Vom Nutzen der »Transformativen Theologie«

863.936_evangelium.jpgGreg Gilbert setzt sich in seinem Buch Was ist das Evangelium? – der Titel lässt es vermuten –, mit der guten Nachricht von Jesus Christus auseinander. Geschrieben hat er darüber, weil unter Christen oft nicht ganz klar ist, worum es beim Evangelium geht. Einerseits fühlen sich viele überfordert, wenn sie zustimmend sagen sollen, was sie unter »Evangelium« verstehen. Andererseits gibt es heute allerlei Leute, die das Evangelium – meist sendungsbewusst auftretend – neu deuten. Für D.A. Carson ist diese Entwicklung »alarmierend, weil es um ein grundlegend wichtiges Thema geht. Wenn Evangelikale derart unvereinbare Ansichten darüber haben, »was das ›Evangelium‹ eigentlich ist, muss man die Schlussfolgerung ziehen, dass die evangelikale Bewegung ein facettenreiches Phänomen ist, ohne übereinstimmendes Evangelium«, schreibt er in seinem Vorwort.

Im hinteren Teil seines Buch befasst sich Gilbert mit einigen problematischen Interpretationen des Evangeliums. Er spricht dabei auch das Konzept der »Gesellschaftlichen Transformation« an, das sich heute großer Beliebtheit erfreut.

Mir selbst waren besonders Anfang der 90er Jahre, inspiriert von Abraham Kuyper, »Kulturrelevanz« und »Gesellschaftstransformation« sehr wichtig. Ich hatte große Bauchschmerzen im Blick auf die unter Evangelikalen verbreitete Rückzugsmentalität. Es erschien mir als unverantwortliche Verkürzung, Evangelium auf die Frage des Heils zu reduzieren. Und ich bedauerte die Neigung, alles »Nichtfromme« anderen zu überlassen.

Viel Verständnis habe ich damals (in Deutschland) nicht geerntet. Derzeit läge ich allerdings ganz im Trend, »Gesellschaftstransformation« ist der große Renner. Obwohl ich meine Position nicht grundsätzlich geändert habe, trete ich im Blick auf eine anzustrebende Transformation der Gesellschaft heute deutlich bescheidener auf als vor 20 Jahren. Oft ist die »Transformative Theologie« auf ein naïves Kulturkonzept und eine gute Portion Populismus angewiesen (siehe auch das Interview mit J.D. Hunter). Und: Ich habe in den vergangenen 20 Jahren etliche Christen, Familien und Gemeinden »von Innen« kennenlernen dürfen (mich selbst eingeschlossen). Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob wir der Welt viel schenken können. Vor den Evangelikalen braucht man keine Angst haben, zuviel erwarten sollte die Welt von ihnen aber auch nicht. Kurz: Mir ist inzwischen das Christuszeugnis wichtiger geworden. Das, was wir der Welt zu geben haben, bleibt – sagen wir – übersichtlich. Deshalb sollten Christen der Welt nicht zu viel versprechen, sondern Zeugnis ablegen von einem andern: »Denn nicht uns selbst verkündigen wir, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns selbst aber als eure Knechte, um Jesu willen« (2Kor 4,5).

Gilberts Erörterung der Transformativen Theologie finde ich fair und angemessen. Hier der entscheidende Abschnitt (136–138):

Der Gedanke, die Gesellschaft müsse durch die Arbeit von Christen sichtbar verändert werden, scheint in letzter Zeit von vielen Evangelikalen Besitz ergriffen zu haben. Ich halte das für ein lobenswertes Ziel und ich glaube auch, dass die Bemühung, sich dem – persönlichen oder system-immanenten – Bösen in der Gesellschaft entgegenzustellen, biblisch ist. Paulus sagt uns, wir sollen allen Menschen Gutes tun, »besonders aber … den Hausgenossen des Glaubens« (Gal 6,10). Jesus trägt uns auf, für unseren Nächsten zu sorgen, wozu auch Außenstehende gehören (s. Lk 10,25–37). Und er sagt ebenfalls: »So soll euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen« (Mt 5,16).

