Hans Joachim Iwand: Glaube und Werke

Hans Joachim Iwand schreibt über Glaube und Werke bei Luther (Glaubensgerechtigkeit, Gesammelte Aufsätze II, 1980, S. 84–86):

Gerade weil das Gesetz tötet [vgl. 2Kor 3,6], stellt es den Christus erst recht heraus als „den Tod des Todes“, als den Sieger über Tod und Hölle. Darum sagt Luther: „Die evangelische Verzweiflung, zu der das Gesetz hintreiben soll, ist nicht böse und bleibt nicht immer, sondern sie macht gleichsam Bahn für den Empfang des Christusglaubens, wie geschrieben steht: Den Armen wird das Evangelium verkündigt.“ [Jes 61, 1; Mt 11,5 par.] Die Verzweiflung an dem eigenen Tun vor Gott ist also gerade das Gegenteil von jener Verzweiflung, die den Menschen in den Untergang treibt, zu der Verzweiflung an der Vergebung der Sünden. Denn diese „Höllenfahrt der Selbsterkenntnis“, in der der Mensch erkennt, wie es um ihn steht, bringt ihm die Wahrheit. Die bittere Wahrheit über sich selbst ist der Preis, aber die selige Wahrheit über Gott ist der Lohn. Und das ist die Frage, vor die uns Luther stellt: Ob wir meinen, ohne diese beiden Wahrheiten ans Werk gehen zu können und zu sollen. Kann denn ein auch nur irgend denkbares Mehr an Leistung diesen Mangel an Wahrheit aufheben? Wird nicht in dem aus dem Wahn geborenen Werk der Wurm stecken, der es zerfrit? Wird nicht das Werk, das diese Wahrheit im Rücken hat, ein ganz anderes sein – mag es auch nach außen hin dem Gesetzeswerk gleichen wie ein Ei dem anderen? Muß nicht der aus dem Gesetz lebende Mensch immer wieder versuchen, mit seinen Werken dem Menschen ein Denkmal zu setzen, vielleicht dem frommen, dem heiligen, dem weisen Menschen – aber eben doch dem Menschen? Verdirbt nicht diese Unterschrift: Hoc ego feci – das habe ich getan -, jedes Werk? Müßte nicht der Mensch hinter seinem Werk, wenn es wirken soll, ebenso zurücktreten in die Unsichtbarkeit wie Gott, der auch hinter seinen Werken verborgen ist [vgl. Jes 45,15]? So versteht Luther das Werk des Glaubens. Es ist nicht substantiell verschieden vom Werk des Gesetzes, aber es fehlt der Ruhm, den der Mensch darin sucht [vgl. Röm 3,27]. Denn der Glaube kann nicht leben, ohne zu wirken, aber er lebt nicht davon, daß er wirkt, sondern davon, daß Gott wirkt, daß Christus „nicht müßig ist“. 

Viele Geschichten über die eine Geschichte

Die Kinderbibel Die größte Geschichte ist inzwischen in einer deutschen Ausgabe zu haben. Die Bibel erzählt eine große Geschichte, die sich um Jesus und das Evangelium dreht. Matt Smethurst hat mit dem Autor Kevin DeYoung über das Buch gesprochen:

Es gibt 104 Geschichten, je 52 im Neuen und Alten Testament. Ich habe mich bemüht, die geläufigen Geschichten einzubauen (Noah, Abraham, David, Weihnachten, Ostern), während ich auch unbekanntere Geschichten wie die von Gehasi oder der Töchter Zelophads gewählt habe. Jede Geschichte war schwerer zu schreiben als erwartet. In einem normalen Buch kommst du in den Schreibfluss und kannst 2.000 Wörter durchschreiben, wenn es gut läuft. Aber in diesem Buch brauchte jede Geschichte (mit etwa 500 Wörtern) ihre eigene Einleitung und Zusammenfassung, ihr eigenes Thema, ihren eigenen Spannungsbogen. Ich habe Kommentare gelesen und mich durch alte Predigten gearbeitet, bevor ich das Kapitel schrieb. Ich wollte die Geschichte nicht nur erzählen, sondern sie auch beibringen – und auf eine Art ist das mit Leichtigkeit verbunden, aber es umschließt auch theologische Themen und biblische Erzählstränge, die viele übersehen können. Ich hoffe, dass Erwachsene das Buch ebenso lehrreich finden wie Kinder.

Mehr: www.evangelium21.net.

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Das Studium des Neuen Testaments neu aufgelegt

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Das hilfreiche Werk Das Studium des Neuen Testaments ist beim Verlag VGTG neu erschienen. Das ist eine gute Nachricht, vor allem für Theologiestudenten und Pastoren. Tanja Bitter hat den Klassiker für Evangelium21 vorgestellt: 

Wie der Titel schon erwarten lässt, handelt es sich um ein Lehrbuch, das Theologiestudenten mit den einzelnen Schritten bzw. mit wichtigen Aspekten der neutestamentlichen Exegese bekannt macht. Die Herausgeber, Heinz-Werner Neudorfer und Eckhard Schnabel, haben dafür elf weitere Theologen mit ins Boot genommen, die jeweils einzelne Kapitel beisteuern. Das Buch ist also nicht „aus einem Guss“, sondern ein Sammelband mit Beiträgen unterschiedlicher Autoren.

