützungszentren für die Machtfantasien eines Recep Tayyip Erdogan. Musste das alles so kommen? Mussten wir so blauäugig sein?

Giordano hat das Problempotenzial mit schonungsloser Weitsicht prognostiziert. Schon Mitte 2006 sagte er in Richtung Ditib, es gebe in den islamischen Verbänden in Deutschland Funktionäre, „die den liberalen Rahmen und die Toleranz der freiheitlichen Verfassung nutzen, um totalitäre Ansichten von Staat und Religion in ihren Enklaven durchzusetzen“.

Hier mehr: www.welt.de.

Türkei: Islamstaat nicht nur Staat der Muslime

Nachfolgend veröffentliche ich einen anonymen Gastbeitrag, der Einblick in die aktuelle Islamdebatte innerhalb der Türkei gewährt. Er fasst Äußerungen des Islamgelehrten Hayrettin Karaman zusammen, die kürzlich in einer dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nahestehenden Tageszeitung publiziert wurden.

Der Islamstaat nicht nur Staat der Muslime

Hayrettin Karaman ist ein türkischer Islamgelehrter. Neben seiner Lehrtätigkeit und zahlreichen Veröffentlichungen schreibt er regelmäßig eine Kolumne für die türkische Tageszeitung „Yeni Şafak“ (wörtlich: Neue Morgendämmerung). Die „Yeni Şafak“ ist bekannt für ihre Nähe zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und der Regierungspartei AKP („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“). Beiträge von Hayrettin Karaman sind aber bei der Analyse des türkischen Zeitgeschehens vor allem deshalb bedeutsam, weil er als einer der islamischen Gelehrten gilt, auf dessen Meinung zu aktuellen und grundsätzlichen Themen Präsident Erdoğan hört.

In seiner Kolumne in der „Yeni Şafak“ vom 22. Oktober beschäftigt sich Karaman unter der Überschrift „Das Ziel des Islam ist es nicht, die Umma zu spalten, sondern sie zu integrieren“ mit der Frage, ob es aus islamischer Sicht mehrere islamische Staaten geben solle. Für ihn steht die Antwort fest: „Wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind, wird die Umma ein einziger Staat sein und alle Muslime werden Untertanen dieses Staates sein.“

Neben einer Begründung dieser Hauptthese und der Diskussion darüber, wie diese Frage heute anzugehen sei, weil die „Voraussetzungen“ eben noch nicht gegeben seien, geht Karaman in einem Satz auch auf das Schicksal der Nichtmuslime in einem solchen islamischen Staat ein: „Wie wir schon oft zum Ausdruck gebracht haben, ist der Islamstaat nicht nur ein Staat der Muslime. Im Falle dass die Nichtmuslime (ihn) akzeptieren, werden sie eine einfache Steuer bezahlen, ihren Status bewahren und dadurch zu Staatsbürgern und zu Inhabern von Menschenrechten werden.“

Bei der angesprochenen Steuer geht es um die aus frühislamischer Zeit bekannte und auch im Osmanischen Reich, dem Vorgänger der Republik Türkei, lange Zeit angewandte „Kopfsteuer“, die speziell von Nichtmuslimen erhoben wird. Den „Status bewahren“ spielt vermutlich auf den Schutz an, den solche islamischen Staaten Juden und Christen gewährt haben, solange diese sich mit ihrem Stand als „Bürger zweiter Klasse“ zufrieden gaben und gewisse Sonderregeln einhielten, zu denen auch der unbedingte Verzicht auf Mission unter der muslimischen Mehrheitsbevölkerung gehörte.

Abgesehen von der vielleicht für manchen westlichen Beobachter verblüffenden Tatsache, dass in der lange als laizistisches Modell geltenden Türkei heute der ideale Islamstaat diskutiert wird, wirft die Bemerkung des Islamprofessors ein bezeichnendes Licht auf ein unter führenden Islamisten verbreitetes Verständnis der Menschenrechte. Menschenrechte werden nicht gemäß dem westlichen Verständnis als jedem Menschen von Anfang an eigene und unveräußerliche Rechte gesehen. Vielmehr vergibt der (islamische) Staat diese Rechte quasi als Gunstgewährung für ein den islamischen Regeln entsprechendes Wohlverhalten.

Wenn also heute weltweit über Menschenrechte gesprochen wird, kann man ohne genaue Begriffsbestimmung leicht aneinander vorbeireden.

Türkei: Gefährdung der Religionsfreiheit und der Sicherheit

Der gescheiterte Putschversuch vom 15. Juli 2016 und die darauf folgenden Maßnahmen der Regierung haben den türkischen Staat und die türkische Gesellschaft erschüttert. Der Putschversuch richtete sich gegen normale Bürger, die gewählte Regierung und Schlüsselinstitutionen der Demokratie, und wurde von den verschiedensten politischen Parteien scharf verurteilt. Sowohl der gescheiterte Putsch als auch die in der Folge getroffenen Maßnahmen haben langfristige Auswirkungen auf die verantwortungsvolle Staatsführung, Religionsfreiheit, Sicherheit und auf die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft.

Als Drahtzieher des Putsches wird die Gülen Bewegung gesehen, an deren Spitze der im selbstgewählten Exil lebende sunnitische Kleriker Fethullah Gülen steht. Die Regierung beschuldigt diese Bewegung, die Justiz, das Bildungssystem und mehrere Ministerien unterwandert zu haben. Der Putschversuch wird als der jüngste Versuch der Gülen Bewegung, die Kontrolle im Staat zu übernehmen, dargestellt. Bisheriger Höhepunkt der Spannungen zwischen der Regierungspartei AKP und der früher mit ihr verbündeten Gülen Bewegung waren die von Gülen im Dezember 2014 erhobenen Korruptionsvorwürfe gegen führende AKP Politiker, darunter Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Familie.

Entwicklungen seit dem Putschversuch

Seit dem 15. Juli wurden notwendige rechtliche und institutionelle demokratische Reformen verschoben. Die vom Staat ergriffenen Maßnahmen hatten eine negative Auswirkung auf die Religionsfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit. Die Maßnahmen der Regierung, insbesondere im Rahmen des Ausnahmezustandes, haben den rechtlichen Rahmen zum Schutz der Menschenrechte in der Türkei beschädigt. Weitgehende Veränderungen im Justizsystem, die bereits vor dem Putschversuch eingesetzt haben, haben danach die religiös-nationalistische Position in gesellschaftlichen Fragen noch verstärkt.

