Das Drama von Mossul (Teil 3)

Wie angekündigt hier die Fortsetzung (siehe auch hier) des Berichtes von Andrea, die derzeit im Nordirak für das Hilfswerk GAiN unterwegs ist:

Donnerstag, 31. Juli 2014, abends

Meine Zeit im Irak geht dem Ende entgegen; ich vermute, dass das hier der letzte Beitrag meines Newstickers sein wird, weil wir am Wochenende wieder in einem Flüchtlingslager unterwegs sind und ich kaum zum Schreiben kommen werde. Heute Nachmittag habe ich mit der Hilfe einer Übersetzerin unsere Nachbarn der letzten Woche interviewen können. So viele der kleinen gemeinen Details, die sie erzählten, habe ich inzwischen dutzendmal gehört. So viele traurige Geschichten haben uns alle in den letzten Wochen müde gemacht, dass ich manchmal dachte, ich mag eigentlich nichts mehr hören. Aber jede dieser Geschichten mit jedem einzelnen gemeinen Detail verdient es eigentlich, gehört zu werden. Was mich ganz neu fasziniert und tröstet, sind diese Sätze in den Psalmen, die wir morgens in der gemeinsamen Andacht lesen: Wie leidenschaftlich Gott auf Seiten der Unterdrückten steht und wie sein Zorn gegen die Übeltäter entbrennt. Und dass er denen Recht schaffen wird, die sich zu ihm halten. Bei Gott ist keine dieser Geschichten vergessen.

Es sind, wie ich jetzt herausfinde, drei neue Familien, die mit in unserer Wohnung leben: G., die alte Dame, und ihr Mann sind die Eltern der zwei jüngeren Frauen vielleicht Mitte dreißig: Eine von ihnen, J., lebte mit den Eltern, ihrem Mann und der 17jährigen Tochter in Mossul. Sie bewohnten zusammen ein großes Haus und betrieben eine Cafeteria auf dem Universitätsgelände von Mossul. Die andere Tochter, K., lebte mit ihren zwei Kindern im Grundschulalter in einem Dorf außerhalb von Mossul; ihr Mann ist Techniker für Handys und ähnliche Kleingeräte. Die Familien gehören zur Chaldäisch-Orthodoxen bzw. Armenisch-Orthodoxen Kirche, und schon in den letzten Jahren haben sie sich nicht mehr sicher gefühlt. “Islamistische Terroristen”, wie sie alles nennen, was auch schon vor ISIS die Gegend unsicher gemacht hat, sind mehrmals in ihr Haus eingedrungen und haben sie bedroht. Sie erzählen das so nebensächlich, wie ich meinerseits vielleicht berichten würde, dass mir nun schon mehrmals die Sicherung im Wohnzimmer durchgebrannt ist. Den Pfarrer ihrer Kirche hat man umgebracht.

Es ist schon das vierte Mal, dass sie ihre Häuser verlassen haben und geflüchtet sind; diesmal, so spüren sie, war es anders und hatte etwas Endgültiges. Die letzten Male, 2008, 2010 und 2011, hatten sie selbst die Entscheidung gefällt, dass es zu gefährlich wurde und sie besser gehen sollten. Sie konnten ihre Sachen mitnehmen und sich für einige Monate zu Verwandten flüchten, bis sich die Lage wieder beruhigt hatte und sie in ihre Häuser zurückkehren konnten. (Andere unserer neuen Bekannten haben auch berichtet, wie die Islamisten in ihrer Abwesenheit in ihre Häuser einbrachen und sich dort häuslich einrichteten. Wenn sie zurückkehrten, mussten sie erst einmal Blutspuren und Reste von Verbandszeug entsorgen, und ihre Einrichtung war verwüstet.)