Im Eröffnungskapitel vermitteln die beiden Herausgeber einen Überblick über Die Interpretation des Neuen Testaments in Geschichte und Gegenwart. Dabei verweisen sie unter anderem auf die problematischen Denkvoraussetzungen der historisch-kritischen Exegese sowie deren Ergebnisse: „Die historische Kritik hat in vielen Haupt- und Nebenfragen eine Vielfalt einander widersprechender Ergebnisse hervorgebracht“ (S. 23). Diese Erkenntnis ist durchaus in der Fachwelt angekommen (vgl. bereits Albert Schweitzers Untersuchung der Leben-Jesu-Forschung), obwohl das historisch-kritische Vorgehen nach wie vor als unverzichtbar gilt. Vor diesem Hintergrund schwankt die Auslegung mittlerweile zwischen Ratlosigkeit und Experimentiergeist. Wo sich kaum mehr etwas mit Sicherheit sagen lässt, ist der Ausleger in seiner Subjektivität gefangen und die Bibel wird zu einem Buch ohne ermittelbare Botschaft.

Demgegenüber verfolgen die Herausgeber eine Hermeneutik, „die dem Charakter der Bibel gerecht wird, … die sich der (An-)Erkenntnis Gottes des Schöpfers, Richters und Erlösers beugt und den Offenbarungsanspruch der Bibel als Wort dieses Gottes anerkennt“ (S. 25). Das schließt gründliche grammatisch-historische Forschungsarbeit nicht aus, sondern ein, denn Gott hat uns sein Wort im Kontext einer realen historischen Situation und in konkreter literarischer Form gegeben.

Mehr: www.evangelium21.net.

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The Seoul Statement

Im Rahmen des 4. Lausanner Kongresses, der Südkorea veranstaltet wurde, ist ein theologisches Statement veröffentlicht worden. Wie angekündigt, sind zwei Abschnitte zur Medienkritik enthalten, die ich hier in einer provisorischen Übersetzung wiedergebe: 

91. Wir erkennen an, dass Medientechnologien die Leichtigkeit, mit der Menschen getäuscht werden können, erhöht haben. Wir bedauern die Tatsache, dass Christen bei der Nutzung dieser Technologien nicht immer „auf geheime und schändliche Wege verzichtet“ oder der Versuchung widerstanden haben, ihr Publikum zu täuschen oder die Botschaft des Evangeliums zum persönlichen Vorteil zu verfälschen. Stattdessen müssen Christen die Menschen an die erste Stelle setzen und ihre Geschichten wahrheitsgemäß erzählen und so die Kraft des Evangeliums in ihrem Leben bezeugen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass ein solcher Einsatz von Medien und Kommunikationstechnologien durch die Wahrhaftigkeit untermauert wird, die in dem Evangelium selbst zu finden ist, das weitergegeben wird (2Kor 4,2).

92. Wir sind uns bewusst, dass viele Christen, insbesondere junge Menschen, von sozialen und digitalen Medien abhängig sind und von ihnen regelrecht „gejüngert“ werden, weil sie unverhältnismäßig viel Zeit mit der Nutzung solcher Technologien verbringen. Wir erkennen auch an, dass digitale Technologien zwar oft für das Wachstum der Kirche und für evangelistische Zwecke genutzt wurden, die Bemühungen, dasselbe für die Jüngerschaft zu tun, jedoch hinterherhinken. Wir rufen daher alle Kirchen und Führungskräfte dazu auf, Technologien des digitalen Zeitalters für die Jüngerschaft zu einzusetzen. Wir fordern eine treue Präsenz in digitalen Räumen, eine treue Kontextualisierung durch vernetzte Geräte, eine treue Vermittlung digitaler Kompetenzen und eine treue Praxis der Gastfreundschaft, um gesunde Nutzungsgewohnheiten zu fördern.

Hilfreich. Gerade die Betonung der Wahrhaftigkeit gefällt mir. Und doch fehlt mir eine Beschreibung der Grenzen, die uns die Technik beim Jüngerschaftstrainig setzt. Meine Meinung: Technologien können nur sehr bedingt das Jüngerschafttraining fördern. Viel wichtiger sind die Begegnungen von Angesicht zu Angesicht. Hilfreich kann dazu die Anklageschrift Wir amüsieren uns zu Tode: Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie von Neil Portman sein. Er hat schon 1985 die Grenzen der Medientechnologien deutlich benannt. 

Hier kann das gesamte The Seoul Statement eingesehen werden: lausanne.org/statement.

John Warwick Montgomery (1931–2024)

Am 25. September 2024 ist John Warwick Montgomery heimgegangen. Montgomery war nicht nur ein exzellenter Anwalt, er war vor allem ein scharfsinniger, lutherischer Apologet des christlichen Glaubens. Hohe Bekanntheit erlangte er innerhalb der christlichen Szene durch seine Konfrontationen mit Cornelius Van Til. Während Van Til als Pionier der tranzendentalen Apologetik gilt, machte sich Montgomery einen Namen als evidenzbasierte Apologet (vgl. hier).

Vor etlichen Jahren habe ich Montgomery bei der Realisation einiger seiner Buchprojekte unterstützt, darunter der Tractatus logico-theologicus, Christ as Centre and Circumference und Christ Our Advocate [#ad]. In der Zusammenarbeit mit ihm konnte ich viel lernen, vor allem Akribi.