Die von der türkischen Menschenrechtsstiftung und anderen Organisationen gesammelten Beweise für Misshandlungen in der Haft, insbesondere beim Vorgehen gegen die mutmaßlichen Putschisten in der ersten Phase nach den Ereignissen vom 15. Juli, bzw. generell im Südosten der Türkei, zeigen, dass eine unabhängige Überwachung der Umsetzung der internationalen Menschenrechtsverpflichtungen durch die staatlichen Institutionen dringend erforderlich ist. Die vollen Auswirkungen der aufgrund von Notstandsverordnungen des Staates ergriffenen Maßnahmen, wie etwa der Absetzung von Richtern und sonstigen Personals des Staatsapparats, Schließung von Universitäten, Vereinigungen und Fernsehstationen und des Verbots von Zeitungen auf den Gesamtzustand der Demokratie sind noch nicht absehbar.

Durch diese Maßnahmen wird die Einhaltung der bindenden internationalen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte durch den Staat weiter erschwert.

Diese Entwicklungen schaden der Sicherheit, sowohl des Staates, als auch der Gesellschaft  insgesamt, wie diese in den Verpflichtungen der Regierung im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) festgeschrieben sind. In der Charta von Paris für ein neues Europa heißt es: „Menschenrechte und Grundfreiheiten sind allen Menschen von Geburt an eigen; sie sind unveräußerlich und werden durch das Recht gewährleistet. Sie zu schützen und zu fördern ist vornehmste Pflicht jeder Regierung. Ihre Achtung ist wesentlicher Schutz gegen staatliche Übermacht. Ihre Einhaltung und uneingeschränkte Ausübung bilden die Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden“.

Die Justiz

Es gibt schon seit längerer Zeit Anlass für Zweifel an der Fähigkeit der Justiz, Schutz gegen Verletzungen der Religionsfreiheit oder anderer Grundfreiheiten zu bieten. Die Politisierung der Justiz reicht viele Jahre in die Vergangenheit vor der Gründung der AKP im Jahr 2001. Seit 15. Juli 2016 behauptet die Regierung, eine Organisation namens FETÖ (Gulen „Terrororganisation“) hätte die Justiz unterwandert und nimmt dies zum Anlass, gerichtliche Entscheidungen aus der Vergangenheit anzuzweifeln. Seither wurden über 2.700 Richter abgesetzt und insgesamt ca. 80.000 Beamte aus allen Bereichen der Verwaltung entfernt. Diese Tatsache und das Vorgehen der Regierung bei der Ernennung neuer Richter wird zweifellos eine Auswirkung auf zukünftige Entscheidungen im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit und anderen Grundfreiheiten haben. Gerechtigkeit und Unabhängigkeit der Justiz bilden wesentliche Voraussetzungen für den Schutz der Grundfreiheiten.  Doch die Existenz einer gerechten und unabhängigen Justiz wird schon lange und in vielen Fällen in Zweifel gezogen, von Verfahren über die Rückgabe von Eigentum bis hin zu Mordprozessen.

Das außergewöhnlich lange verzögerte Verfahren im Fall der brutalen Morde an drei Christen in Malatya am 18. April 2007, ein Urteil erging erst am 28. September 2016, illustriert diese Problematik in drastischer Weise. Die fünf Angeklagten wurden des vorsätzlichen Mordes für schuldig befunden und zu je drei Mal lebenslänglich verurteilt. Doch alle fünf Mörder wären bis zur Berufungsverhandlung vor einem höheren Gericht lediglich unter routinemäßiger Überwachung auf freiem Fuß geblieben, hätte nicht die Staatsanwaltschaft Berufung wegen Fluchtgefahr ins Ausland eingelegt. Daher wurden die fünf am Abend nach der Urteilsverkündigung verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Weiters ergingen Schuldsprüche gegen zwei Gendarmen wegen Straftaten im Zusammenhang mit den Morden von Malatya. Allerdings wurde keiner der anderen Beamten verurteilt, gegen die starke Verdachtsmomente vorliegen, dass sie an der Anstiftung zu den Morden beteiligt waren. Das Gericht stellte fest, dass die fünf Mörder ihre Verbrechen nicht ohne fremde Hilfe hätten begehen können, war jedoch nicht in der Lage, die beteiligte Organisation zu benennen und ordnete „weitere Ermittlungen“ an.

Religiöser Nationalismus

Die religiös-nationalistische Position der Regierung bezüglich gesellschaftlicher Fragen hat sich seit dem gescheiterten Putschversuch noch verstärkt. In der Nacht des Putschversuchs wies die direkt dem Büro des Premierministers unterstehende Religionsbehörde Diyanet alle 110.000 Imame des Landes an, die Menschen zur Verteidigung der Demokratie aufzurufen. Fast alle Teile der Gesellschaft sprachen sich gegen den Putschversuch aus, auch die nicht Religiösen, nicht-Muslime und Aleviten. AKP und Oppositionsparteien traten am 7. August in einer Kundgebung gemeinsam gegen den Putschversuch auf.

Doch trotz der fast einhelligen Ablehnung des Putschversuchs forciert die Regierung seither eine Kombination aus hanafitisch-sunnitischem Islam und türkischem Nationalismus. Das Eintreten für eine einheitliche türkische religiös-nationalistische Identität schafft schon lange Probleme für die Ausübung der Menschenrechte und lässt auch für die Zukunft wenig Gutes erwarten, wenn Präsident Erdogans Pläne zur Reform des Staatsapparats und des Bildungswesens, einschließlich des Religionsunterrichts, und der Diyanet verwirklicht werden, wodurch – in den Worten Erdogans – Missbräuche der Religion verhindert werden sollen. Auch von einer Registrierungspflicht für religiöse Gemeinschaften ist die Rede, insbesondere im Hinblick auf islamische Bruderschaften. Allerdings wurde in der Türkei bisher keiner Religionsgemeinschaft (einschließlich der islamischen) eine eigene Rechtspersönlichkeit zuerkannt. Dies ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht (Richtlinien der OSZE/Venediger Kommission für die rechtliche Stellung von Religionsgemeinschaften).

