Bullinger: Wortlaut der Vulgata muss an Ursprachen geprüft werden

Das Konzil von Trient stellte 1546 im sogenannten Dekret über die Vulgata-Ausgabe der Bibel klar, dass die lateinische Übersetzung als authentisch zu gelten hat. Wörtlich heißt es in dem Erlaß (DH, 1506–1507):

Erwägend, daß der Kirche Gottes nicht wenig an Nutzen zuteil werden könne, wenn bekannt wird, welche von allen lateinischen Ausgaben, die von den heiligen Büchern im Umlauf sind, für authentisch zu halten ist, beschließt und erklärt dasselbe hochheilige Konzil überdies, daß diese alte Vulgata-Ausgabe, die durch den langen Gebrauch so vieler Jahrhunderte in der Kirche anerkannt ist, bei öffentlichen Lesungen, Disputationen, Predigten und Auslegungen als authentisch gelten soll, und daß niemand wagen oder sich unterstehen soll, diese unter irgendeinem Vorwand zu verwerfen. Außerdem beschließt es, um leichtfertige Geister zu zügeln, daß niemand wagen soll, auf eigene Klugheit gestützt in Fragen des Glaubens und der Sitten, soweit sie zum Gebäude christlicher Lehre gehören, die heilige Schrift nach den eigenen Ansichten zu verdrehen und diese selbe heilige Schrift gegen jenen Sinn, den die heilige Mutter Kirche festgehalten hat und festhält, deren Aufgabe es ist, über den wahren Sinn und die Auslegung der heiligen Schriften zu urteilen, oder auch gegen die einmütige Übereinstimmung der Väter auszulegen, auch wenn diese Auslegungen zu gar keiner Zeit für die Veröffentlichung bestimmt sein sollten.

Der Reformator Heinrich Bullinger hat in seiner Fünften Dekade gezeigt, dass Augustinus anderer Auffassung gewesen ist. Der Kirchenvater bestand darauf, die Vulgata in Zweifelsfällen an den Ursprachen zu überprüfen. Der Antistes der Zürcher reformierten Kirche vertrat insgesamt eine ausgewogene Position. Die Vulgata ist seiner Meinung nach hilfreich. Aber „wir alle fordern dazu auf, an zweifelhaften, umstrittenen, unklar übersetzten oder verfälschten Stellen auf griechische oder hebräische Quellen zurückzugehen. Authentisch ist nämlich das Buch, das hebräisch und griechisch abgefasst ist, schrieben doch weder die Propheten noch die Apostel lateinisch, sondern die Apostel griechisch und die Propheten hebräisch.“

Hier das Zitat im Zusammenhang (Schriften, Bd. V, 2006, S. 20–22):

Was ferner die allgemein verbreitete lateinische Übersetzung der Bibel betrifft, so verdammt oder verwirft sie kein vernünftiger Mensch schlechthin. Aber wir alle fordern dazu auf, an zweifelhaften, umstrittenen, unklar übersetzten oder verfälschten Stellen auf griechische oder hebräische Quellen zurückzugehen. Authentisch ist nämlich das Buch, das hebräisch und griechisch abgefasst ist, schrieben doch weder die Propheten noch die Apostel lateinisch, sondern die Apostel griechisch und die Propheten hebräisch. Wir verlangen hier nichts Ungehöriges und nichts, was die Papisten früher nicht selbst erlaubt hätten. So ist im Decretum Gratani, Distinktion 9, folgende Bestimmung zu lesen: »Der zuverlässige Wortlaut der altestamentarischen Bücher muss anhand der hebräischen Schriften überprüft werden, ebenso verlangt der zuverlässige Wortlaut der neutestamentarischen Bibel, dass man sich nach der griechischen Fassung richtet.«

Das sind übrigens Worte, die einem Brief des heiligen Augustin an den heiligen Hieronymus entnommen sind. Augustin schreibt ferner im elften Buch seiner Abhandlung gegen den Manichäer Faustus, Kapitel 2: »Sollte es eine Frage geben bezüglich der Glaubwürdigkeit der einzelnen Handschriften – wie denn in einigen Fällen Unterschiede im Wortlaut der Sätze bestehen, die allerdings selten sind und denen bekannt, die sich dem Studium der Heiligen Schrift widmen –, so muss unser Zweifel entweder durch Abschriften aus den Gebieten ausgeräumt werden, aus denen unsere Lehre selbst herstammt, oder, falls sich auch dort die Handschriften voneinander unterscheiden sollten, die häufiger überlieferte der seltener überlieferten und die ältere der jüngeren Fassung vorgezogen werden. Sollte dann noch immer ein Unterschied im Wortlaut bestehen bleiben, so muss die ältere Sprache, aus welcher der Text übersetzt worden ist, zu Rate gezogen werden.« Ebenso schreibt er im zweiten Buch seines Werks über die christliche Lehre, Kapitel 11: »Die Menschen lateinischer Zunge bedürfen zweier weiterer Sprachen zum Verständnis der Heiligen Schrift, der hebräischen und der griechischen, damit sie auf die älteren Textfassungen zurückgreifen können, wenn die lateinische Übersetzung irgendeinen Zweifel aufkommen lässt.« Und weiter: »Die, welche die Heilige Schrift aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt haben, können einzeln aufgezählt werden, nicht aber die, welche sie ins Lateinische übersetzt haben. Denn wer auch immer in der Frühzeit unseres Glaubens eine griechische Handschrift in die Hände bekam und von sich glaubte, er habe ein wenig Talent in diesen beiden Sprachen, der wagte es, eine lateinische Übersetzung anzufertigen.« Ebenfalls im zweiten Buch, Kapitel 12, wo er über die Verschiedenheit der Übersetzungen spricht, bemerkt er noch: »Dies hat das Verständnis mehr gefördert als gehemmt, solange nur die Leser nicht nachlässig sind. Denn mit der prüfenden Durchsicht mehrerer Handschriften hat sich manch dunkle Stelle klären lassen.« Wenn nun die Väter des Konzils von Trient dies alles mit einem Dekret in Abrede stellen und uns gegen jede Vernunft die lateinische Übersetzung als die authentische Fassung aufdrängen, ohne das Alter der Übersetzungen und die Ansicht der Väter zu berücksichtigen, sehen wir wiederum ganz deutlich, wenn wir nicht mit Blindheit geschlagen sind, was wir von ihnen zu erwarten haben.

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