Emerging Church

»Emerging Church«: Wie geht es weiter?

Dan Kimball resümiert in seinem Blog über die fünf Jahre seit dem Erscheinen seinen Buches: Emerging Church. Zu lesen sind erstaunliche Bekenntnisse wie:

Ich kann inzwischen nicht mehr verteidigen oder gar theologisch erklären, was jetzt gemeinhin als »Emerging Church« bekannt ist, denn es haben sich zu viele signifikant unterschiedliche theologische Ausrichtungen entwickelt. Einigen würde ich hart widersprechen …

Hier der erste von weiteren noch kommenden Beträgen: www.dankimball.com.

Carson spricht über den Einfluss des Postmodernismus auf das Christentum

D.A. Carson referierte in diesem Sommer in Singapore in der St. John-St. Margaret Church über den Einfluss des Postmodernismus auf das Christentum. Mitschnitte der Veranstaltung können als MP3-Dateien herunter geladen werden:

Anmerkung: Ein Download der Dateien kann aufgrund der schlechten Serveranbindung verhältnismäßig lang dauern.

Die Herausforderung der Postmoderne-Diskussion für die Theologie der Gegenwart

Matthias Schnell-Heisch hat 1995 in Tübingen bei Hans Küng und Eberhard Jüngel über das Thema »Die Herausforderung der Postmoderne-Diskussion für die Theologie der Gegenwart« promoviert. Die 1994 eingereichte Arbeit verarbeitet viel Primärliteratur und ist, wie das Inhaltsverzeichnis zeigt, noch frei von Schablonen, die sich seit Mitte der 90er Jahre (Middleton & Walsh, 1995 u. Grenz, 1996) in der amerikanisch-evangelikalen Literatur verfestigt haben.

Schnell-Heisch fasst seine Arbeit wie folgt zusammen:

• Der Erste Hauptteil der Arbeit hat die Aufgabe, die Genese des Begriffs »Postmoderne« innerhalb der verschiedenen Bereiche der Kultur (»Architektur«, »Literaturwissenschaft«, »Philosophie« und »Soziologie») nachzuzeichnen, die wichtigsten Postmoderne-Konzeptionen vorzustellen, die Beziehungslinien zwischen den verschiedenen Sektoren herauszuarbeiten und eine kritische Analyse der einzelnen Positionen vorzunehmen, um erstens einen detaillierten Überblick der Diskussion zu gewinnen und zweitens eine fundierte Grundlage für die theologische Postmoderne-Diskussion zu erarbeiten.

• Der Zweite Hauptteil ist ganz der theologischen Postmoderne-Diskusssion gewidmet. Wie im Ersten Hauptteil sind auch hier Darstellung und Kritik voneinander getrennt: Nach der Darstellung der drei thematischen Schwerpunkte (»Christlicher Glaube im Pluralismus»; »Dekonstruktion», postliberale Theologie, Ästhetisierung der Religion«; »Postmoderne Theologie als ganzheitliche Theologie«), die sich in der theologischen Diskussion herauskristallisieren, schließt sich auch hier in einem vierten Kapitel eine Kritik der theologischen Postmoderne-Diskussion an.

• Im Epilog wird dann der Versuch unternommen, die theologische Postmoderne-Diskussion zu bilanzieren und Prospektiven für die Theologie zu entwickeln. Das Anliegen besteht aber weder darin, die verschiedenen theologischen Konzepte zu synthetisieren, noch darin, eine weitere theologische Postmoderne-Konzeption zu entwickeln. Vielmehr wird hier nach den Chancen und Grenzen der einzelnen Beiträge zur theologischen Postmoderne-Diskussion gefragt und die bleibenden Herausforderungen der Postmoderne-Diskussion für Theologie und Kirche benannt.

Freundlicherweise hat Matthias Schnell-Heisch seine Dissertation inzwischen im Internet publiziert. Sie kann hier in Form von mehreren PDF-Dateien herunter geladen werden: www.schnell-heisch.de.

Das Christentum ist eine emanzipatorische Erzählung

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Für den Philosophen James K. A. Smith ist die in evangelikalen Kreisen verbreitete Lesart der Lyotardschen Metaerzählung ein Mißverständnis. Eine sorgfältige Untersuchung dessen, was Lyotard zum Metanarrativ geschrieben habe, könne zeigen, dass Lyotards Kritik der großen Erzählungen das Christentum überhaupt nicht treffe. Im Gegenteil: Christen sollten in Lyotard nicht einen Gegner sondern einen Verbündeten sehen. So gibt Smith mit seiner These der »Emerging Church« bedeutende Inspirationen.