Die auf Zeiten lang vor dem Putschversuch zurückgehenden Probleme der Türkei im Zusammenhang mit Religionsfreiheit erfordern wesentliche Änderungen der Gesetze und der Praktiken des Staates. Dies umfasst auch die Umsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betreffend die Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen; das Recht, seine Kinder in Übereinstimmung mit der eigenen religiösen oder philosophischen Überzeugung zu erziehen; das Recht, Gottesdienststätten zu errichten; das Verbot der Diskriminierung auf der Grundlage der Religion oder Überzeugung; und das Recht, die eigene Religionszugehörigkeit nicht offenzulegen.

Gefährdung der Sicherheit

Die Sicherheit vor Gewalt ist schon lange ein Problem für viele Religionsgemeinschaften. Der sogenannte „Islamische Staat“ bedroht seit 2015 Aleviten, Christen und Juden. Angeblich vom IS stammende Drohungen wurden per SMS an verschiedene Personen verschickt. Die Vereinigung protestantischer Kirchen forderte die Behörden im September des Vorjahres (2015) auf, auf etwa 100 Morddrohungen zu reagieren, die ihre Pastoren und andere per SMS oder über die sozialen Medien erhalten hatten. Im Zusammenhang mit diesen Drohungen kam es bisher zu zwei Strafverfahren und die Staatsanwaltschaft, die Kontakt mit einigen protestantischen Kirchen aufgenommen hat, ermittelt offensichtlich in weiteren Fällen. Am Ostersonntag und jüdischem Passa genossen Kirchen und Synagogen in den großen Städten sichtbaren Polizeischutz. Doch außerhalb besonderer Zeiten sind die Gemeinschaften auf sich selbst gestellt. Viele von ihnen können sich keine privaten Sicherheitsdienste leisten.

Bei einem verhafteten IS Verdächtigen fand man Fotos eines alevitischen Bethauses und er gab zu, dass er Teil einer Gruppe war, die einen Bombenanschlag auf diese Gebetsstätte geplant hatte.

Im Südosten der Türkei sind nach zweijährigem Waffenstillstand die Kämpfe mit kurdischen Gruppen wieder aufgeflammt. In Diyarbakir und Mardin wurden Moscheen und Kirchen beschädigt. Die Gläubigen konnten sich zeitweise wegen der Ausgangssperre bis August 2016 nicht versammeln. Wegen der Enteignung von etwa 80 % des Stadtbezirks Sur von Diyarbakir, in dem sich auch Kirchen befinden, im Zuge des Ausnahmezustandes, besteht Rechtsunsicherheit über die Möglichkeit, diese in Zukunft zu nützen. Bisher wurden sie nicht geschlossen. Renovierungsarbeiten haben begonnen.

Die Regierung entwickelt derzeit ihre Politik und Strategien für die Ära nach dem Putschversuch, die sich auch auf die Respektierung der Grundfreiheiten für alle auswirken werden. Daher ist die Einbindung der verschiedensten Gruppen der höchst vielfältigen Gesellschaft der Türkei in diesen Prozess von höchster Bedeutung. Wenn dies geschieht, ist eine Verbesserung der Demokratie und der Respektierung der Menschenrechte in der Türkei möglich.

Quelle: Forum 18, Oslo; Deutsche Fassung: Arbeitskreis Religionsfreiheit der Österreichischen Evangelischen Allianz. Mehr Infos hier: www.ead.de.

Kritik am Moscheenverband Ditib wächst

Seit der Putschversuch in der Türkei scheiterte, distanzieren sich immer mehr Politiker vom Islamverband Ditib (Ditib steht für  „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“). Zuletzt hat sich sogar Hannelore Kraft dafür ausgesprochen, den Verband genau zu beobachten. Reinhard Bingener kommentiert diese Entwicklung für die FAZ u.a. mit den Worten:

Wer wollte, der konnte schon lange wissen, dass die Ditib der verlängerte Arm der türkischen Religionsbehörde Diyanet ist, dass ihre Imame in der Türkei ausgebildet und diese von Ankara dafür bezahlt werden, in Deutschland jenen sunnitischen Islam zu predigen, der der amtierenden Regierung gerade passt. Einst war dies ein passiver, zum kemalistischen Laizismus eines Militärstaats passender Islam; heute ist es das islamistisch grundierte Weltbild des Autokraten Erdogan. Im Kern handelt es sich beide Male um eine Theologie, die politischen Zwecken dient. Zugespitzt formuliert: Ankara nutzt die Ditib für eine Ethnopolitik, deren Ziel darin besteht, die Assimilation der in Deutschland lebenden Türken zu verhindern.

Nun konnte das in der Tat jeder wissen, der sich für die Materie interessiert hat. Aber durfte es auch jeder sagen, ohne dafür öffentlichen Widerspruch zu ernten? Ich erinnere mich noch gut an die politischen und medialen Reaktionen auf die Ditib-Kritik von Ralph Giordano. Wenn der jüdischer Schriftsteller darauf verwies, dass Ditib die Integration behindert, stand er ziemlich einsam da. So schrieb beispielsweise damals DIE ZEIT:

Denn Ditib ist nicht irgendein kleiner Moscheeverein, sondern der bundesweite Dachverband von 870 Moscheen. Ditib vertritt einen moderaten Islam und ist eng mit der türkischen Religionsbehörde verbunden. In der Schäubleschen Islamkonferenz gilt Ditib als Pfeiler der Vernunft.

Bekir Alboga, Giordanos Sparringspartner bei dem Streitgespräch, ist Gesicht und Stimme der Organisation. Schon in der Mannheimer Moschee hat Alboga sich einen guten Namen gemacht, indem er als Imam das Gotteshaus für den interreligiösen Dialog öffnete. Der 44-jährige Gastarbeitersohn, der 1980 nach Deutschland kam, engagiert sich seit Jahren gegen häusliche Gewalt, Zwangsheirat und Ehrenmorde. Er lehnt die Burka als unislamisch ab. Alboga vertritt einen auf fromme Innerlichkeit setzenden Sufismus und ist eine treibende Kraft bei der Öffnung der Ditib für die deutsche Öffentlichkeit. Seit Jahren spricht er sich klar und hart gegen Terror im Namen Allahs aus. Bekir Alboga, ein Deutschtürke, der in Heidelberg Islamwissenschaft studierte, hat es nicht verdient, von Ralph Giordano heruntergemacht zu werden, er komme wohl aus »einem Kulturkreis, dem die kritische Methode völlig unbekannt ist«. Es gibt nicht so viele Verbündete bei der Reformierung und Beheimatung des Islams in Deutschland, dass man einen Modernisierer wie Bekir Alboga derart vor den Kopf stoßen sollte.