In Erinnerung an John Warwick Montgomery möchte ich nochmals veröffentlichen (vgl. hier), wie er sich an eine Vorlesung von Karl Barth erinnerte:

Barth in Chicago

Als ehemaliges Mitglied der theologischen Fakultät der Universität von Chicago besuchte ich vom 23. bis zum 27. April 1962 die Vorlesungen und Diskussionen von und mit Karl Barth. Ich hatte beträchtliche theologische Erwartungen, verließ die Veranstaltung jedoch auf sehr zwiespältige Weise bewegt.

Positiv betrachtet kann man Barth die stärkste, klarste Darstellung des Evangeliums zuschreiben, die es an der Universität von Chicago je gegeben hat. Ohne jegliche Entschuldigung oder anspruchsvolle Sinnverschleierung predigte Barth eine treffende, auf objektive Weise Christus in den Mittelpunkt stellende Botschaft von Gottes barmherziger Annahme des sündigen Menschen durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes.

Eine solche Botschaft hätte in keinem größerem Kontrast zu Chicagos theoogischer Fakultät stehen können, die ihrer „Divinity School“ schon in frühen Zeiten der Universitätsgeschichte durch ihre sozialgeschichtliche Interpretationsmethode des Christentums einen Namen gemacht hatte. Diese Methode wurde hauptsächlich von Shailer Mathews, Shirley Jackson Case, G.B. Smith, und J.M.P. Smith entwickelt und vertritt im wesentlichen die Meinung, dass
„Religion vor allem ein Phänomen des sozialen Erlebens eines bestimmten kulturellen Zeitalters“ ist, so die Bescheibung eines derzeitigen Mitgliedes des theologischen Fachbereiches, Bernard Meland. Barths Auffassung zufolge, die sich durch seine Kirchliche Dogmatik hindurch zieht, dürfe man das Christentum nie als „Religion“ in diesem Sinne bezeichnen, denn letztendlich ist es nicht das Produkt sozialer Erfahrungen des Menschen, sondern vielmehr das Ergebnis des offenbar gewordenen Wirkens des Wortes Gottes. Als Antwort auf eine Diskussionsfrage, gestellt von Schubert Ogden (ehemals tätig an der SMU und nun ebenfalls an der Universität von Chicago), entgegnete Barth:

Es ist stets eine meiner primären Absichten gewesen, die Eigenständigkeit der Theologie gegenüber der Philosophie und somit auch gegenüber dem zugehörigen Feld der Religion deutlich zu machen.

In einem theologischen Umfeld, das beständig von einer Verwirrtheit im Bezug auf besondere und allgemeine Offenbarungen geprägt ist, erschien Barth wie ein wiedererstandener George Fox, der ausruft „Wehe dir, elende Stadt Chicago“.

Doch unglücklicher Weise scheint die Wirkung der Verkündigung Baths durch seine andauernde Vernachlässigung angemessener erkenntnistheoretischer Theologie teilweise zunichte gemacht. Dieses Problem wurde von Jakob Petuchowski, einem Mitglied des „Hebrew Union College“, aufgegriffen, der in aller Aufrichtigkeit fragte, ob das Herantragen des christlichen Evangeliums an die Juden nicht das Einbeziehen eben jener textuellen und historischen Annahmen fordere, die Barth für gewöhnlich als irrelevant in Bezug auf die zentrale Verkündigung des Christus abwertet. Dieser Sachverhalt wurde umso schmerzhafter deutlich, als Edward John Carnell, ein neo-evangelikaler Vertreter, folgende Frage an Barth richtete: „Inwiefern bringt Dr. Barth seinen Standpunkt, dass die Schrift das objektive Wort Gottes ist, mit seiner Annahme, dass die Schrift mit Fehlern besudelt ist, theologisch, historisch oder sachlich in Einklang?“ Barth verbat sich zu Recht den Gebrauch des Ausdruckes „besudelt“ im Bezug auf seine Position, seine Antwort griff jedoch nicht den Kern der Frage auf, nämlich den Gegenstand angeblicher „theologischer Fehler“ in der Schrift. Dass Barth genau das frei heraus anerkennt, wurde in seiner Antwort auf eine andere Frage Carnells deutlich. Carnell stellte Barths Ablehnung, die ontologische Existenz des Teufels anzuerkennen, in Frage, und bezog sich in diesem Zusammenhang auf das bekannte Zitat Billy Sundays: „Aus zwei Gründen glaube ich daran, dass der Teufel existiert: Erstens, weil die Bibel es sagt, und zweitens, weil ich schon mit ihm zu tun hatte“. Barth konterte, dass die Einstellung Jesu und der Schreiber der Evangelien hinsichtlich der Existenz des Teufels nicht Grund genug sei, diese zu bejahen; eine Aussage die ihm Applaus von Seiten der Divinity School einbrachte.

Keine 20 Minuten später jedoch stellte Barth eine sehr detaillierte (und tadellose) Analyse der exakten Bedeutung des griechischen Ausdrucks „hypotassesthai“ in Römer 13,5 vor, und deutete an, dass dieser Abschnitt das „bewusste Mitwirken an gesellschaftlichen Ordnungen“ für den Christen zur Pflicht mache. Aber wieso sollte man sich bemühen, irgendein neutestamentliches Wort auf seine vollständige theologische Bedeutung hin auszulegen, wenn die eindeutige Position des Evangeliums zur Existenz des Satans schlichtweg abgetan werden kann? In gleicher Weise bot Barth in seinem abschließenden Vortrag über den Heiligen Geist keine Erörterung der Gegenwart des Geistes dar, sondern lediglich das vage Bild „menschlicher Freiheit“, denn „der Wind weht, wo er will“. Doch der Gebrauch der physischen Analogie erfordert die Fähigkeit, objektiv zwischen einer mit Kohlenstoffdioxid durchdrungenen Atmosphäre und einer, die mit Kohlenstoffmonoxid verunreinigt, ist zu unterscheiden.