In einer kleinen Untersuchung bin ich der Frage nachgegangen, ob sich Smith tatsächlich auf François Lyotard berufen kann. Das Ergebnis überrascht, da der französische Philosoph ausdrücklich das Christentum als große Erzählung bezeichnet und verarbeitet. Lyotard greift auf Albert Camus zurück, ohne ihn ausdrücklich zu nennen. Camus behauptet in Der Mensch in der Revolte, dass der Marxismus eine säkularisierte Figur der christlichen Teleologie ist. Für den Philosophen des Absurden stammt die Geschichtsphilosophie überhaupt aus dem jüdisch-christenlichen Weltbild. »Die Christen haben als erste das menschliche Leben und die Folge der Ereignisse als eine Geschichte angesehen, die sich von einem Ursprung einem Ende entgegen entwickelt und während welcher der Mensch sein Heil gewinnt oder sich seine Strafe verdient. Die Philosophie der Geschichte ist aus einer christlichen Vorstellung entsprungen …« (Camus, Der Mensch in der Revolte, S. 16).

Lyotard kann dieser Geschichte von der Emanzipation des Menschen wenig abgewinnen. »Das im römischen Weltreich zu tragender Bedeutung gekommene christliche Denken versucht nicht von ungefähr, seit Augustin, die Erlösungsverheißung als die Geschichte (großgeschrieben), als große Erzählung, zu verriegeln« (Lyotard & Gruber, Ein Bindestrich zwischen Jüdischem und Christlichem, S. 108). So kann nach Lyotard das Christentum im Sinne von Paulus und Augustin der Menschheit nur Gewalt antun.

Die kleine Untersuchung ist freundlicherweise von Richard McClary ins Amerikanische übersetzt worden und kann hier herunter geladen werden: mbstexte093.pdf. In deutscher Sprache gibt es den Text auch: mbstexte085.pdf.

Korrespondenz zwischen Tony Jones & Collin Hansen

Christianity Today publiziert einen Briefwechsel zwischen Tony Jones und Collin Hansen über reformiertes und emergentes Christsein. Hansen, der für Christianity Today arbeitet, stellt die reformierte Sicht dar und versucht eine inhaltliche Diskussion in Gang zu bringen. Jones, Koordinator des Emergent Village und Mitherausgeber des Buches An Emergent Manifesto of Hope, hat sich allerdings (wieder einmal) für die Beziehungsebene entschieden. Dieses »Hauptsache wir sind nett zueinander und bleiben im Gespräch« kann ja Mal sehr entspannend und erfrischend wirken. Auf die Dauer ist es langweilig, unproduktiv und frustrierend.

Hier die Links auf dies ersten beiden Beiträge des Austausches: Tag 1, Tag 2. Entwickelt sich vielleicht doch noch eine inhaltliche Debatte?

Christus und die Kultur – aus der Sicht von D.A. Carson

D.A. Carson’s Christ and Culture Revisited (Grand Rapids: Eerdmans, 2008) kann jetzt über den Buchhandel bestellt werden. Das Inhaltsverzeichnis und Vorwort zu dem Buch, das an Richard Niebuhr’s Christ & Culture anknüpft, ist als PDF hier abrufbar: www.wtsbooks.com.

Carson’s Auseinandersetzung mit der Emerging Church (original im Jahr 2005 erschienen als: Becoming Conversant with the Emerging Church) soll in wenigen Wochen in einer deutschen Übersetzung bei CLV erscheinen. Vorbestellungen sind möglich: www.amazon.de.

Emerging Church – eine Kartografie

emch_topo1.jpgTypologien für die Emerging Church werden immer wieder Mal vorgeschlagen (z.B. von Scot McKnight o. Mark Driscoll). Michael Patton von Reclaiming the Mind hat vor einigen Tagen zwei ›Landkarten‹ publiziert, die ein sehr geteiltes Echo finden (vgl. die Diskussionen bei Michael Patton, Scot McKnight und dem Emergent Village).

emch-topo2.jpgDie erste Abbildung zeichnet die Bewegung im Spannungsfeld von Konservatismus und Liberalismus. Die zweite Karte illustriert Standpunkte und Wirkungsbereiche konkreter Personen.

Kann man N.T. Wright zur Emerging Church zählen? Ich würden ihn eher als postevangelikalen oder postliberalen Vordenker einordnen.

Ich biete die Abbildungen in einer deutschen Version hier als PDF-Dateien an: emch-topo1.pdf und emch-topo2.pdf.

