Gab es ein einheitliches palästinensisches Judentum?

Aus: Der neue Paulus: Handreichung zur „Neuen Paulusperspektive“, S. 42–43):

Obwohl die Kritik am Zerrbild des Judentums zu begrüßen ist, hat sich inzwischen gezeigt, dass Sanders seine Quellen einseitig gewählt und über-systematisiert sowie polemisch ausgewertet hat. Während Sanders das Gemeinsame des Judentums in Palästina betont (Common Judaism), sind die religiösen und sozialen Unterschiede zwischen den jüdischen Gruppen weniger klar präsentiert worden. Martin Hengel und Roland Deines schreiben etwa, dass Sanders’ Darstellung des Judentums nur eine Außenansicht ist. „In Palästina haben die Menschen die beachtlichen Unterschiede und Spannungen“ damals viel deutlicher zur Kenntnis genommen. Der jung verstorbene Friedrich Avemarie hat nachgewiesen, dass die rabbinische Soteriologie nicht nur als Gnadenlehre verstanden werden kann, wie das Sanders behauptet. Vielmehr gab es innerhalb des palästinensischen Judentums divergierende Gnadenlehren. Sowohl Billerbeck als auch Sanders haben die Texte jeweils einem soteriologischen Prinzip untergeordnet. Nach Avemarie lassen sich jedoch Werkgerechtigkeit und Bundesnomismus in der frührabbinischen Literatur gleichrangig und nebeneinander nachweisen. Aus etlichen jüdischen Texten geht zudem hervor, dass die soteriologische Bedeutung des Gesetzes und ihrer Erfüllung höher eingeschätzt wird, als Sanders meint. Selbst wenn es stimmt, dass die Tora nicht gegeben wurde, um in den Bund hineinzugelangen, bleibt ja die Frage nach dem Heil. Es ist dem Volk nämlich nicht gelungen, das Gesetz zu halten; und so droht bei einem Gericht nach den Werken eben doch die Verurteilung. Der eben schon erwähnte John Barclay zeigt im zweiten Kapitel seines großen Paulusbuches, dass in etlichen jüdischen Texten (er untersucht fünf Überlieferungen akribisch) etwas zu finden ist, was sich „sehr deutlich von Sanders’ Bild des ‚Bundesnomismus‘ unterscheidet“. Der Neutestamentler Jörg Frey schreibt zu Sanders Sicht des Judentums:

„Methodisch führt die Abstraktion auf Grundstrukturen zu einer Einebnung der je spezifischen Differenzen, zu einem vermeintlich einheitlichen Judentum hinter den Texten, das mit der historischen Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmt. Neuere Untersuchungen zeigen, dass das Judentum jener Zeit in seiner Zuordnung von Tora und Heil vielfältiger und weniger schematisch war, als Sanders zugesteht.“

Die Kategorien des rabbinischen Judentums sind also weitaus flüssiger, als wie sich die Vertreter der NPP es sich wünschen.

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