Türkei: Mord an Christen ist für Staatsanwälte kein Terror

Am 18. April 2007 hatten fünf junge Männer in der osttürkischen Provinzhauptstadt Malatya drei Christen grausam ermordet und wurden auf frischer Tat von der Polizei festgenommen. Necati Aydın, Uğur Yüksel und der Deutsche Tilmann Geske hatten sich in den Räumen des evangelischen Zirve-Verlages mit ein paar jungen Männern, die Interesse am christlichen Glauben bekundet hatten, über einige Wochen hinweg zum Bibelstudium getroffen. Dies war offenbar nur ein Vorwand, um sich das Vertrauen der späteren Opfer zu erschleichen.

Obwohl die Taten politisch motiviert waren, ließ man den Terrorverdacht jetzt fallen. Deniz Yücel hat für DIE WELT berichtet:

Wer steht in der Türkei unter Terrorverdacht? Zum Beispiel die Anglistin Meral Camci, der Historiker Muzaffer Kaya, die Psychologin Esra Mungan und der Mathematiker Kivanc Ersoy. Sie gehören zu den insgesamt 2212 Wissenschaftlern, die Anfang des Jahres einen Aufruf zum Ende der Gewalt in den kurdischen Gebieten unterzeichnet und damit den Zorn von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf sich gezogen hatten. Mehrere Dutzend weitere Unterzeichner verloren ihren Job, gegen einige Hundert dieser Wissenschaftler wurden Disziplinar- oder Strafverfahren eröffnet. Und vier sitzen in Haft. Der Vorwurf: Werbung für eine terroristische Vereinigung.

Keine Terroristen sind in den Augen der Staatsanwaltschaft hingegen die fünf Männer, die im April 2007 in der südostanatolischen Stadt Malatya drei Christen ermordet haben. Wie zunächst die Tageszeitung „Cumhuriyet“ berichtete, hat die Staatsanwaltschaft Malatya in ihrem Schlussplädoyer den Anklagepunkt der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung fallen gelassen.

Die Morde an dem 36-jährigen türkischen Pastor Necati Aydin, dem 32-jährigen türkischen Christen Ugur Yüksel und dem 45-jährigen deutschen Missionar Tilmann Geske hatten für internationales Aufsehen gesorgt. Die Täter waren in die Räume des evangelikalen Zirve-Verlags eingedrungen, hatten ihre Opfer geknebelt, sie an Händen und Füßen gefesselt und schließlich ihre Kehle durchgeschnitten. „Ich gehe fest davon aus, dass die türkischen Behörden alles unternehmen werden, um dieses Verbrechen aufzuklären und die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“, sagte damals Frank-Walter Steinmeier, wie heute Bundesaußenminister.

Und die Voraussetzungen für eine Ahndung des Verbrechens schienen wirklich günstig, immerhin waren die Mörder noch am Tatort festgenommen worden. Doch es folgte eine jahrelange juristische Farce. Im Jahr 2012 wurde die Anklage mit den Prozessen gegen die vermeintliche Putschistenorganisation Ergenekon zusammengeführt, die mit Billigung der AKP-Regierung von Staatsanwälten aus dem Umfeld der Gülen-Bewegung gegen hochrangige Militärs, aber auch gegen Journalisten, Wissenschaftler und andere Personen des öffentlichen Lebens betrieben wurden. So wuchs die Zahl der Angeklagten im Zirve-Prozess auf 21 Personen, darunter Kommandanten der Gendarmerie in Malatya. Nach einer Gesetzesnovelle, mit der die Dauer der Untersuchungshaft auf fünf Jahre beschränkt wurde, wurden die fünf Attentäter im März 2014 aus dem Gefängnis entlassen und unter Hausarrest gestellt.

Etliche Christen in der Türkei werden neuerdings von der Terrororganisation IS bedroht. Die Bonner Querschnitte weisen darauf hin, dass seit einiger Zeit der christliche Radiosender „radio shema 98.0“ in Ankara massiv bedroht wird, so dass die Polizei anhaltend mit zwei Autos vor der Tür steht. Zeitgleich geriet die protestantische Kurtuluş-Gemeinde, zu deren Arbeitszweigen auch Radio Shema gehört, derart unter Druck, dass vor Gottesdiensten bis zu 50 Polizisten jeden einzelnen Gottesdienstbesucher genau kontrollierten, um etwaige Anschläge zu verhindern. Soner Tufan, Generalmanager von Radio Shema, schrieb: „Bislang haben wir noch nie gesehen, dass uns die Polizei so ernsthaft schützt.“ Auch habe er erfahren, dass der Premierminister der Türkei angeordnet habe, „alles zu tun, um uns zu schützen“.

Auch die anderen evangelischen Gemeinden in der Türkei sind informiert worden, dass der IS mit Anschlägen gedroht habe, weshalb die Polizei mit verstärkten Patrouillen versuchen werde, die Gemeinden zu schützen. Auch das Büro des Bibelkorrespondenzkurses in Istanbul hat in den letzten Monaten verstärk Drohungen vor allem per Telefon erhalten, wie aus Mitarbeiterkreisen bekannt wurde. Auch hier wird vermutet, dass dies aus dem Umfeld des IS kommen könnte.

Aufgrund der aktuellen Situation riefen türkische Pastoren und Leiter die Christen in aller Welt dazu auf, verstärkt für ihre Glaubensgeschwister in der Türkei zu beten.

Wohin entwickelt sich die Türkei

Diese Woche finden in Berlin die ersten Deutsch-Türkischen Regierungskonsultationen statt. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird den türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu mit militärischen Ehren im Bundeskanzleramt empfangen. Die Türkei wird schließlich gebraucht, sowohl bei der Terrorbekämpfung als auch bei der Eindämmung des Flüchtlingsdrangs. Mit 3 Milliarden Euro will die EU der Türkei dafür unter die Arme greifen.

Gleichzeitig spitzt sich die Situation in der Türkei unter der Regierung von Erdoğan immer mehr zu. Längst geht es um mehr als um Beschränkungen der Pressefreiheit. Türkische Intellektuelle warnen vor den Entwicklungen und sehen das Land in den Faschismus abtriften. Nachfolgend ein Beitrag, der direkt aus der Türkei kommt. Der Autor möchte namentlich nicht genannt werden.