Viele »Transformationalisten«‚ gehen aber noch weiter und behaupten, der Auftrag, »die Gesellschaft zu erlösen«, sei tief in die Aussagen der Bibel eingewoben. Wenn Gott tatsächlich die Welt neu erschaffen will, argumentieren sie, dann liegt es in unserer Verantwortung, uns an dieser Arbeit zu beteiligen. Wir sollten »Baumaterial« für das Königreich sammeln und deutliche Schritte auf die Aufrichtung von Gottes Herrschaft in unserer Nachbarschaft, in unseren Städten und Ländern und in unserer Welt hin tun. »Wir müssen tun, was wir Gott tun sehen«, sagen sie.

Darf ich ganz offen sagen, was ich darüber denke? Ich habe ernste biblische und theologische Vorbehalte gegenüber dem Transformations-Paradigma. Ich bin nicht davon überzeugt, dass die Heilige Schrift den Bemühungen um gesellschaftliche Veränderung den gleichen Stellenwert beimisst, den viele »Transformationalisten« fordern. Das hat mehrere Gründe. Einerseits denke ich nicht, dass das kulturell-gesellschaftliche Mandat im Buch Genesis dem Volk Gottes als solches gegeben ist; ich meine, es ist der ganzen Menschheit gegeben. Zweitens denke ich nicht, dass die menschliche Gesellschaft – weder in der Bibel noch in der Geschichte – sich generell auf Gott zubewegt. Ich bin vielmehr der Ansicht, die menschliche Kultur bzw. Gesellschaft als Ganzes (wenn auch nicht in jedem Einzelfall) bewegt sich auf das Gericht zu (s. Offb 17–19). Daher halte ich den Optimismus vieler »Transformationalisten«, sie könnten »die Welt verändern«, für irreführend und somit letztendlich entmutigend.

Hinter all dem steckt allerdings eine enorme biblisch-theologische Diskussion, die hier nicht mein Hauptanliegen ist. Ich bin der Ansicht, es ist möglich, ein engagierter »Transformationalist« zu sein und trotzdem gleichzeitig das Kreuz von Jesus im Mittelpunkt der biblischen Geschichte und der guten Nachricht zu halten. Schließlich ist es das schuldbefreite und erlöste Volk Gottes, das er zur Schaffung dieser Veränderung einsetzt, und Vergebung und Erlösung kommen nur durch das Kreuz zustande.

Ich kann das Buch sehr empfehlen. Hier eine Leseprobe: Leseprobe_evangelium.pdf.

 

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11 Kommentare
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12 Jahre zuvor

Servus, ich bin doch recht betroffen bei diesem Satz: „Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob wir der Welt viel schenken können. Vor den Evangelikalen braucht man keine Angst haben, zuviel erwarten sollte die Welt von ihnen aber auch nicht. Kurz: Mir ist inzwischen das Christuszeugnis wichtiger geworden.“ Wenn wir der Welt nicht viel schenken können, wer dann? Gott hat seinen Sohn gegeben. Gott hat alles gegeben. Wie können wir dann die Hände in die Taschen stecken und glauben, dass wir nichts zu geben haben? Kennen wir nicht den, der in Überfluss gibt, damit wir geben können? Mich erinnert das an Mose in 2. Mose 3ff. Der glaubte auch, dass er gegen Ägypten nichts ausrichten könnte. Zum Thema Christuszeugnis möchte ich mal Jakobus 2 anführen: Was hilft’s, liebe Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben (oder das Christuszeugnis?!), und hat doch keine Werke? Kann denn der Glaube ihn selig machen? 15 Wenn ein Bruder oder eine Schwester Mangel hätte… Weiterlesen »