Nicht-Christen auf der Suche nach Wahrheit, die sich im akademischen Publikum befanden, konnten nicht viel anders, als daraus zu schließen, dass es letztendlich Barths persönliche Vorliebe ist, die für ihn theologische Wahrheit ausmacht – und, dass sie somit jedes Recht dazu hatten, „seine“ Theologie lediglich als eine weitere Möglichkeit unter den zahlreichen existierenden Behauptungen unserer Zeit, von Alan Watts Zen hin zu Satres Existenzialismus, zu sehen.

Barths Vorträge in Chicago wiesen dieselben Stärken und Schwächen auf, die sich auch in seinem epochalen Kommentar zum Römerbrief von 1919 wiederfinden: starke Verkündigung, aber die Weigerung, die Quelle dieser Verkündigung erkenntnistheoretisch zu rechtfertigen. Aber in einer Zeit, in der ein Mangel an mutiger, kerygmatischer Verkündigung herrscht, sollte Barths Einsatz nicht abgewertet werden. Die Hymne Mozarts, die für die Eröffnungsfeier der Vortragsreihe ausgesucht worden war, hatte einen passenden Liedtext: „Laudate Dominum, Quoniam confirmata est supernos misericordia ejus, et veritas Domini manet in aeternum …“ [„Lobet den Herrn, denn seine Barmherzigkeit ist befestigt über uns und die Wahrheit des Herrn bleibt in Ewigkeit …“].

Prof. Dr. Dr. John Warwick Montgomery

Die Übersetzung und Wiedergabe des Beitrages erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Autors. Übersetzt wurde der Text freundlicherweise von Daniela Stöckel. Der originale Beitrag stammt aus dem Buch: John Warwick Montgomery, The Suicide of Christian Theology, Newburgh, IN: Trinity Press, 7. Aufl. 1998, S. 191–193.

Eduard Thurneysen: Die enge Pforte

Kürzlich habe ich hier auf eine Konferenz zu Eduard Thurneysen verwiesen. In den THEOLOGISCHEN BEITRÄGEN (Ausgabe 24/4, Jg. 55, August 2024, S. 218–226, hier S. 225) bin ich nun noch auf eine Predigt zu Lukas 15,3–7 von Thurnseysen gestoßen, die einen sehr herausfordernden Abschnitt enthält. Kurz: Das Christentum und die Kirche stecken nicht erst heute in der Krise.

Thurneysen predigte 1920: 

Wir sind schon, ob wir es wissen oder nicht, an den Rand hinausgedrängt, wo es zu Ende geht mit allem Menschenwitz. Wir sind schon tief hineingeführt in Unsicherheit und Erschütterung und Untergang. Unsere Zeit steht ja mitten drin. Was wollen wir noch lange Umschweife machen und Auswege suchen? Wir müssen hindurchgehen durch den Zusammenbruch. Wir müssen die Augen auftun und aufrichtig werden.

Wir müssen uns vor die Einsicht stellen: nur Gott kann noch helfen! Also wollen wir es tun. Also gehen wir diesen Weg, nicht dumpf und widerwillig, sondern als solche, die wissen: gerade dieser Weg, der Weg durch die Tiefe führt zum Ziel, aus dem Ende wird der neue Anfang geboren. Wo es zu dieser Aufrichtigkeit, dieser Demut, diesem Mut, dieser Buße kommt, da hilft Gott. Da ist nicht dumpfes Zugrundegehen, Modergeruch und Verwesung, sondern alsbald Morgenrot eines neuen Tages, der der Nacht ein Ende macht. Da zieht an das Verwesliche das Unverwesliche und das Sterbliche das Unsterbliche. Da sterben wir, aber siehe, wir leben! Da ist man freilich auf dem Grunde angelangt. Aber gerade wenn man auf den Grund kommt, findet man wieder festen Boden unter den Füßen. Oder gibt es einen festern Boden als die Gewißheit: nur Gott kann helfen, aber er kann helfen!? Dieses einfache Sätzlein will wieder wahr werden mitten in den Stürmen unsrer Zeit. Dazu sind sie über uns gekommen, dazu stehen wir draußen am Rande des Todes, im Untergang des Abendlandes.

Laßt uns die Zeichen der Zeit verstehen und darum ringen, daß Gottes neuer Boden uns unter die Füße komme. Laßt uns Buße tun! Wir wollen endlich, endlich zugeben, was wir schon lange wissen: es bedarf nicht eines neuen religiösen Auttriebes, nicht noch vermehrter kirchlicher Geschäftigkeit, nicht einer noch schlangenklugeren Auflage der alten Theologie, aber zu einem ganz neuen Fragen nach Gott muß es kommen. Es fehlt unserem Christentum nicht nur irgendwo am Rande, an der Außenseite, etwa an der Organisation und Technik seiner Kirchen, das Loch ist im Zentrum, es fehlt am lebendigen, kräftigen, heilenden und vergebenden, herausführenden und erlösenden Lebenswort Gottes. Darnach muß wieder gesucht werden von uns allen.