Wohin entwickelt sich die Türkei?

Flag of Turkey svgIn der Türkei mehren sich die Stimmen, die vor einem schnellen Abgleiten des Landes in den Faschismus warnen. So spricht Orhan Kemal Cengiz in seiner Kolumne in der englischsprachigen türkischen Zeitung „Today’s Zaman“ vom 15. Januar von „Unverkennbaren Anzeichen faschistischer Tendenzen“. Hier der Artikel (allerdings auf Englisch): www.todayszaman.com.

Orhan Kemal ist Anwalt und Menschenrechtsaktivist. In der Vergangenheit hat er oft die kleinen evangelisch-türkischen Gemeinden des Landes juristisch vertreten. Im noch andauernden Prozess gegen die Mörder von drei Christen im osttürkischen Malatya im April 2007 hat er sich mit mehreren Anwaltskollegen unentgeltlich für die Christen um Aufdeckung der Hintergründe dieser Morde bemüht.

Was den eher besonnenen Cengiz bewegt, nun von eindeutig „faschistischen Tendenzen“ der derzeitigen türkischen Machthaber zu warnen, ist eine beispiellose Hetzkampagne gegen über 1000 türkische Akademiker. Vor einigen Tagen hatten sie in einem öffentlichen Aufruf das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte im Osten des Landes scharf kritisiert und zu Friendensverhandlungen mit den Kurden aufgerufen. Der türkische Präsident hat seitdem wiederholt diese Akademiker öffentlich beschimpft und bedroht und in Überschreitung seiner verfassungsmäßigen Aufgaben sowohl die Leitungen der Universitäten als auch die Justiz zum Einschreiten aufgefordert. So widmete er zum Beispiel in seiner ersten Rede nach dem Selbstmordanschlag von Istanbul rund 40 Sekunden der Mordtat, aber rund 10 Minuten seinem Entsetzen über die Wissenschaftler.

Unmittelbar danach eröffneten Staatsanwälte Strafverfahren gegen zahlreiche der Professoren und Dozenten. Einige wurden verhaftet und manche dabei direkt aus der Universität abgeführt. Sondereinheiten der Terrorbekämpfung führten Hausdurchsuchungen bei einigen der Unterzeichner des Aufrufes durch. Universitäten leiteten Verfahren zur Amtsenthebung von Professoren ein. Studentische Gruppen hefteten Drohbotschaften an die Bürotüren von Professoren. Der in der Vergangenheit als Mafiaführer rechtskräftig verurteilte, aber nun für seine Nähe zum türkischen Präsidenten bekannte Sedat Peker, bedrohte in einer öffentlichen Erklärung die Akademiker. Seine Erklärung gipfelte in der Ankündigung, man werde „sich mit dem Blut der Unterzeichner duschen“.

Auch einige der wenigen verbliebenen oppositionellen Zeitungen, die „Cumhuriyet“ („Republik“), titelt am 16. Januar „Tritte des Faschismus“. Der für sein demokratisches Engagement bekannte Chefredakteuer der „Cumhuriyet“, Can Dündar, sitzt seit fast zwei Monaten zusammen mit seinem Kollegen Erdem Gül in Untersuchungshaft, weil er über zweifelhafte Waffenlieferung des türkischen Geheimdienstes nach Syrien berichtet hat. Die „Cumhuriyet“ befürchtet, dass nach Entlassungen und Verhaftungen von unliebsamen Journalisten auch die jetztige Kampagne gegen Akademiker nicht der letzte Schritt sein wird. Direkt neben der Warnung vor dem Faschismus druckt sie das bekannte Zitat des deutschen Pastors Martin Niemöller ab, das er im Rückblick auf die Nazizeit geäußert hat:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Islamophob, christophob?

Irrationale Ängste gibt es gegenüber allen Religionen. Aber nur die Muslime haben es geschafft, einen Begriff dafür zu besetzen. Dabei leben Christen in vielen Ländern weitaus gefährlicher. DIE WELT schreibt:

Die Publikation des Amts für religiöse Angelegenheiten der türkischen Erdogan-Regierung ist an Deutlichkeit nicht zu übertreffen. »Die Missionare wollen unseren jungen Leuten den Glauben stehlen«, heißt es dort. Dass dies mehr ist als verbale Kraftmeierei, um die radikalen Anhänger der Regierungspartei AKP zu befriedigen, haben Übergriffe und sogar Morde an Christen in letzter Zeit eindrücklich dokumentiert. »Christen werden als potenzielle Kriminelle, Separatisten und Landesverräter dargestellt«, sagt der Präsident des Bundes der protestantischen Kirchen in der Türkei, Bedri Peker.

Mehr: www.welt.de.

VD: BH

Susanne Geske auf CNN Turk ausführlich interviewt

Nach der erneuten Verschiebung des Prozesses um die Ermordung von Necati Aydin, Ugur Yüksel und Tilmann Geske am 18. April 2007 in Malatya geht die Verhandlung am kommenden Freitag weiter – und unter normalen Umständen auch zu Ende. Wie der Informtionsdienst Bonner Querschnitte heute meldet, war der neue Termin nötig geworden, da zwei der Verteidiger der fünf Angeklagten nicht zur Verhandlung am 15. April erschienen waren. Sie begründeten ihr Fernbleiben damit, dass sie noch mehr Zeit bräuchten, um ihre Schlussplädoyers fertigstellen zu können.

Derweil geht der mutmaßliche Rädelsführer weiterhin davon aus, vom »Staat« weiterhin beschützt zu werden und bald nach Urteilsverkündigung wieder frei zu kommen. Er wird in seiner Meinung nicht zuletzt dadurch bestärkt, dass ihm ein hoher Beamter seine Tochter anverlobt hat, wie türkische Medien meldeten. Sollte dies zutreffen, wäre dieses Zeichen der Solidarität tatsächlich ein Hinweis darauf, dass zumindest dieser Beamte davon ausgeht, dass der dann Verurteilte nicht allzu lange im Gefängnis bliebe und die geplante Hochzeit in absehbarer Zeit stattfinden könnte.

