Karlsruhe hat die letzten Reste eines metaphysischen Schleiers entfernt

Edo Reents hat in der FAZ (06.08.2020, Nr. 181, S. 14) das Sterbehilfeurteil vom Februar 2020 als Konsequenz der Säkularisierung gedeutet.

Wenn das höchste deutsche Gericht Vorsorge dafür trifft, dass jedem Menschen, egal, welchen Alters und in welcher Lage, die Selbsttötung möglich sein muss, zur Not eben mit fremder Hilfe, dann kommt man vielleicht zu dem Schluss, dass dieses Urteil einerseits kühn, andererseits aber auch ernüchternd, ja, fast banal, flach wirkt, wie die Bestätigung anderer Selbstbestimmungsrechte auch, zum Beispiel des informationellen oder des sexuellen. Es ist die vielleicht letzte, auf jeden Fall aber gewichtigste Konsequenz, die aus dem Säkularitätsgebot gezogen wurde.

Reents zweifelt daran, dass sich diese von aller Metaphysik bereinigte Rechtssprechung bewährt und macht eine Verlustrechnung auf:

Ein Verfassungssystem, das auch in Gerichtssälen keine Kreuze mehr zulässt, kann sich um einen geistigen Überschuss, ob nun philosophischer oder religiöser Art, nicht mehr kümmern. Diese buchstäbliche Rücksichtslosigkeit, um von der gegenüber Hinterbliebenen oder an der Selbsttötung Beteiligten nicht zu reden, hat etwas (vielleicht ungut) Ernüchterndes. Ungerührt hat Karlsruhe die letzten Reste eines metaphysischen Schleiers entfernt, den die Menschen noch um Fragen des Lebens und des Sterbens gehüllt haben mögen.

Prof. Martin Teising aus Bad Hersfeld geht in seiner Kritik des Urteils noch weiter (FAZ vom 13.08.2020, Nr. 187, S. 25).

Aus der klinischen Forschung wissen wir, dass sich Suizidenten in der Regel verzweifelt und in großer seelischer Not nach Ruhe und Frieden sehnen. Sie wollen so nicht weiterleben. Das Urteil ist von dem Wunsch getragen, diesen Menschen helfen zu wollen, harte Suizidmethoden zu verhindern und ein „sanftes Einschlafen“ zu ermöglichen. Das Gericht blickt nicht der Tatsache ins Auge, dass mit der Selbsttötung, auch durch Medikamente, der Wunsch nach Ruhe und Frieden gerade nicht erfüllt werden kann. Die Empfindung von Ruhe und Frieden setzt Leben voraus.

Das Bundesverfassungsgericht folgt einem Autonomieverständnis, dass die Abhängigkeit von und das Angewiesensein des Einzelnen auf andere Menschen als basale Bedingung menschlicher Existenz verleugnet. Das spricht Reents indirekt an, wenn er die Rücksichtslosigkeit des Urteils gegenüber Hinterbliebenen benennt.

Wenn Bischof Meister von der hannoversche Landeskirche sogar davon spricht, dass der Mensch grundsätzlich ein theologisches Recht auf Selbsttötung habe, lässt dies erahnen, wie fortgeschritten die Selbstsäkularisierung innerhalb der Evangelischen Kirche bereits ist. Die Kirche als Vordenker eines gottlosen Lebens und Sterbens! Zumindest in diesem Sinne wird der missionarische Auftrag noch ernst genommen.

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4 Kommentare
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Theophil Isegrim
3 Jahre zuvor

Ich habe mich sehr geärgert, was dieser „Bischof“ da von sich gegeben hat. Ich weiß nicht, ob ich so einen als meinen Glaubensbruder bezeichnen kann. Der glaubt an irgendwas anderes.

Gibt es eigentlich mal eine Umkehrung des Prozesses? Anstatt weg von Gott zu ihm hin?

3 Jahre zuvor

[…] Karlsruhe hat die letzten Reste eines metaphysischen Schleiers entfernt […]

Markus Jesgarz
3 Jahre zuvor

Dies ist ein Kommentar zu der Aussage im Beitrag: Leserbriefe vom 13. August 2020 https://www.faz.net/aktuell/politik/briefe-an-die-herausgeber/briefe-an-die-herausgeber-vom-13-august-2020-16902081.html unter „Inkonsequenter Richterspruch“ von Professor Dr. Martin Teising am Anfang: Im Artikel „Die letzte Ernüchterung“ (F.A.Z. vom 6. August) zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem das Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zum Suizid aufgehoben wird, attestiert Edo Reents dem Gericht, „die letzten Reste eines metaphysischen Schleiers“ um den Suizid aufgehoben zu haben. Meine Meinung ist: 1. Leider möchten die beschwerdeführenden Vereine, dass eine andere gesellschaftliche Einstellung als die christliche Einstellung zur Selbsttötung in Deutschland vorherrscht. 1. Im Kommentar am 26. Februar 2020 von Markus Jesgarz steht: Im Beitrag: Ex-Minister Hermann Gröhe warnt vor Sterbehilfe-Urteil  https://www.tagesspiegel.de/politik/auf-abschuessiger-bahn-ex-minister-hermann-groehe-warnt-vor-sterbehilfe-urteil/25586320.html am 26.02.2020 von Rainer Woratschka steht 1. am Anfang: Hermann Gröhe (CDU) ist stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag. Er war von 2013 bis 2018 Bundesgesundheitsminister. Rainer Woratschka: Herr Gröhe, das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot von geschäftsmäßiger Sterbehilfe aus dem Jahr 2015 kassiert. Sie waren damals Gesundheitsminister, haben sich für dieses… Weiterlesen »

Markus Jesgarz
3 Jahre zuvor

Dies ist ein Kommentar zu der Aussage am Ende: https://theoblog.de/karlsruhe-hat-die-letzten-reste-eines-metaphysischen-schleiers-entfernt/35489/comment-page-1/#comment-87323 Die Metaphysik der beschwerdeführenden Vereine ist kontrafaktisch. Meine Meinung ist: 1. Zu Recht kritisierte der Pfarrer und Evangelist Wilhelm Busch die Metaphysik des wissenschaftlichen Atheismus. Im Kommentar am 24. November 2019 von Markus Jesgarz steht: 1. Im Buch: Jesus unser Schicksal – Klassik-Ausgabe – Wilhelm Busch https://www.cvbh.de/Jesus-unser-Schicksal-Klassik-Ausgabe-Wilhelm-Busch steht unter „Kann man mit Gott reden? “ und „1. Man kann, wenn man´s kann“ auf der Seite 125: Das ist das unheimliche Kennzeichen unserer Zeit, dass sie die Fähigkeit verloren hat zum Gebet und damit zum Glauben. Der berühmte Schriftsteller Franz Werfel hat einen Roman geschrieben mit dem Titel „Der veruntreute Himmel“. Darin sagt er einen Satz, der mir nachgeht, solange ich mit Menschen zu tun habe. Der Satz lautet: „Das Kennzeichen der modernen Zeit ist die metaphysische Verdummung des Menschen“. Mit „metaphysisch“ bezeichnet man die ewigen Dinge, die auch wirklich, aber eben in einer anderen Dimension sind. Die „metaphysische Verdummung“: dass… Weiterlesen »

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