Deshalb braucht es nicht beredtere, gewandtere, gebildetere Pfarrer, aber, sagen wir kurz, demütigere Pfarrer, Theologen, denen es wirklich um Gotteserkenntnis zu tun ist, und denen es darum auch wenig ausmacht, um ihres aus dieser Erkenntnis fließenden und darin gegründeten kühnen, kindlichen, in den Himmel greifenden Glaubens willen die „Dümmlinge der menschlichen Gesellschaft“ zu heißen. Und nicht Gemeinden braucht es, die von ihren Predigern immer gesteigerte Leistungen verlangen, weil sie nie genug bekommen an Andacht, Erbauung und geistreichen Worten, aber Gemeinden, die mit eintreten in das Ringen um das lebendige Wort Gottes, die mitleiden unter der innern Not des Christentums und mithoffen auf den anbrechenden Gottestag der Hilfe. Es braucht gerade das, was wir heute so tief beklagen möchten: den Bankrott der Kirche, das an die Wandgepreßtsein des „Christentums“, den Stillstand unserer Missions-, unster Vereins- und Liebeswerke, den Zusammenbruch unsrer Lebensreformen, das Mißlingen unsrer Weltallianzen, damit endlich wir selber stillestehen vor Gott, damit es endlich in unsre Ohren kommen kann, was er geredet hat: „Ich bins, der Gerechtigkeit lehrt und ein Meister ist, zu helfen. Ich trete die Kelter allein und ist niemand unter den Völkern mit mir.“ 

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„Defekte Debatten“

Die Philosophin Svenja Flaßpöhler, Chefredakteuerin beim PHILOSOPHIE MAGAZIN, hat sich kürzlich in einem WELT-Interview sehr klug zur medialen Debattenkultur in Deutschland (und anderswo) geäußert. Es gehe nicht mehr darum, der Vernunft und dem besseren Argument zu folgen, sondern darum, bestimmte Positionen im Sinne eines Kampfes durchzusetzen und dabei in Kauf zu nehmen, dass Gesprächsteilnehmer vernichtet werden.

Zitat: 

Die Philosophin Elsa Dorlin beschäftigt sich in ihrem Buch „Selbstverteidigung“ mit Folterinstrumenten, die so gebaut sind, dass der Gefolterte sich umso mehr verletzt, je mehr er strampelt und zu überleben versucht. Unfaire Streitsituationen sind strukturell ähnlich: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mich als Subjekt auflöse, je mehr ich auf meiner Position beharre, je mehr ich mich behaupte. Die einzige Methode, mit der ich damals sozial überleben konnte, hieß: stillhalten. Eigentlich unerträglich für mich, aber womöglich hat es mich vor der Alternative bewahrt, die leider auch häufig ist: Dass Leute, die in eine Ecke gestellt werden, sich radikalisieren. Je aussichtsloser sie sich verteidigen, desto stärker finden sie nur noch in extremen Kreisen Anerkennung.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

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Sexroboter im Anmarsch

Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verwischen mehr und mehr, auch im Raum der Sexualität. Sexroboter sind im Anmarsch. Das erfolgreichste Produkt, Harmony X vom amerikanischen Anbieter Real Dolls, kostet rund 8000 Dollar. Die Website Bedbible meldet, es werden bereits rund 150 Sexroboter am Tag verkauft. Und laut dem Fraunhofer-Institut würde jeder fünfte Deutsche gern Sex mit einem Roboter haben. 

Ein ethische Herausforderung. Ich unterstütze die Position von Kathleen Richardson:

Indem man Menschen davon überzeugt, dass sie eine bedeutungsvolle Beziehung zu einem Stück Plastik entwickeln können, stellt man Menschen und Dinge auf eine Stufe. Dass es zwischen Menschen und Eigentum keinen Unterschied gibt, ist aber die Philosophie der Sklaverei. Diese Idee wird durch solche Technologien derzeit gerade wiederbelebt. Das ist eine ernste Gefahr, die wir als Gesellschaft angehen müssen. Deshalb habe ich die „Kampagne gegen Sexroboter“ gegründet.

Passender ist eigentlich der Begriff „Pornoroboter“. Sie sind eine pornographische Darstellung einer Frau, weswegen sie auch unter die entsprechenden Regeln fallen sollten. Das heißt, dass man sie an öffentlichen Plätzen und in der Nähe von Kindern verbietet. Ich würde es gut finden, wenn derartige Technologien sozial abgelehnt würden. Denn Sexroboter sind das Nebenprodukt einer Kultur, in der Menschen so enorm viel Pornographie konsumieren, dass es ihre emotionale und soziale Funktionsweise stört. In einer Welt, in der die Menschen mehr Zeit miteinander verbringen und harmonische Beziehungen untereinander pflegen, wären Sexroboter überflüssig. Ich plädiere deswegen für eine Politik der Liebe. Liebe ist ein biologisches Bedürfnis, angefangen bei der Bindung an die Mutter. Die Beziehungen, die Menschen zu Robotern entwickeln, bedeuten aber das Ende der Liebe. Durch die Hinwendung zu solchen Objekten wenden wir uns von unseren Mitmenschen ab. Roboter produzieren Menschen mit gestörten Bindungserfahrungen. Als hätten sie alle Hoffnung auf eine Beziehung zu einem menschlichen Wesen aufgegeben. So wird aus dem Elend der Menschen nur Geld gemacht.

