After Evangelicalism

In einer Q-Session-Diskussion mit dem Moderator und Gründer von Q Ideas, Gabe Lyons, erklärte Tim Keller vor einigen Monaten, dass die säkulare Kultur in Amerika jetzt an einem Punkt angelangt sei, an dem „die einzige Sünde darin besteht, den Menschen zu sagen, dass sie sündigen“. Keller sagte:

Das bedeutet, dass wir die erste Kultur sind, die nicht nur nicht glaubt, dass es hier draussen eine Wahrheit gibt, es ist alles subjektiv. Es ist auch die erste Kultur, die nicht nur glaubt, dass die Christen falsch liegen, sondern dass sie das Problem sind, erklärte er.

Den Eindruck, dass Christen, die ihren Glauben sehr ernst nehmen, ein Problem sind, vermittelt auch der DLF-Beitrag „Evangelikale Front bröckelt“ von Katja Ridderbusch, der sich den Narrativ der progressiven Evangelikalen oder Postevangelikalen aneignet. Demnach erfahren Christen eine tiefe Befreiung, wenn sie sich von einer sklavischen Bindung an die Heilige Schrift lösen. Eingeräumt wird sogar, dass das Exil aus der Welt der Evangelikalen letztlich im Atheismus enden könne. So wie bei Amy Hayes:

Ihr Glaube sei ihr wichtig, sagt Hayes, immer noch. Aber einer Konfession oder Kirche fühlt sie sich heute nicht mehr zugehörig. Sie würde sich am ehesten bezeichnen als Post-Evangelikale bezeichnen, auf der Suche nach Spiritualität. Ihre Mutter fürchte manchmal, dass sie während ihres Studiums zur Atheistin werde. Eine Sorge, die nicht ganz unberechtigt sei, sagt Hayes, lacht hinter ihrer lindgrünen Stoffmaske und zuckt mit den Schultern.

Grayson Hester, der in dem Beitrag ebenfalls interviewt wird, will hingegen Christ bleiben. Allerdings grenzt auch er sich von einer Bekenntnisorientierung ab:

Ich identifiziere mich als Christ, als queerer Christ. Und als Baptist, aber mit Einschränkungen. Ich mag einige Prinzipien der Baptisten, die strikte Trennung von Kirche und Staat oder die Unabhängigkeit der lokalen Kirchengemeinde. Und ich halte die Bibel sehr hoch, nicht als absolute und alleinige Richtschnur, aber als Autorität. Einige Elemente meines Glaubens sind klassisch evangelikal, aber mit der politischen Bedeutung, die der Begriff angenommen hat, identifiziere ich mich in keiner Weise.

Natürlich kommt auch David Gushees, der Autor des Buches After Evangelicalism, reichlich zur Wort. Er stellt einen Nexus zwischen Donald Trump und dem Evangelikalismus her. Beide verbinde eine gewisse toxische Wirkung, die Amerika und die Welt auch dann noch ertragen müssten, falls Trump die Wahl verliere:

Es gibt noch immer viele von ihnen und sie sind hochmotiviert. Die meisten weißen konservativen Evangelikalen sind mittlerweile komplett vom Geist des Trumpismus durchsetzt – von Gemeinheit und Bösartigkeit. Das wird noch lange nach Trump zu spüren sein, und es wird dauern, die politische und die religiöse Kultur in den USA zu entgiften.

Um nicht missverstanden zu werden: Donald Trump darf kritisiert werden und ich kritisiere ihn. Eine Politisierung des Glaubens ist meines Erachtens in einem sehr grundsätzlichen Sinn problematisch. Ich kann deshalb zum Beispiel nicht verstehen, warum MacArthur sagen kann, dass jeder „wahre Gläubige“ Donald Trump wählen wird. Will MacArthur wirklich jemanden, der nicht wählt oder die Demokraten wählt, aus der Gemeinde ausschließen? Ich hoffe nicht!

Hier also der Beitrag, der den Evangelikalismus letztlich einfältig mit dem Trump-Lager verknüpft und folglich in ihm auch eine Gefahr sieht, der man sich entziehen kann, wenn man sich „theologisch weiterentwickelt“. Queere Mission, wenn mal so will:

https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2020/10/29/trumps_fromme_gegner_die_evangelikale_front_in_den_usa_dlf_20201029_0938_7babcb0a.mp3

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5 Kommentare
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Matze
3 Jahre zuvor

Der interessanteste Satz ist aus meiner Sicht sicher die Einlassung von David Gushees, dass evangelikal ein künstliche Identität sei. Begründet wird es von ihm mit der großen theologischen Spannbreite. Das ist wie bei uns! Ich denke, dass die bibeltreuen Christen darauf achten sollten, wie lange man sich in dieser Zuschreibung evangelikal noch bedienen will um glaubhaft zu sein und nicht in einer künstlichen Identität

3 Jahre zuvor

Danke für den wieder sehr interessanten Beitrag. Kurze Frage: Gibt es eine Quelle für die Aussage von John MacArthur, dass jeder wahre Gläubige Trump wählen wird?

3 Jahre zuvor

Oh, wer Links erkennen kann, ist klar im Vorteil … Der Link zum Kurzvideo mit JMA war in der E-Mail-Version nicht enthalten. Alles klar (zumindest bzgl. meiner Frage)

Clemens Altenberg
3 Jahre zuvor

Ja sicher, Mr. Mac Arthur, als amerikanischer Christ soll man denjenigen wählen, der einen für blöd hält und für blöd verkauft, der hinter seinem Rücken Witze über einen macht…

https://www.theatlantic.com/politics/archive/2020/09/trump-secretly-mocks-his-christian-supporters/616522/

Jutta
3 Jahre zuvor

Wer einmal ein paar Dokus gesehen hat, über diese mächtige Gruppierung namens: „…Eine geheime Gruppe christlicher Fundamentalisten, die sich „die Gemeinschaft“ nennt, beeinflusst die amerikanische Politik. Davon ist der investigative Journalist Jeff Sharlet überzeugt. ..“ Weltspiegel, ARD ..wer eine Doku anschaut, über: Wie mit Daten die US Wahlen beeinflusst werden“ und „Bibeltreue Supermacht“, beide ZDF Mediathek, kommt ins Schleudern, vor allem was Mr Trump betrifft. Ich habe eine zweistündige Doku gesehen, von Arte über Trump/Biden, Amerika hat die Wahl … und da kommt man doch sehr ins Nachdenken. Trump tut alles, damit er gewinnt. Etwas anderes interessiert ihn nicht und das wird noch gefährlich werden. Mitnichten ist er ein Christ und wenn er Demonstranten aus dem Weg räumen lässt, um sich mit der Bibel in der Hand zur Schau zu stellen … ist das blasphemisch. Schade, dass man als Christ meint, wie J. MacArthur, sich politisch derart aus dem Fenster zu lehnen. Was da grad abgeht, hat weder mit Theologie… Weiterlesen »

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