Am 18. Juli fielen Bomben auf Mossul. Die Familie bekam es mit der Angst zu tun und beschloss zu flüchten, solange es noch möglich war. Am 19. Juli um 9 Uhr, an dem Tag, an dem später das Ultimatum für Christen verkündet wurde, verließen sie ihr Haus zum letzten Mal. Ein Cousin, der kurz vor ihnen geflüchtet war, rief von einer ihnen unbekannten Nummer aus an: Sie hatten ihm am Kontrollpunkt sein Handy und viele Wertsachen abgenommen, und so musste er sich für seinen Anruf ein anderes Handy borgen. Aber sein Auto war ihm geblieben. „Am besten versteckt ihr das, was ihr an Wertvollem mitnehmen wollt, irgendwie im Auto“, riet er der Familie. Und das taten sie.

„Wir haben beschlossen, dass wir unsere Enkelin, die Tochter von J., bei meinem Mann und mir im Auto mitnehmen“, erzählt G. „Sie ist ja erst siebzehn. Ich bin eine alte Frau; in unserer Kultur sollten die Leute mich respektieren, und wir dachten, dass ich sie besser beschützen kann, als wenn sie bei ihren Eltern bleibt.“ Aber es gibt keinen Respekt am Kontrollpunkt, weder für die alte Dame noch für irgendjemand anderen.

„Sie haben uns befohlen auszusteigen“, erzählt J., „und sie haben uns durchsucht. Alle Wertsachen haben sie uns weggenommen, sogar meine Brille und meinen Ehering.“ Seit ihrer Flucht kann J. nur unklar sehen; es erklärt, warum sie immer ein bisschen verwirrt dreinschaut. Erst jetzt, nach fast zwei Wochen, kann sie zu einem Augenarzt gehen. „Ja, uns haben sie auch aus dem Auto gescheucht“, schluchzt G. „Ich habe zu ihnen gesagt: ‚Ich bin doch eine alte Frau und mein Mann hat Rückenprobleme. Wir können nicht so einfach aussteigen.’ Aber der eine Mann hatte ein Gewehr und das hat er auf uns gerichtet. Wir haben uns also aus dem Auto gequält. Sie haben uns angeschrien: ‚Wo ist euer Gold?’ Ich hatte solche Angst, dass ich ihnen einfach meine Tasche in die Hand gedrückt habe. Aber dann haben sie mir auch mein Gebiss abgenommen. Seit vorletzter Woche habe ich deswegen im Oberkiefer keine Vorderzähne mehr. Sie haben mir auch mein Blutdruckmessgerät abgenommen und unsere Haustürschlüssel. Ich hatte auch einen Rosenkranz dabei, den sie mir weggenommen haben, und ein Bild von Jesus. Das hat mir einer von den Männern aus der Hand gerissen. Er hat es auf den Boden geworfen und zertreten. Er hat mich angeschrien und beschimpft. Dann haben sie mir auch noch befohlen, die Schuhe dazulassen. ‚Aber das geht doch nicht’, habe ich gebettelt, ‚der Boden ist zu heiß und ich kann ohne meine Schuhe doch nicht laufen.’ Aber sie haben einfach nur auf uns eingebrüllt. Mein Mann hat sie angefleht: ‚Ihr sagt doch, dass Mohammed ein guter Mann war. Um seines Namens willen – behandelt uns doch bitte nicht so.’ Aber sie haben ihn einfach ignoriert. Sie waren so grausam. Meine Enkelin hat nach ihrem Papa geweint. Wir haben alle geweint, aber sie hatten kein Mitleid.“

„Ich hatte solche Angst“, sagt J., die ja im anderen Auto saß. „Ich hatte solche Angst, dass sie meine Tochter verschleppen. Sie haben uns dann befohlen, in eins von ihren Autos zu steigen, und wir haben gesagt: ‚Aber was wird denn aus unserem Auto?’ Sie haben uns nur angeschrien: ‚Hört auf, dumme Fragen zu stellen, und steigt hier ein.’ Wir haben in dem Moment wirklich gedacht, dass sie uns irgendwohin fahren, wo sie uns umbringen. Aber sie haben uns einfach außerhalb von Mossul ausgesetzt.“

Die beiden Familien fanden wieder zusammen und schlugen sich zu Fuß und per Anhalter zu dem Dorf durch, in dem K., die andere Tochter, lebte. Es ist übrigens eines der Dörfer, das meine Kollegen mit einer Wagenladung Trinkwasser versorgten, weil Wasser und Elektrizität dort fehlten.