Manche Leute argumentieren, dass Roboter als Ventil für schädliches Verhalten genutzt werden könnten. Etwa für Pädophile, die einen kleinen Roboter vergewaltigen sollen, der wie ein Kind aussieht. So ein Vorschlag belegt den Verfall unserer moralischen Standards. Die Gesellschaft sollte keine Artefakte produzieren, die zu diesem potentiellen Missbrauch beitragen könnten. Kinder müssen für Erwachsene tabu sein. Diese Grenze müssen wir immer aufrechterhalten.

Mehr: www.faz.net.

Ist der Papst häretisch?

Zwischen einem lockeren Gespräch und theologischen Verlautbarungen zu unterscheiden, ist eine gute Sache. Trotzdem finde ich es beunruhigend, mit was für einer Selbstverständlichkeit Redakteur Guido Horst den amtierenden Papst Franziskus verteidigt, der kürzlich wieder davon sprach, dass alle Religionen zu Gott führen und jeder Mensch ein Kind Gottes ist. Wie kann ich einem Papst vertrauen, der dies offensichtlich glaubt und dennoch hinter den Dekreten der Kirche stehen muss? Furchtbar! Zumal solche Äußerungen ja keine Versehen sind (vgl. hier und hier).

Trotzdem meint Guido Horst:

Auf Deutsch klingt der entscheidende Satz von Franziskus auf der offiziellen Homepage des Vatikans so: „Alle Religionen sind ein Weg, um zu Gott zu gelangen. Sie sind – ich mache einen Vergleich – wie verschiedene Sprachen, verschiedene Idiome, um dorthin zu gelangen. Aber Gott ist Gott für alle. Und weil Gott der Gott für alle ist, sind wir alle Kinder Gottes.“

Ja, kann man missverstehen. Besonders dann, wenn man Papst Franziskus schon seit geraumer Zeit böse Absichten unterstellt. Die „sprungbereite Feindseligkeit“, über die sich schon Benedikt XVI. beklagte, muss Franziskus besonders aus dem Lager der Konservativen und Traditionalisten erfahren. Aber bitte: einmal durchatmen und sich abregen – es war nur ein Gespräch! Kein theologischer Vortrag und erst recht kein „ex-cathedra“-Spruch. Zumal Franziskus kein Theologe, sondern ein Mann der Seelsorge ist. Er hat mit mehreren Jugendlichen gesprochen – so wie vielleicht vier vernünftige Leute in einem Zugabteil sitzen, feststellen, dass ein Hindu, ein Christ, ein Muslim und ein Buddhist zusammen sind, und anfangen, über das Miteinander der Religionen zu reden. Da wird der Christ auch nicht aufstehen und die anderen ultimativ zu Bekehrung und Taufe auffordern. 

Mehr: www.die-tagespost.de.

Tagung zum 50. Todestag von Eduard Thurneysen

Eduard Thurneysen ist einer der bedeutendsten praktischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Er war eng mit Karl Barth befreundet, wirkte als Pfarrer am Basler Münster und lehrte als außerordentlicher Professor an der Universität Basel. (Leider fehlte Thurneysen der Mut, im Blick auf die Dreier-Beziehung von Karl Barth mit Nelly und Charlotte ein Machtwort zu sprechen). Er ist einer der Väter der sogenannten „Kerygmatischen Seelsorge“ (vgl. dazu hier).

Thurneysens praktisch-theologisches Denken ist geprägt durch seine pastorale Tätigkeit, insbesondere durch Seelsorge und Predigt. Thurneysens pointierte Aussagen wurden ebenso geschätzt wie kritisiert. Der 50. Todestag Thurneysens bietet eine gute Gelegenheit, über die aktuelle und bleibende Bedeutung Thurneysens für Seelsorge, Predigt und Gottesdienst nachzudenken. 

Die STH Basel wird vom 25. bis 26. Oktober 2024 eine Tagung anläßlich des 50. Todestages veranstalten. Mehr Informationen dazu gibt es hier: sthbasel.ch.

VD: FL

Affären mit Babylon

Wie verhängnisvolle Affären mit Babylon (der weltlichen Stadt) heute aussehen könnten, thematisiert Kevin DeYoung in einem aktuellen Beitrag und fordert die Leser heraus. Wie zeigt sich Weltlichkeit praktisch?

  • Finanzieller Profit ist wichtiger als die Menschen, denen man dient, und die Prinzipien, an die man zu glauben vorgibt.
  • Sie vernachlässigen Ihre Verantwortung, den Zehnten an Ihre Ortsgemeinde zu zahlen und großzügig an Missionare, lohnende christliche Organisationen und Bedürftige zu spenden.
  • Sie verschulden sich so sehr, dass Sie nicht mehr frei sind, dem Herrn so zu dienen, wie er Sie ruft, oder großzügig zu spenden, wie er Sie führt.
  • Sie entscheiden sich, keine Kinder zu haben, weil Sie denken, dass sie zu teuer sind oder nicht zu Ihren Träumen und Ambitionen passen. (Ich sage dies in Anerkennung der Tatsache, dass viele „Wunsch-Eltern“ mit dem Schmerz der Unfruchtbarkeit zu kämpfen haben).
  • Als Arzt, Apotheker, Anwalt, Unternehmer, Werbefachmann oder Regierungsangestellter ethische Kompromisse eingehen, weil Sie befürchten, Ihr Geschäft oder Ihren Arbeitsplatz zu verlieren.
  • Sie bejahen die Zeichen und Symbole der sexuellen Revolution, damit Ihre Freunde nicht negativ von Ihnen denken.
  • Sie treffen Entscheidungen über Ihre Zukunft ausschließlich auf der Grundlage des Einkommens, das Sie erzielen können, und nicht auf der Grundlage wichtigerer Faktoren wie Dienstmöglichkeiten und Nähe zu einer gesunden Kirchengemeinde.
  • Sie opfern die Zeit, die Sie für geistliche Disziplinen, die Nachfolge in der Familie und den persönlichen Dienst benötigen, um mehr Geld zu verdienen und Ihren Besitz eindrucksvoller aussehen zu lassen.