Rückblick Prozess 15. April 2010

Erdal Dogan trug das gemeinsame Plädoyer der Nebenklage, ein Team von neun Rechtsanwälten, vor. In der 28-seitigen Schrift, die BQ im Wortlaut vorliegt, ging er unter anderem noch einmal ausführlich auf die – aus Sicht der Nebenklage sicheren – Verbindungen der Angeklagten zu der Geheimorganisation »Ergenekon« ein. Er bezog sich dabei auf ein internes Strategiepapier, den »Kafes-Operations-Plan« ( »Käfig-Plan«), der bei einer Razzia gegen Ergenekon in Istanbul gefunden wurde. In diesem Papier, das auf den März 2009 datiert ist, werden gleich zu Beginn die Morde an dem katholischen Pater Santore (Trabzon, Februar 2006), dem armenischen Publizisten Hrant Dink (Istanbul, Januar 2007) und an den drei Christen im Zirve-Büro in Malatya (April 2007) als »Operationen« bezeichnet. Dieser Begriff sei, so Kenner der Lage in der Türkei, ein ausgesprochen militärischer Begriff, was damit einer Selbstbezichtigung gleichkomme.

Weiter unten entfaltet das Papier den Plan einer neuen »Operation« in vier Phasen (hier zusammenfassend wiedergegeben):

1. Phase: Vorbereitung: Adressen und Namen von Nichtmuslimen feststellen, deren Zeitungen, Schulen, Schüler, »Orte der Anbetung« [gemeint sind Kirchen und Synagogen], Stiftungsräume und Friedhöfe feststellen.

2. Phase: Einschüchterung: Abonnementen von AGOS [armenische Wochenzeitung; Hrant Dink war bis zu seinem Mord deren Chefredakteur] veröffentlichen, Wände der Häuser der Armenier auf Adalar beschmieren [Adalar ist die türkische Bezeichnung für die Prinzeninseln, die zu Istanbul gehören und wo verhältnismäßig viele Christen leben].

3. Phase: Öffentlichkeit schaffen: Abonnenten-Liste in der Presse publizieren, Auftragskommentare sollen über diese Dinge erscheinen, in Diskussionssendungen sollen es darüber Berichterstattung geben verbunden mit dem Vorwurf, dass sich die AKP [gegenwärtige Regierungspartei] nicht kümmere, an die Übergriffe von 1955 und 1942 [massive Übergriffe gegen Juden und Christen] soll erneut erinnert werden, Aktivitäten gegen die AKP im Internet sollen stark zunehmen.

4. Phase: auf den Prinzeninseln bomben: die Leute umbringen, die die Rechte der Minderheiten vertreten; Bomben zünden in der Umgebung der Agos Gazeti [armenische Zeitung]; Polizei beschäftigen mit Paketen, die wie Bomben aussehen; Anschläge auf die Landestege der Fähren auf den Prinzeninseln; Anschläge auf nichtmuslimische Friedhöfe; bekannte nichtmuslimische Künstler und Industrielle entführen; Brandanschläge auf Häuser, Fahrzeuge und Arbeitsstätten von Nichtmuslimen; in Istanbul und Izmir ähnliche Anschläge; an den Anschlagstellen mit einer Art Bekennerschreiben kommunizieren, dass »reaktionäre Gruppen« [Chiffre für AKP-Umfeld] hinter den Anschlägen stünden.

Dann zählte Dogan noch einmal minutiös die 35 ganz unterschiedlichen Angriffe auf Christen aus den Jahren 2007 und 2008 auf, um deutlich zu machen, dass die Morde von Malatya nicht völlig isoliert dastünden, sondern eingebettet seien in eine Vielzahl von Übergriffen. Um doch noch etwas über die mutmaßlichen Hintermänner herauszufinden, beantragte Dogan, einen neuen Zeugen zu hören. Da sowieso ein neuer Termin angesetzt werden musste, wurde dem Antrag Dogans vom Gericht stattgegeben.

CNN-Interview mit Susanne Geske

Bild1.JPG.jpegUm den letzten Verhandlungstag herum hat Susanne Geske, die Witwe des ermordeten Tilmann Geske, erneut viele Interviewanfragen von deutschen und türkischen Medien erhalten, so z.B. von CNN-Turk für ein Live-Interview am Freitag Abend (16. April). Dieses dauerte am Ende fast doppelt so lange als geplant. Hier einige Auszüge:

Susanne Geske zeigte sich zunächst »ein Stück enttäuscht«, dass der Prozess, »der nun schon so lange dauert«, nicht wie geplant zu Ende gegangen sei, sondern erneut verschoben wurde. Ihren Alltag betreffe dies aber nicht. »Wir bleiben hier, die Kinder gehen in die Schule. Alles wird so weitergehen, wie bisher. Wir sind sehr gern in Malatya, das war schon vorher so und ist auch heute. Die Menschen kennen uns jetzt, sind sehr freundlich. Die Nachbarn sehr hilfsbereit. Darüber freue ich mich natürlich sehr.«

Auf die Frage nach ihrem Empfinden gegen die Mörder ihres Mannes sagte sie: »Am Tag nach dem Ereignis konnte ich den Mördern vergeben. Das hat sich auch bis heute nicht geändert. Ich empfinde ihnen gegenüber keinen Hass, das kann ich aus tiefstem Herzen bestätigen, Rache oder ähnliches empfinde ich nicht.« Im Zentrum des Prozesses stehe für sie nicht die Verurteilung der fünf Angeklagten, »sondern die Frage nach den Hintermännern … Wer steht dahinter, wer waren die Auftraggeber für diesen grausamen Mord.«

CNN fragte, wie es zu der Idee gekommen sei, die fünf Männer zu besuchen: »Ja, die fünf Mörder im Gefängnis aufzusuchen und ihnen persönlich zu sagen, dass wir ihnen vergeben hätten, war der Gedanke meiner jüngeren Tochter. Sie hatte den schon gleich zu Anfang und sprach vor ein paar Wochen wieder davon. Aber ich denke, dass wir erst einmal das Ende des Prozesses abwarten, etwas Zeit verstreichen lassen sollten.« Hintergrund dieser Idee der 11-jährigen Tochter war, den Mördern des Papas eine Bibel zu schenken, damit sie auch Jesus kennenlernen, dadurch am Ende im Himmel sein und so den Papa um Vergebung bitten könnten.