Sie waren erst drei Tage dort, als ISIS eine Fabrik für medizinische Geräte bei diesem Dorf angriff. Ihre Bomben fielen die ganze Nacht hindurch und der Familie wurde bewusst, dass sie auch hier nicht sicher war. Mitten in der Nacht flüchteten sie aus K.s Haus und nahmen sie und ihre vierköpfige Familie gleich mit. Nachts um eins kamen sie an einem kurdischen Kontrollpunkt an, wurden aber zu dieser Zeit nicht mehr durchgelassen. „Zurückzugehen kam für meine Mutter nicht in Frage“, sagt J. „Wir haben da am Straßenrand unsere Matratzen und Sachen auf den Boden gelegt und ein paar Stunden geschlafen. Um fünf Uhr morgens haben sie uns dann durchgelassen.“ Einige Nächte lang kam die Familie in der chaldäischen Kirche in unserer Stadt unter, dann mussten sie dort weg. Die Gemeinde, zu der „unsere“ Wohnung gehört, hat ihnen erlaubt, eine Woche bei uns zu wohnen. Wir kaufen für die Familien mit ein, haben ihnen einige Kleider und Schuhe aus unserem Container mitgebracht und hoffen mit ihnen, dass sie bald eine dauerhaftere Bleibe finden. Ihre Woche bei uns läuft eigentlich morgen aus, aber wir haben noch nicht gehört, dass sie etwas anderes gefunden haben – zumindest etwas, das sie auch bezahlen können.

Wie stellen sie sich ihre Zukunft vor, frage ich sie zum Schluss. Würden sie gerne zurück nach Mossul gehen? „Wenn ISIS ausgeschaltet wird und wir unser Haus zurück bekommen, werden wir es wohl verkaufen und irgendwo anders hinziehen“, sagt G. resigniert. „Aber im Moment haben wir das Gefühl, dass wir nirgendwo ganz sicher sind.“

Während ich diese Geschichte niederschreibe, habe ich einen Anruf bekommen: bei R.,“unserer“ Ärztin, sind 15 weitere Familien aufgeschlagen, die nun auch aus einem der Dörfer hergekommen sind. Wir haben noch schnell ein paar Matratzen für sie organisiert und uns dann zum Abendessen mit Q. ein paar syrische Pizzas geteilt. Q. ist Mitte zwanzig und so eine Art Hausmeister in unserer Wohnung. Er ist selbst vor einigen Jahren aus Bagdad her geflüchtet, bevor die Armee ihn einziehen konnte, und er hat offenbar auch zu viel Schlimmes erlebt, als dass er psychisch ganz gesund wäre. „Guckt ihr auch das hier“, meint er beiläufig in seinem gebrochenen Englisch. „Ist Video von ISIS, so wie Promo-Video“ – und er spielt ein professionell gedrehtes Video aus dem Internet ab, in dem, untermalt von feierlicher Musik, einige Dutzend gefangengenommene irakische Soldaten gezeigt werden, wie sie von vermummten Gestalten abgeführt und einer nach dem anderen erschossen werden. „Ist ganz neu auf YouTube.“ Ich schaue zu spät weg; ich habe zu spät geschaltet, um was es da geht. Es gibt keinen Grund, an der Authentizität solcher Videos zu zweifeln, die man sich hier unter Freunden gemeinschaftlich beim Abendessen anschaut.

Kann man sich an so viel Gewalt eigentlich gewöhnen? Ich bin froh, dass ich gerade in den letzten Wochen hier sein konnte. Aber ich glaube, ich bin auch froh, wenn ich am Sonntag nach Hause komme.

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