Mehr: clearlyreformed.org.

Zensur durch einen „Bürgerrat“

Ein pseudo-repräsentatives Gremium hat Vorschläge gemacht, um Desinformationen im Netz zu bekämpfen. Das Ergebnis ist zum Gruseln. Der Grünen-Politiker Konstantin von Notz ist begeistert.

Susanne Gaschke schreibt: 

Noch fragwürdiger als die pseudorepräsentativen Bürgerräte sind die inhaltlichen Vorschläge, die nun auf die Bertelsmann-Initiative hin zustande gekommen sind. Sie laufen in vielen Fällen auf Zensur hinaus, obwohl Artikel fünf des Grundgesetzes eine solche ausdrücklich ausschliesst.

Doch was anderes als eine verdeckte Zensur wäre ein «freiwilliges, transparent gestaltetes Gütesiegel» für Medien, das jährlich aufs Neue – von welchem Gremium, mit welcher Befugnis? – vergeben würde? Welchen und von wem definierten Anti-Fake-News-Kriterien müssten unabhängige Medien zu entsprechen versuchen, um ihre Unbedenklichkeitsbescheinigung zu erhalten? Wer definiert und wie, was wirklich Desinformation und was nur missliebige, aber zu duldende Meinung ist? Wie wäre, nur als Beispiel, eine solche Definition in der Corona-Krise ausgefallen? Wie würde sie bei der Beurteilung der «richtigen» Klimapolitik heute aussehen?

Die Hoffnung der Bertelsmann-Stiftung auf eine «barrierefreie, unparteiische und nutzerfreundliche künstliche Intelligenz», die Desinformation «erkennen und kennzeichnen» und die Zertifizierung damit quasi objektivieren soll, ist technisch naiv und politisch mindestens im Ansatz totalitär. Eine «zentrale Stelle» schliesslich, die Bürger und Journalisten zur Fake-News-Freiheit «berät», die dazu Werbekampagnen entwickelt und strafrechtliche Sanktionen ersinnt (ohne dabei, natürlich, die Meinungsfreiheit zu beeinträchtigen), könnte glatt eine Erfindung des «Ministeriums für Wahrheit» aus George Orwells Dystopie «1984» sein.

Mehr: www.nzz.ch.

Das System Regenbogen

Die Denk- und Fühlkultur der Postmoderne habe den Weg für einen neuen Aberglauben geebnet, meint Florian Friedman. Verknüpf ist dieser Aberglaube interessanterweise mit neuen Dogmen. Eines dieser Dogmen, die nicht mehr hinterfragt werden dürfen, ist das System Regenbogen:

In Zeiten woken Denkens bestehen sie auf die eine oder andere Weise immer in der absurden Vorstellung, dass sich Vielfalt und Gleichheit im selben Maße erreichen lassen und sich also nicht logisch ausschließen. Im Grunde ist es einfach: Je mehr Vielfalt, desto weniger Gleichheit – und umgekehrt. Die woke Ideologie bestreitet diese logische Wahrheit und macht aus ihrem Dementi ein magisches Axiom. Als Symbol für dieses paradoxe Dogma muss der Regenbogen herhalten, die zugehörige Andacht erfolgt auf dem Karneval der Kulturen. Mag man nicht mittanzen, gerät man schon mal ins Fadenkreuz des DEI-Referats.

Letztbegründet werden die zentralen Überzeugungen der westlichen Cargo-Demokratien in Schriften von postmodernen Philosophen wie Michel Foucault, Jacques Derrida oder Judith Butler. Die Dampfplauderer aus den akademischen Klöstern versorgen ihre gläubigen Leser regalweise mit Nebelkerzenliteratur – ihre Texte belegen angeblich, dass Wahrheit relativ ist. Diese Behauptung wird gern genutzt, um den Widerspruch zwischen Vielfalt und Gleichheit (vermeintlich) aufzulösen. In Wirklichkeit sind akademische Bestseller wie Butlers „Das Unbehagen der Geschlechter“, weil sie Wahrheit und Logik leugnen, eine Beschwörung des Übernatürlichen – ohne tradierte Strukturen allerdings, die den religiösen Eifer einhegen könnten.

Lässt man sich durch postmoderne Sakraltexte erwecken, zeichnen sich nicht nur unendlich viele Geschlechter ab, wo es vorher bloß zwei gab. Wer den spirituellen Faden weiterspinnt, findet es auch leicht, zu glauben, dass eine Technologie aus dem Frühmittelalter wie das Windrad unser Klima rettet oder dass es sich bei den antisemitischen Massakern der Hamas vom 7. Oktober um einen Freiheitskampf progressiver Kräfte gehandelt hat. Welche Folgen man riskiert, wenn dem Widersinnigen zu viel Raum gegeben wird, wusste bereits Voltaire: „Wer dich dazu bringen kann, Absurditäten zu glauben, der kann dich auch dazu bringen, Gräueltaten zu begehen.“

Mehr: www.cicero.de.