Ob sie als Familie psychologische Hilfe in Anspruch genommen hätten, war die nächste Frage. »In dieser Hinsicht haben wir alle keinerlei psychologische Hilfe in Anspruch genommen. Unser Psychologe ist Jesus Christus, mit dem wir ständig im Gebet verbunden sind. Wir lesen in der Bibel und empfangen Trost. Was die Vergebung anbetrifft: So wie Jesus Christus mir meine Schuld vergeben hat, so vergebe ich auch Menschen, die mir gegenüber schuldig geworden sind. Das ist mein Glaube. Normalerweise ist es doch so, dass Menschen in einer solchen Situation Hass und Rache empfinden Aber so ist es nicht, wenn jemand aus dem Glauben heraus lebt und auf Jesus Christus schaut. Die Kraft, vergeben zu können, kommt allein von Gott.«

Gedenkgottesdienste an den Gräbern zum 3. Todestag

Am Sonntag, den 18. April 2010 jährten sich zum dritten Mal die Morde. Aus diesem Anlass gab es an den Gräbern aller drei Märtyrer Gedenkveranstaltungen.

Zunächst trafen sich die Teilnehmer am Grab von Ugur Yüksel, der in einem kleinen Dorf in der Nähe von Elazig (ca. 100 km östlich von Malatya) beerdigt ist. Dafür waren insgesamt etwa 150 Christen zusammengekommen – von Van ganz im Osten der Türkei bis hin nach Istanbul ganz im Westen. Zudem waren etwa ein Dutzend Vertreter der Presse gekommen.

Danach fuhren alle nach Malatya, um Tilmann Geske zu gedenken. Er wurde damals unter schwierigen Umständen auf einem alten armenischen Friedhof beerdigt. Die Stadtverwaltung wollte das damals unbedingt verhindern, nicht zuletzt mit dem Hinweis, dass dort seit Jahren niemand mehr beerdigt worden sei (was nachweislich unzutreffend war). Nur durch die starke Intervention der deutschen Behörden (Botschaft in Ankara, Auswärtiges Amt in Berlin) war damals die Beerdigung in Malatya möglich geworden.

Im Zuge dieser Gedenkveranstaltungen der letzten Jahre kam Susanne Geseke auch in Kontakt mit der (nichtchristlichen) Familie, die auf dem Friedhof wohnt und für die Ordnung von den Behörden eingesetzt ist. Irgendwann kam die Tochter der Familie und fragte nach einem »Evangelium«. Bereits wenige Tage, nachdem sie es bekommen hatte, erklärte sie, dass sie jetzt mit Jesus leben wolle.

Am Sonntagnachmittag kamen dann noch einmal alle zu einem Gebetstreffen zusammen. Im Mittelpunkt stand das Gebet für die Christen in der Türkei, für ihren Dienst in diesem Land und für die Menschen der Türkei, so wie es im Vorfeld von den Verantwortlichen der Allianz der Protestantischen Gemeinden in der Türkei für diesen Tag vorgeschlagen worden war.

Staatsanwaltschaft fordert im Malatya-Mord-Prozess drei Mal lebenslänglich

Am 24. Prozesstag forderte die Staatsanwaltschaft im Prozess um die Ermordung von Necati Aydin, Ugur Yüksel und Tilmann Geske drei Mal lebenslange Haft ohne Bewährung für jeden der fünf Angeklagten. Dies meldet der Informationsdienst Bonner Querschnitte am 9. April 2010 (siehe ausserdem hier).

Die drei Opfer, zwei türkische und ein deutscher Christ, waren am 18. April 2007 brutal von fünf jungen Männern in Malatya, einer südosttürkischen Stadt, ermordet worden. Wie der christliche Informationsdienst Compass Direct weiter mitteilt, würden sowohl die Richter als auch die Staatsanwälte sehr darauf drängen, den jetzt fast drei Jahre währenden Prozess zu Ende zu bringen.

Der Staatsanwalt, der das Ergenekon-Verfahren in Istanbul führt, habe einen Polizei-Bericht an das Gericht in Malatya geschickt, in dem die fünf Angeklagten mit einer größeren Operation des »tiefen Staates« in Verbindung gebracht werden. Seit Oktober 2008 wird gegen Dutzende Mitglieder von Ergenekon der Prozess geführt. Die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft stuft diese Organisation als terroristische Vereinigung ein. Ihr wird vorgeworfen, für viele politische Attentate verantwortlich zu sein, vor allem aber einen Putsch gegen die Regierung von Ministerpräsident Erdogan geplant zu haben. Unter den Angeklagten sind pensionierte hohe Militärs, Professoren, Journalisten, Rechtsanwälte und Politiker.

Der Richter in Malatya lehnte allerdings eine weitere Untersuchung möglicher Verbindungen zwischen den fünf Angeklagten und Ergenekon ab, obwohl es nach Ansicht der Vertreter der Nebenklage viele Indizien dafür gäbe. So seien die Morde von Malatya Teil einer Serie von Anschlägen gegen die christliche Minderheit, die alle auf das Konto dieser Vereinigung gingen. Dies gelte nicht nur für die Morde an dem katholischen Priester Andreas Santoro (Februar 2006, Trabzon) und dem armenischen Publizisten Hrant Dink (Januar 2007, Istanbul), sondern auch für die Entführung eines syrisch-orthodoxen Priesters, eine schwere Messerattacke gegen einen Priester in Izmir, schwere Bedrohungen gegen einen protestantischen Pastor in Samsun – alles Vorfälle der letzten Jahre. Sollte der Istanbuler Staatsanwalt bis zum Ende des Malatya-Prozesses keinen Plan vorgelegt haben, um diesen Hinweisen im Istanbuler Ergenekon-Verfahren nachzugehen, würden sich die Nebenkläger vorbehalten, den Prozess vor das oberste Berufungsgericht zu bringen, so Erdal Dogan, ein Vertreter der Nebenklage.

Susanne Geske, eine der Witwen, findet es »schade, dass nur die fünf verurteilt werden und die Hintermänner auf freiem Fuß bleiben.« Sie befürchtet, dass sich letztere einfach neue Leute suchen könnten, um Ähnliches zu verüben. Die Nebenklage und die Verteidiger werden am 15. April, dem nächsten Prozesstag, ihre Plädoyers halten, sodass Einschätzungen türkischer Quellen zufolge möglicherweise schon am 16. April das Urteil verkündet werden könnte.