Erleuchtung durch integrale Spiritualität?

Nicht nur die Theorie der Spiral Dynamics von Don Beck und Chris Cowan genießt in Emerging Church-Kreisen hohes Ansehen, auch Ken Wilber ist mit seiner integralen Spiritualität ein einflussreicher Impulsgeber für namhafte Repräsentanten des emergenten Christentums (z.B. für Brian McLaren und Rob Bell).

Wilbers Arbeiten erinnern stark an eine philosophia perennis, die diejenigen Grundwahrheiten zusammenfassen will, die allen Völkern und Religionen eigen sind. Beim Lesen einiger seiner Texte hatte ich zuweilen den Eindruck, man könnte das »emergente Evangelium« als eine christliche Lesart seiner esoterischen Selbsterlösungslehre auffassen. Kurz: Kann man das »emergente Evangelium« in die evolutionäre Bewusstseinsphilosophie von Wilbers rückübersetzen? (Natürlich gibt es das emergente Evangelium nicht. Ich verwende diesen Namen als unscharfe Metapher.)

Hier ein Zitat aus dem Vortrag »Was ist integrale Spiritualität?« (S. 51–52), indem Ken Wilber eine westlich-christliche Variation der Erleuchtung beschreibt (er hätte auch eine östlich-zen-buddhistische wählen können):

Nehmen Sie eine Erfahrung des subtilen Zustandes von intensivem inneren Licht, begleitet von einem Gefühl von universeller Liebe. Sagen wir, diese Person ist westlich und christlich, so dass der linke untere Quadrant (der auch intensiv daran beteiligt ist, den Kontext für die Interpretationen zu liefern) diese Erfahrung von innerem Licht als Begegnung mit Jesus Christus (oder dem Heiligen Geist) darstellt. Diese Erfahrung des subtilen Bereiches kann auf nahezu jeder Stufe vorkommen – der magischen, mythischen, rationalen, pluralistischen oder integralen – aber in jedem Fall wird sie entsprechend den grundsätzlich begrenzenden Prinzipien der Stufe interpretiert. Deshalb (um einige schnelle und stilisierte Beispiele zu geben) wird auf der magischen Stufe Jesus als personaler Retter erfahren, der auf magische Weise die Welt ändern kann, um all meine Wünsche und Ziele zu erfüllen. Jesus als Magier verwandelt Wasser in Wein und speist 5000 Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen, geht auf dem Wasser (wir sprechen nicht von dem ontologischen Gehalt dieser Interpretationen, wenn es ihn gibt. Jesus kann auf dem Wasser gegangen sein oder nicht, aber auf dieser Stufe ist es das, was mir am meisten bedeutet). Die Stufe ist prä-konventionell und egozentrisch, dieser Jesus liebt daher nur mich. Auf der nächsten, der mythischen Stufe, wird die gleiche Form der subtilen Energie vielleicht interpretiert als Vereinigung mit Jesus, dem Überbringer der Ewigen Wahrheit. Diese Stufe ist absolutistisch in ihrem Glauben, so dass du das Wort entweder genauso glaubst, wie es geschrieben steht, oder du wirst für immer in der Hölle schmoren. Diese Stufe ist auch ethnozentrisch, so dass nur die, die an Jesus Christus als persönlichen Erretter glauben, errettet werden können. Auf der nächsten Stufe, der mental-rationalen, wird Jesus zu einer vermenschlichten Figur, immer noch völlig göttlich und völlig menschlich, aber nun völlig menschlich in einer glaubhafteren Weise, als ein Lehrer der universellen Liebe eines deistischen Gottes (der die Principia Mathematica gelesen hat und weiß, wo die Grenze zu ziehen ist). Weil diese Stufe der Beginn der postkonventionellen und weltzentrischen Stufen ist, ist dies auch die erste Stufe der Entwicklung, die Erlösung durch Jesus Christus finden kann, aber auch erlaubt, dass andere möglicherweise ebenfalls dieselbe Erlösung auf einem anderen Weg finden können.

Der vollständige Vortrag von Ken Wilber kann in einer deutschen Übersetzung hier herunter geladen werden: Ken_Wilber_-_Was_ist_integrale_Spiritualitaet__IF_UEbersetzung.pdf.

Ist unsere Gesellschaft postmodern?

