Aus Leuten werden Kinder

Die Gesellschaft wird infantiler. Um das zu sehen, braucht man sich gar nicht in den amerikanischen Wahlkampf hineinzusteigern. Beispiele finden wir auch in Deutschland.

Digitalisierung und Wachstumswahnsinn beschleunigen eine regressive Entgrenzung, die das Erwachsensein zur Kindheit mit Kreditkarte pervertiert, meint Edo Reents in einem sehr lesenswerten Artikel:

Die Leute werden immer infantiler. An solchen Vorfällen ist natürlich nichts „schlimm“. Trotzdem sind sie alarmierend. Sie markieren eine gesellschaftliche Tendenz hin zu einem Verhalten, das man früher als kindisch bezeichnet hätte, das heute aber, weil es so verbreitet ist, kaum noch als solches auffällt: Mitteilungsdrang gegenüber Fremden, Indiskretion; ein gewisser Zeigestolz; der Hang, seinen Spiel- und Zerstreuungsbedürfnissen zu fast jeder Zeit und ohne Rücksicht auf die Umgebung nachzugehen.

Diesen Eigenschaften, die auf die fortlaufende Preisgabe des Privaten, Persönlichen hinauslaufen, ist etwas ausgesprochen Übergriffiges gemeinsam; man kann ihren Äußerungen nicht entkommen. Kindern muss man vor allem eines beibringen: Grenzen. Erst sie gewährleisten, über den Schutz nach außen, eine intakte Persönlichkeit. Diese Erziehung wird von einer immer indiskreter werdenden Öffentlichkeit rückgängig gemacht.

Unter „infantil“ wird jeder etwas anderes verstehen; einigen aber kann man sich vielleicht auf Zuschreibenden, die sich im Umkehrschluss aus denen ergeben, die Neil Postman vor dreißig Jahren für erwachsenes Verhalten vorgenommen hat: die „Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung, ein differenziertes Vermögen, begrifflich und logisch zu denken, ein besonderes Interesse sowohl für die historische Kontinuität als auch für die Zukunft, die Wertschätzung von Vernunft und gesellschaftlicher Gliederung.“

Für seine These vom „Verschwinden der Kindheit“, wie sein neben „Wir amüsieren uns zu Tode“ bekanntester Buchtitel heißt, arbeitete Postman sich vor allem am Fernsehen ab, das seiner Ansicht nach dazu führte, dass die einstmals getrennten Sphären des Kindlichen und des Erwachsenen über die so gut wie nichts mehr aussparenden Fernsehprogramme miteinander verbunden werden und es keine Sphäre des Unwissens und der Unschuld, des Kindlichen eben, mehr gibt.

Mehr: www.faz.net.

VD: JS

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14 Kommentare
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Schandor
11 Jahre zuvor

Neil Postamt — ich lach mich krumm 🙂 Da hat der Computer wieder mal was verschlimmbessert …

Ja, traurige Bestandsaufnahme.

Jetz trau ich mich nicht sagen, wie wichtig die Lektüre Neil Postmans ist (bes. "Wir amüsieren uns zu Tode"), sonst geb ich am Ende noch zu viel preis …

An @alle: Lest bitte Neil Postmans "Wir amüsieren uns zu Tode". Ein Update gehörte her: "Wir amüsieren uns zu Tode, und wie uns Google, Facebook & Co dabei helfen" oder "Wir amüsieren uns zu Tode — jetzt erst recht!" oder so ähnlich.

Roderich
11 Jahre zuvor

Interessante Beobachtungen. Was ist denn die Ursache der Infantilität?

– Mangelnde Erziehung zur Disziplin?

– Der Wohlfahrtsstaat, der einem letztlich alle Existenzängste abnimmt, ohne einen jedoch dankbar zu machen? Eigentlich ein verantwortungsloser (weil auf dem Rücken der Enkelkinder finanzierten) Wohlfahrtsstaat.

– Diverse Abhängigkeiten (Süchte), die den einzelnen Menschen nach innen verkrümmen?

– Leben auf Pump (nicht so schlimm wie in Amerika – Ansätze sind aber auch hier vorhanden)?

Joel213
11 Jahre zuvor

"Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen". (Mt 18,3)

Roderich
11 Jahre zuvor

@ Joel, im Verstehen aber seid vollkommen.
Ansonsten wäre das eine infantile Bibelauslegung. 🙂

Joel213
11 Jahre zuvor

hehe, ja nur nen kleiner joke 😉

Schandor
11 Jahre zuvor

@Joel213

213ter Joel: "nen" ist Akkusativ. Du hättest schreiben müssen:

"hehe, war nur'n kleiner — was auch immer". 🙁 

Sprachlich verstehe ich da keinen Spass!

Roderich
11 Jahre zuvor

@Schandor,

nein, das war offizieller Dialekt. So wie man im Ruhrpott ja auch sagen kann "Ich gehe inne Kantine" oder "ich gehe nach die Kantine".

😉

Schandor
11 Jahre zuvor

@Roderich

 

"offizieller Dialekt"? Das ist offizieller Verrat an der deutschen Sprache. "nen" ist die Abkürzung für "einen". Mag schon sein, dass das offiziell so ist. Gibt ja auch Loide, die sagen: "Eenmal zwee halbe Hahn". Die Auflösung überlasse ich teiner Fantasi. Weil schliißlich brauchdma nicht iagendwelche Regln zu befoign; jeda daf schreim wiara wü, nedwoa?

Schandor
11 Jahre zuvor

@Roderich

Oha, das 😉 hab ich vergessen, sorry! (Sonst klingt's noch so, als wäre das ernst … ich muss mich stets daran erinnern, dass der Norden — hm — sozusagen sensibler auf das vermutzlich Exformative reagiert …)

 

Joel213
11 Jahre zuvor

@ Schandor

Ich ordne deine infantile Besserwisserei einfach mal passend hierzu ein: "Mitteilungsdrang gegenüber Fremden, ein gewisser Zeigestolz" 😛

Schandor
11 Jahre zuvor

@Joel213

 

Seufz — da sieht man, wie schwer es ist, sich von all dem freizuhalten! Ich klammere mich so an meine Infantilität und Sprachbesserwisserei, dass ich sie vor mir hertrage wie andere ihr iPhone 😉

Peter
11 Jahre zuvor

@Schandor

Ich klammere mich so an meine Infantilität und Sprachbesserwisserei, dass ich sie vor mir hertrage wie andere ihr iPhone

Aha – andere tragen ihr iPhone, damit sie nicht mit realen/anwesenden Personen sprechen müssen. Wie machst du das? 😉

Peter

PS: Bei mir funktioniert die Vorschau nicht mehr – mein Fehler?

Schandor
11 Jahre zuvor

@Peter

 

Naja, das war halt so dahingesagt. Zuerst hab ich Joel213 beleidigt, dann hat er's bei mir versucht (hat wohl in beide Richtungen nicht so geklappt 🙂

 

Ähm, naja, ich bin ein singuläres Phänomen. Wenn man mir den Zugang zum Internet kappt, hab ich soviel Gesellschaft wie (huch … da infantilisiere ich ja schon wieder und geb was preis!).

 

Ja, Vorschau funzt bei mir auch nicht mehr. Und die Editierfunktion geht bei mir auch nur 4 Minuten, schluchz! 'S ist fast, wie im richtigen Leben: Man kann nix rückgängig machen 🙂

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