Die kleine protestantische Gemeinde in Malatya hat in den letzten drei Jahren eine schwere Zeit gehabt. Einige Mitarbeiter haben die Stadt verlassen, manche einheimischen Gläubige trauten sich nicht mehr, in die Gemeinde zu kommen. Familie Geske ist wie damals angekündigt in der Stadt geblieben. Im Laufe der Zeit sind aber auch neue Mitarbeiter dazugekommen. Und im letzten Jahr sind auch einige Einheimische zum Glauben gekommen und gehen jetzt gemeinsam mit der Gemeinde den Weg mit Jesus. An Karfreitag gab es gerade einen »Jesu-Kreuzigung-Gedächtnis-Gottesdienst«. Und am Ostersonntag haben die Christen wieder vor Ort zum Gottesdienst eingeladen, und Gäste aus anderen Gemeinden kamen hinzu, um die Gemeinde zu ermutigen.

Aus Anlass des dritten Jahrestages der Morde von Malatya am 18. April hat die Allianz der Protestantischen Gemeinden in der Türkei zu einem »Weltweiten Gebetstag für die Türkei« aufgerufen. Da der 18. April dieses Jahr auf einen Sonntag fällt, werden Gemeinden überall auf der Welt ermutigt, einige Minuten der Gebetszeit in ihren Gottesdiensten dazu zu verwenden, gemeinsam mit Millionen von Christen die Türkei und ihre Kirche vor den Thron Gottes zu bringen, so Pastor Zekai Tanyar (Izmir), derzeit Vorsitzender der Vereinigung Protestantischer Kirchen in einem eMail.

Als Hilfe dafür gibt es ein kurzes, 4-minütiges Video sowie einen Gebetsbrief (beides in verschiedenen Sprachen, darunter auch in deutscher Übersetzung) unter: www.prayforturkey.com.

Türkischer Protest gegen Schweizer Minarettverbot

Die türkische Regierung avanciert zum Wortführer gegen das Minarettverbot in der Schweiz. Religiöse Minderheiten hätten in seinem Land mehr Rechte als in Europa, behauptet Premier Erdogan – die tatsächliche Lage ist anders. Christen kämpfen im Alltag mit vielen Problemen.

Doch gerade die Lage der Christen in der Türkei muss differenziert betrachtet werden: 100.000 bis 120.000 Christen leben nach inoffiziellen Schätzungen heute noch in der Türkei, das ist weniger als ein halbes Prozent der Bevölkerung. Die übergroße Mehrheit von ihnen wohnt in Istanbul. Die Stadt ist Sitz des ökumenischen Patriarchen, dem Oberhaupt der christlichen Weltorthodoxie – obwohl es kaum noch 2000 Griechen in Istanbul gibt. Auf etwa 60.000 wird dagegen die Zahl der Armenier geschätzt, auch sie haben ein Patriarchat in der Stadt. Daneben existieren vor allem assyrische beziehungsweise syrisch-orthodoxe sowie kleinere katholische und protestantische Gemeinden.

Während die Griechen, Armenier und Juden nach dem »Vertrag von Lausanne« von 1923 zu den drei staatlich anerkannten Minderheiten gehören und ihre eigenen Schulen und Kirchen unterhalten dürfen, haben es die assyrischen, katholischen und protestantischen Türken bedeutend schwerer. Im Südosten des Landes kämpfen die syrisch-orthodoxen Christen um die Rechtssicherheit ihres wichtigsten Klosters Mor Gabriel: Keine 3000 von ihnen leben heute noch in der Grenzregion zu Syrien, bis zu einer halben Million sollen es noch zu Anfang des letzten Jahrhunderts gewesen sein.

Hier der Artikel von Daniel Steinvorth aus Istanbul: www.spiegel.de. Ich empfehle außerdem den Beitrag »Wo sind die türkischen Christen?«, der zeigt, dass vor knapp 100 Jahren der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung in der Türkei noch bei 30 Prozent lag.

Der überschätzte Einfluss

180px-George-W-Bush.jpgOliver Maksan geht in der Tagespost den Fragen nach, was George W. Bush glaubt und welchen Einfluss dieser Glaube auf seine Politik hatte. Das Ergebnis: Der Einfluss der Religion auf Bushs öffentliches Wirken wird weitgehend überschätzt. Seine Entscheidung zum Irakkrieg beispielsweise habe nichts mit einem Kreuzzug zu tun. Eher habe der Glaube für Bush während seiner Amtszeit eine persönlich stabilisierende Rolle gespielt. Er half dem scheidenden Präsidenten, »angesichts epochaler Herausforderungen schlicht die Nerven zu behalten«.

Aber woran glaubt George Bush?

Als ein Reporter aus Houston ihn einmal fragte, warum er die Episkopal-Kirche seiner Kindheit gegen die Methodisten-Kirche ausgetauscht habe, antwortete er: »Ich bin mir sicher, dass es da große lehrmäßige Differenzen gibt. Aber ich bin nicht gebildet genug, um ihnen die erklären zu können.« Sein Biograf Jacob Weisberg hat da eine einfache Antwort: »Er versteckt seine religiösen Überzeugungen nicht. Er hat einfach nicht viele.« Weisberg glaubt, dass Bushs Glaube im Grunde vor allem einen Inhalt kennt: Therapie. »Self-help-Methodism« nennt er das, »Selbsthilfe-Methodismus«. Gott ist die starke Macht, die ihm half, seine Probleme mit dem Alkohol und mit sich selbst zu überwinden. Die ihm half, seine Ehe mit Laura zu retten und den überlegenen Vater zu ertragen. Bibel und Gebet als Therapie.

Eiferertum ist ihm fremd. So konnte er zum türkischen Premier Erdogan sagen: »Sie glauben an den Allmächtigen, und ich glaube an den Allmächtigen. Deswegen werden wir ausgezeichnete Partner sein.«

Übrigens untersuchte die Anglistin und Keltologin Lisanna Görtz für ihre Masterarbeit an der Universität Bonn 50 Radiobotschaften Bushs zum Irakkrieg und kam dabei zu dem Ergebnis, dass Bush weniger oft über Gott spricht als die meisten seiner Amtsvorgänger, und dass religiöse Anklänge bei ihm nur in Ansprachen zu christlichen Feiertagen, wie z.B. Ostern und Weihnachten, auftauchen.

Hier der Artikel von Oliver Maskan: www.die-tagespost.de.

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