DanielV.
12 Jahre zuvor

Scheinbar verlagert sich das Machbarkeitsdenken vom 80er/90er Jahre-Thema „Wie gestalten wir einen anziehenden Gottesdienst?“, über das Allheilmittel „missionaler Lebensstil“ zum „Lasst uns die Gesellschaft verändern!“-Motto. Viele Transformationstheorien scheitern an der Praxis, entweder aus Überschätzung der eigenen Möglichkeiten, geistlich-gut-gemeinter Euphorie und fehlender Erdung, Geltungsdrang von Christen, Unterschätzung von starren Lebens- & Denkstrukturen, Verderbtheit der Menschen durch die Sünde, etc… oder weil sie den Versprechen einer der neueren soziologischen Schule aufgesessen sind, sofern sie sich überhaupt mal mit den Erklärungsversuchen der Soziologie auseinandergesetzt haben. Wer meint, auf dieser Welt einen Himmel auf Erden schaffen zu können, nur weil er sich diakonisch einsetzt, wird wahrscheinlich schnell müde werden. Dass der dreieinige Gott in unseren Tagen sehr aktiv ist, will ich nicht bestreiten, ebenso dass der Glaube ohne Werke tot ist. Wenn Gesellschaftstransformation (Wo sind denn die Erfolgsmeldungen?) fast wie selbstverständlich ohne ein Wort von Erlösung durch Gnade propagiert wird, klingt das in meinen Ohren doch ziemlich einseitig. Auch wenn sich das nicht sehr… Weiterlesen »

mark.us
12 Jahre zuvor

„Ich bin der Ansicht, es ist möglich, ein engagierter »Transformationalist« zu sein und trotzdem gleichzeitig das Kreuz von Jesus im Mittelpunkt der biblischen Geschichte und der guten Nachricht zu halten.“ Das ist doch ein guter Ansatz: beide Seiten müssen sich nicht einander ausschließen. Ich persönlich mag deshalb weniger von „Kulturrelevanz“ reden, sondern von „Kulturpräsenz“. Denn ob die Kultur uns als relevant empfindet, darf nicht das Ziel unseres Handels sein. Das wir als Christen präsent sein können und sollen, dagegen schon. „Kulturrelevanz“ schließt doch schon rein sprachlich ein, dass die Kultur das Maß ist. Kulturpräsenz dagegen lässt Abstand. Nicht von der Welt sein, aber in der Welt sein. Und zum Thema: Was haben wir der Welt zu geben? Da würde ich meine: eine ganze Menge! Wir sind nötig!! Und das ist nicht nur eine Behauptung, sondern Bestandsaufnahme. Letztes Jahr war ich auf einem Vortrag vom Bertelsmann-Religionsmonitor. Der Vortragende meinte dann sinngemäß zu uns (alles Christen): Ihr stellt euch immer so schlecht… Weiterlesen »

12 Jahre zuvor

[…] Ron, du sprichst mir aus dem Herzen: Ich habe in den vergangenen 20 Jahren etliche Christen, Familien […]

Roderich
12 Jahre zuvor

@Jason, ich denke, Rons Aussage, von Evangelikalen sei nicht so viel zu erwarten, kann man ja als rein desrkriptiv auffassen – eine Zustandsbeschreibung des geistigen Zustands der gegenwärtigen Evangelikalen. Da kann man sicher auch viel berechtigte Kritik haben. Damit ist ja noch nicht gesagt, wie dies aussehen würde, wenn es unter Evangelikalen selber eine Buß-Bewegung gäbe, und wir wieder anfingen, die Bibel ernster zu nehmen etc. Grundsätzlich hat das Volk Gottes, durch Gottes Macht, das Potential, Geschichte zu machen. In der Vergangenheit war das Christentum ja geschichtsmächtig. Dass es das heute in BRD nicht mehr ist, muß man leider eingestehen – Christen sind kein ernstzunehmender gesellschaftlicher Faktor mehr, sondern stehen mehr „am Rande“. (Dass auch wenige Christen weiterhin Salz und Licht sein können, und dass es ganz ohne Christentum in BRD heute noch VIEL SCHLECHTER aussehen könnte, steht auf einem anderen Blatt. Vielleicht schützen die verbleibenden Christen die BRD – noch – vor dem totalen Verfall in Barbarei? Insofern gilt… Weiterlesen »

Lutz
12 Jahre zuvor

@Roderich

Mir stellt sich die Frage: Muss eine Erweckung denn in eine bleibende gesellschaftliche Veränderung „umgemünzt“ werden?

