Calvins Sicht auf die Philosophie

Christoph Strohm (Ethik im frühen Calvinismus, 1996, S. 80–81):

Im Zuge seiner humanistischen Anfänge hat sich Calvin ein solides Wissen antiker Philosophie angeeignet. Anders als Luther, dessen Kampf gegen die Scholastik sich nicht zuletzt gegen den Mißbrauch der Philosophie bzw. Vernunft in Glaubensdingen richtet, äußert Calvin bei aller Kritik keine pauschalen Vorbehalte gegen die Philosophie. Mit Erasmus und anderen Humanisten vertritt Calvin die Vorstellung einer „christlichen Philosophie“, die auf dem Boden der Heiligen Schrift steht und, wie er besonders hervorhebt, auf der Inspiration durch den Heiligen Geist beruht. Dabei orientiert er sich nicht an dem scholastischen Modell, in dem die Offenbarung eine Art Hilfs- und Zusatzfunktion zur Vernunft übernimmt, sondern die „christliche Philosophie“ gründet sich auf den Glauben. Die Erkenntnisse der klassischen Philosophie müssen für die Erläuterung der christlichen Theologie genutzt werden, da Gott auch unter den Heiden Zeugnisse seiner Wahrheit aufscheinen lasse.

Calvin hat die Kraft des Verstandes zur Betrachtung des Irdischen und zur Gestaltung der menschlichen Gemeinschaft auch nach dem Fall hervorgehoben. Dem Verstand und damit der Philosophie kommt in der christlichen Ethik eine zwar begrenzte, aber wichtige Rolle bei der Analyse der „irdischen“ Dinge zu. Da der Geist Gottes auch dort hervortreten kann, wäre die pauschale Verachtung von Vernunft und Philosophie eine Schmähung des Geistes Gottes. Wie Luther und Melanchthon weist Calvin jedoch auf die strikte Begrenztheit der natürlichen Erkenntnis der Philosophen hin.7 Sie wissen nichts vom Sündenfall und seinen Folgen für die menschliche Erkenntnisfähigkeit. Darum kennen sie nicht den wahren Zustand des Menschen nach dem Fall. So ist die christliche Philosophie von der allein auf die depravierte Vernunft gegründeten profanen Philosophie klar zu unterscheiden.

Calvin hebt die Übereinstimmung der christlichen Lehre mit der Philosophie in dem Bemühen um methodische Stringenz und eine rationale Darlegung des Stoffes hervor. Jedoch gibt es auch hier einen Unterschied. Das ausgeprägte Streben der Philosophen nach methodischer Stringenz in der Ethik beruht nicht zuletzt auf ihrer Eitelkeit. Der Heilige Geist hingegen habe sein Lehramt in der Schrift ohne Künstelei betrieben und die geordnete Darstellungsweise nur, soweit es für unser Verständnis nötig ist, eingehalten.

 

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2 Kommentare
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Roderich
5 Jahre zuvor

Besten Dank, Ron, das ist interessant. Bei einer Passage würde es mich bei Gelegenheit konkreter interessieren: Wie Luther und Melanchthon weist Calvin jedoch auf die strikte Begrenztheit der natürlichen Erkenntnis der Philosophen hin. Sie wissen nichts vom Sündenfall und seinen Folgen für die menschliche Erkenntnisfähigkeit. Darum kennen sie nicht den wahren Zustand des Menschen nach dem Fall. So ist die christliche Philosophie von der allein auf die depravierte Vernunft gegründeten profanen Philosophie klar zu unterscheiden. – Man müsste das mal an konkreten Beispielen darstellen, wo die menschliche Erkenntnisfähigkeit wegen des Sündenfalls leidet. – Und welche Konsequenzen sollte das für Philosophen idealerweise haben? Welche Aspekte des logischen Schließens sollten sie mit Vorsicht genießen? Welche Prämissen (aus der Wahrnehmung oder dem „common sense“) sollten sie mehr hinterfragen? Ich würde sagen: wer von der Gefallenheit des menschlichen Willens weiß, wird trotzdem um logische Stringenz bemüht sein, wird sich um Argumente, gute Gründe etc. bemühen – vielleicht gerade umso mehr, weil es (durch unsere… Weiterlesen »

Markus Jesgarz
1 Jahr zuvor

Meine Meinung ist:
Zum Glück haben bis ca. 1800 evangelische Theologen ein philosophisches Training erhalten. 
https://www.facebook.com/markus.jesgarz.3/posts/pfbid06aHPYhbEUybAXKYPjqyfQQ4XFBdKTTHCnd2DcGDSpy6U7Mq9VRDQnh1kZuwDmtuil

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