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Die Journalismuskrise

Das Vertrauen in herkömmliche Medien ist stark gesunken. Eine Folge davon ist, dass sich immer mehr Leute von alternativen Kanälen informieren lassen. Nicht immer ist das hilfreich. Allerdings bringt es auch nichts, über diese neuen Kanäle zu schimpfen. Beatrice Achterberg zeigt, dass sich die klassischen Medien selbstkritischer fragen sollten, ob sie ihren Auftrag noch ernst nehmen.

Ein Auszug:

Viele Berichte sind nicht aus böser Absicht im Sinne von «Fake News» verfälscht, sondern mit gut gemeintem, aber verschlossenem Blick verfasst. Das liegt auch daran, dass viele Journalisten sich in einem geschlossenen Milieu bewegen.

Umfragen zeigen, dass Volontäre der öffentlichrechtlichen Sender viel häufiger links-grün wählen würden, als es der Durchschnitt der Gesellschaft tut. Der Begriff «Hauptstadtjournalismus» ist zwar abfällig, aber treffend, um ein Milieu von Gleichgesinnten zu beschreiben, das an ähnlichen Lagen wohnt, ähnlich denkt und womöglich auch ähnlich wählt. Es ist von anderen Milieus entkoppelt.

Ein solches Biotop von Gleichgesinnten sorgt dafür, dass sich viele nicht mehr trauen, herrschende Narrative infrage zu stellen. Journalisten schreiben oft für die Anerkennung anderer Journalisten; sie sind es, die ihnen die Preise verleihen.

Doch schaffen sich etablierte Medien, deren Aufgabe es ist, die Wahrheit abzubilden, langfristig selbst ab, wenn sie auf Bevormunden, Framing und Effekthascherei bei Enthüllungsgeschichten setzen.

Mehr: www.nzz.ch.

Woke TikTok-Blase

Meltem Seker studiert Politikwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und engagiert sich bei TikTok, um zu sehen, wie dort kommuniziert wird. Sie stammt selbst aus eine Migrantenfamilie, ist aber eine Kritikerin der Identitätspolitik. Das hat sie in einem ihrer Videos auch zum Ausdruck gebracht: „Ich sprach darüber, wie es ist, immer diejenige zu sein, die aus der Reihe tanzt, nicht hineinpasst, die nicht an die Ideen, die Theorien, die Ideologien der anderen glaubt. Mein Video war eine Reaktion auf die vielen negativen Erfahrungen und Diffamierungen, die ich an der Uni mitmachen musste. Grund dafür ist mein kritischer Ansatz zur Identitätspolitik, denn der Status quo in geisteswissenschaftlichen Studiengängen ist das Wiederholen verschiedener Dogmen: Geschlecht sei ein Gefühl, uneingeschränkte Massenmigration kein Problem und die Stimmabgabe für Die Grünen die Lösung für alles. Äußert man Kritik, wird einem eine beliebige Phobie angehängt oder Hass vorgeworfen.“

Kritik am Mainstream und an der Identitätspolitik kommt allerdings bei TikTok nicht gut an. Meltem Seker beschreibt sehr hilfreich, dass bestimmte Positionen schnell mit Hass-Wellen belegt werden und die Algorithmen die Entwicklung der „Gespräche“ stark beeinflussen: 

Es zeigt sich also, dass durchschnittliche Meinungen auf TikTok auf viel Gegenwind stoßen und schlichtweg schockieren. Keine meiner erläuterten Hate-Wellen wurde durch radikale Äußerungen ausgelöst. Viel mehr zeigt sich durch vergangene Wahlergebnisse, dass mindestens die Hälfte der deutschen Bevölkerung ähnliche oder sogar radikalere Sichtweisen vertritt. Eine sachlich begründete und abgewogene Migrationskritik sollte nicht dazu führen, dass ich auf rassistische Weise angegangen werde und mir vorgeworfen wird, meine eigene Identität zu hassen. Oder dass ich als Nazi bezeichnet werde.

Kritik am Islam sollte mir keine hundert Hassnachrichten einbringen, und die Diskussion um eine Sportlerin, der eine genetische Männlichkeit vorgeworfen wird, sollte nicht zu vulgären Beleidigungen und Suizidaufforderungen führen. Die emotionalen Reaktionen auf TikTok zeigen mir, dass der Algorithmus, die Blasenbildung und die Echokammern ein verzerrtes Bild der Realität darstellen. Das ist problematisch, wenn man bedenkt, dass immer mehr junge Menschen die App nutzen, um auf dem neuesten Stand zu sein. Oft wird automatisch davon ausgegangen, dass die TikTok-Startseite die Realität widerspiegelt und nicht die eigenen Interessen. 

Gleichzeitig spielt der Algorithmus immer radikalere Videos auf die Startseite. Somit ist es ungewohnt, sobald man auf Meinungen trifft, die von der eigenen Meinung abweichen. Gleichzeitig gibt es auf TikTok das Problem, dass es keine Mitte gibt. Durch den Algorithmus gehen kurze und provokante Inhalte viral, die die Fronten stärken. Lange, komplexe und sachliche Videos haben dort keine Chance. Das erkenne ich daran, dass teilweise nur zwei Prozent der Nutzer meine Videos zu Ende sehen.

Mehr: www.cicero.de.

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