Also ich kenne das Buch nicht, aber ich werde es mir demnächst besorgen um zu schauen was der Autor dazu zu sagen hat. Er kommt ja wohl auch aus einem ganz besonderen Umfeld mit ganz besonderen Ansichten und hat da Veränderungen „erlebt“.

Lutz

Roderich
12 Jahre zuvor

@Lutz – wenn Du das Buch von Francis Schaeffer „Wie können wir denn leben“ liest, siehst Du den Segen, den z.B. die letzte Reformation über die Welt gebracht hat.
Wer sollte das nicht wollen?

Lutz
12 Jahre zuvor

@Roderich, das Buch kenne ich. Mit meiner Frage will ich gar nicht bestreiten, dass „Christsein“ keine Auswirkungen auf Gesellschaft hat. Immerhin ist jeder „Christ“ auch ein Glied der jeweiligen Gesellschaft. Außerdem hatte ich ja vor kurzem erst ein Seminar, das auch die Auswirkungen der Reformation auf das nachfolgende gesellschaftliche Leben dokumentierte. Mit meiner Frage wollte ich den Tenor auf das „muss“ legen und dann noch auf „bleibende gesellschaftliche Veränderung“. „Christsein“ hat ja durchaus auch andere Reaktionen der Gesellschaft hervorgerufen, wie die Bibel uns unterrichtet. Irgendwie muss ich die ja auch in diesem Konzept („muss“ „bleibende Veränderung ..“) berücksichtigen. Rechter Optimismus sollte eine rechte Grundlage haben. „Die Gesellschaft verändern“ hat das einen rechten Grund in der Bibel? und verstärkend wäre noch: „Hat der Christ den Auftrag die Gesellschaft zu verändern im Sinne eines „muss“? Lutz PS: Also ich habe schon zur Kenntnis genommen, dass es nicht zum Hauptanliegen des Autors gehört ausgerechnet zu diesem Thema eine biblisch-theologische Diskussion zu führen –… Weiterlesen »

Roderich
12 Jahre zuvor

@Lutz,
Ich denke, gesellschaftliche Veränderung ist wünschenswert – von „muessen“ kann man wohl nicht reden, denn wir haben das nicht in der Hand.

Es ist aber ein Indikativ: Ihr SEID das Licht der Welt / Salz der Erde. Es ist also immer unsere Aufgabe, uns dieses Anspruchs dieser „Normalzustandsbeschreibung“ zu stellen.
Ob „die Gesellschaft“ ( man sollte lieber sagen, diese Nation, bzw. die Menschen) das Evangelium bzw Gott auch annehmen wollen, haengt ja von mehr Faktoren ab als von den Christen (z.B. Gottes souveräner Entscheidung, von der Entscheidung der Menschen, etc)
Christsein kann auch zu einer Verfolgung führen.

Roderich
12 Jahre zuvor

Hier noch ein guter Artikel zu der Frage, warum Europa heute eine neue Reformation braucht:

(Von Peter Hammond: „What is Happening to Europe“).
http://www.frontline.org.za/articles/What_is_Happening_to_Europe.htm

Bei http://www.frontline.org.za/articles.htm bei dem Unterabschnitt „Reformation and Revival“ sind noch ein paar mehr Artikel, die das Thema Reformation heute behandeln. Zwar aus suedafrikanischer Sicht, aber die Probleme sind die gleichen (Humanismus, Hedonismus, Atheismus, Relativismus, Islam, etc.)

12 Jahre zuvor

[…] Auf TheoBlog geht Ron Kubsch auf das Buch von Greg Gilbert „Was ist das Evangelium?“ ein. Mir scheint, dieses Buch von Gilbert verteidigt die These, dass Evangelium = Plan der Erretung ist. Kubsch fasst einen Abschnitt zusammen, in dem die „Transformative Theologie“ von Greg Gilbert in einem kritschen Licht betrachtet wird. […]

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