Mike Bischoff hat kürzlich in einem Post sein Verständnis von Postmoderne auf konstruktive und hilfreiche Weise präzisiert. Ich kann mich in den wesentlichen Aussagen sowohl Sebastian Heck als auch Mike anschließen. Ich vertrete bekanntlich in Anlehnung an Zima und Kamper einen zwiespältigen Epochebegriff: Die Postmoderne ist »sowohl als Bruch mit der Moderne als auch als deren Fortsetzung mit neuen Mitteln« lesbar. Sie war – wie Jean-François Lyotard sagt – bereits in die Neuzeit eingeschlossen.

Die Postmoderne situiert sich weder nach der Moderne noch gegen sie. Sie war in ihr schon eingeschlossen, nur verborgen.

Von daher beobachte ich mit Skepsis, wie so manche EmCh’ler die Fehler der »modernen« Kirchenvertreter wiederholen. Sie assimilieren sich an den Postmodernismus, der – habe ich Recht – radikalisierte Moderne ist. Wen wundert es, dass man als Beobachter dabei auf den Gedanken kommen kann, dass die Konsequenzen fataler sein könnten, als die der neuzeitlichen Kirchen­ge­schichte? (An dieser Stelle der Hinweis, dass Dirk Seifert den Epocheanspruch der Postmoderne in einer Ausarbeitung aus christlicher Sicht kritisch hinterfragt.)

Jetzt aber zu Mike’s Thema: Ist unsere Gesellschaft postmodern?

Ich bin ebenfalls der Auffassung, dass der harte Postmodernismus in Deutsch­land nicht wirklich angekommen ist. Die Gründe dafür sind sehr vielfältig. Meines Erachtens hängt es mit der Frankfurter Schule (Michel Foucault bekannte in seinen späten Jahren die Verwandschaft seiner Ideen mit denen der Kritischen Theorie), dem sehr hohen Stellenwert der ›harten‹ Naturwissenschaften in Deut­schland und dem Einfluss von Jürgen Habermas zusammen (der vor der neuen Unübersichtlichkeit gewarnt hat und als »Hüter der Rationalität« darauf beharrt, dass Fragen der Begründbarkeit von solchen bloßer Gewohnheit oder Vorlieben zu unterscheiden sind).

Trotz dieses Widerstandes schätze ich jedoch die Lage ähnlich wie Mike ein: In vielen Bereichen unsere Gesellschaft etabliert sich ein ›softes‹ postmodernes Denk- und Lebensklima. Die Lebenskultur ist postmodern aufgeladen. Die Umprägung der Gesellschaft geschieht sanft über den Zeitgeist (TV, Kino, Werbung, Literatur etc.), die Besetzung von Schlüsselstellen mit PoMo-Leuten und zunehmend auch über (bildungs)politische und gesetzgeberische Maßnahmen. Bettina Röhl, eine Tochter von Ulrike Meinhof, spricht im Blick auf die postmoderne Politik des Gender Mainstreaming vom kompletten Umbau der Gesellschaft und Neuerfindung der Menschheit.

In der FAZ vom 4. Januar 2008 (S. 36) habe ich wieder ein interessantes Beispiel für die Aktualität des Themas gefunden. Walter Grasnick, Oberstaatsanwalt a. D. und emeritierter Honorarprofessor für Strafrecht und Rechtsphilosphie in Marburg, veröffentlicht dort einen Beitrag mit dem Titel »Wie Richter richtig richten«.

Grasnick fragt:

Was tun Richter? Sie sprechen Recht. Nur: Was das heißt, wissen die wenigsten. Selbst unter den Richtern. Auch in der Rechtstheorie und Juristischen Methodenlehre herrscht darüber keine Klarheit. Meist werden nicht einmal die richtigen Fragen gestellt.

Nach einem Schwenk über Niklas Luhmann kommt er dann zu folgender Einsicht:

Rechtslehre und Rechtspraxis arbeiten von alters her gesetzeszentriert. Zum Schein, den sie freilich in der Regel selbst nicht durchschauen. Und so geben sie denn regelmäßig gutgläubig vor, sie wendeten nur das Gesetz an, während es sich doch in Wahrheit um ihre Interpretation des Gesetzes handelt. Und die ist nun mal ein anderer Text als der Gesetzestext. Die vielbeschworene Gesetzesbindung des Richters entpuppt sich somit als Selbstbindung, das heißt als Bindung an den selbstgeschriebenen Text der ureigenen Interpretation. Rechtsarbeit ist Textarbeit, Arbeit am eigenen Text mit Hilfe fremder Texte. Diese dienen dem Richter als Referenztexte beim Verfertigen der Begründung seiner Entscheidung.
Das Gesetz ist hier nicht mehr als ein Topos unter Topoi. Zugegebenermaßen noch immer der Haupttopos. Aus allerdings nicht unbedenklichen Gründen. Denn kein Gesetz vermag es, die richterliche Entscheidung zu determinieren. Die bloße Berufung auf das Gesetz überzeugt aber die Rechtssuchenden eher als das offene Eingeständnis des Richters, sein Urteil basiere letztlich auf seiner Überzeugung. Doch mehr als Rechtsmeinungen sind nirgends zu haben.
Wer sich jedoch dazu bekennt, dass unser Recht notwendig Richterrecht ist, sieht sich sattsam bekannten Anwürfen ausgesetzt. Dann sei alles purer Subjektivismus, blanke Beliebigkeit und schrankenlose Willkür. Den Vorwurf des Subjektivismus kann jedoch nur erheben, wer der subjektiven Illusion des Objektivismus erlegen ist. Die anderen Verdikte erledigen sich bei genauerem Hin­sehen.

Zu diesem Abschnitt gäbe es viel zu sagen. Ich beschränke mich auf wenige Notizen:

Wie andere das auch gern tun, präsentiert z. B. Grasnick seinen Subjektivismus als eine von allen zu akzeptierende propositionale Wahrheit. Solche Argu­mentationsfiguren tauchen in der Literatur oft auf. »Im 20. Jahrhundert haben die Geschichtswissenschaftler endlich erkannt, dass es keine historischen Wahrheiten gibt.« Oder: »Wahrheit ist immer relativ.« Solche Sätze stehen im Widerspruch zu ihrem eigenen propositionalen Gehalt. Mit diesem Relativismus-Argument hat sich schon Sokrates befasst und dem Protagorasschüler Theodorus dabei geholfen, einzusehen, dass er damit falsch liegt, weil beinahe alle Menschen es anders sehen müssen. Sokrates: »Sollten wir vielleicht sagen, dass dein Glaube für dich wahr ist, aber nicht für die unzählbar vielen Leute?« (nachzulesen in Platons Theaitetos).

Was mich mehr interessiert, ist die Tatsache, dass post-strukturalistische Hermeneutik hier nicht in einem Lehrbuch für Literaturwissenschaftler oder Philosophen erklärt, sondern von einem Staatsanwalt und Rechtsprofessor als alltägliche Prozesserfahrung beschrieben wird. Demnach schafft der Richter sich selbst die Gesetze, nach denen er dann Recht spricht, da es ›den Text‹ gar nicht gibt, sondern nur jeweils subjektive Textinterpretationen. Wer darüber anders denkt, ist »der subjektiven Illusion des Objektivismus« erlegen.

Es ist ja irgendwie beruhigend, dass Walter Grasnick offensichlich seinen Lesern zutraut, dass sie aus seinem Essay annähernd herauslesen können, was er als Autor intendiert. Und: Ganz so, wie er es beschreibt, wird es wohl nicht sein, da Gerichte öffentlich und Urteile überprüfbar sind. Ein Richter muss sich also zumindest auch mit den Textinterpretationen der Anwälte, denen anderer Richter und potentieller Kommentatoren auseinandersetzen, bevor er sein Urteil spricht. Eine subjektive Komponente bei der Gesetzesanwendung sieht das Rechtssystem ja bewußt vor, ohne das diese gleich in einen Subjektivismus oder gar in Willkür führen muss.

Doch: Die »alltägliche Rechtspraxis« verrät viel über eine Gesellschaft und prägt diese zugleich. Wenn Grasnick spiegelt, was sich in den Gerichten abspielt (was er, wäre er seiner eigenen Argumentation treu, nicht könnte), würde dies zeigen, wie tief inzwischen der Dekonstruktivismus eines Derrida und der Professoren von Yale in die Gesellschaft eingedrungen ist.

So komme ich zum Schluss nochmals auf die Frage zurück, die Mike bewegt (und ich sehr schätze): Wie soll angesichts der postmodernisierten Menschen um uns herum Gemeindearbeit ausschauen? Ich frage: Was machen wir mit Menschen, die (›weich‹ oder ›hart‹) davon ausgehen, dass es jenseits subjektiver Interpretationen nichts gibt? Assimilieren wir uns? Oder müssen wir Ansätze wie zum Beispiel den der radikalen Dekon­struktion aufbrechen, damit die Menschen der Anspruch des Evangeliums überhaupt noch hören können?

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Download des Beitrags als PDF: wiepostmodern.pdf

 

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