Zensur durch einen „Bürgerrat“

Ein pseudo-repräsentatives Gremium hat Vorschläge gemacht, um Desinformationen im Netz zu bekämpfen. Das Ergebnis ist zum Gruseln. Der Grünen-Politiker Konstantin von Notz ist begeistert.

Susanne Gaschke schreibt: 

Noch fragwürdiger als die pseudorepräsentativen Bürgerräte sind die inhaltlichen Vorschläge, die nun auf die Bertelsmann-Initiative hin zustande gekommen sind. Sie laufen in vielen Fällen auf Zensur hinaus, obwohl Artikel fünf des Grundgesetzes eine solche ausdrücklich ausschliesst.

Doch was anderes als eine verdeckte Zensur wäre ein «freiwilliges, transparent gestaltetes Gütesiegel» für Medien, das jährlich aufs Neue – von welchem Gremium, mit welcher Befugnis? – vergeben würde? Welchen und von wem definierten Anti-Fake-News-Kriterien müssten unabhängige Medien zu entsprechen versuchen, um ihre Unbedenklichkeitsbescheinigung zu erhalten? Wer definiert und wie, was wirklich Desinformation und was nur missliebige, aber zu duldende Meinung ist? Wie wäre, nur als Beispiel, eine solche Definition in der Corona-Krise ausgefallen? Wie würde sie bei der Beurteilung der «richtigen» Klimapolitik heute aussehen?

Die Hoffnung der Bertelsmann-Stiftung auf eine «barrierefreie, unparteiische und nutzerfreundliche künstliche Intelligenz», die Desinformation «erkennen und kennzeichnen» und die Zertifizierung damit quasi objektivieren soll, ist technisch naiv und politisch mindestens im Ansatz totalitär. Eine «zentrale Stelle» schliesslich, die Bürger und Journalisten zur Fake-News-Freiheit «berät», die dazu Werbekampagnen entwickelt und strafrechtliche Sanktionen ersinnt (ohne dabei, natürlich, die Meinungsfreiheit zu beeinträchtigen), könnte glatt eine Erfindung des «Ministeriums für Wahrheit» aus George Orwells Dystopie «1984» sein.

Mehr: www.nzz.ch.

Das System Regenbogen

Die Denk- und Fühlkultur der Postmoderne habe den Weg für einen neuen Aberglauben geebnet, meint Florian Friedman. Verknüpf ist dieser Aberglaube interessanterweise mit neuen Dogmen. Eines dieser Dogmen, die nicht mehr hinterfragt werden dürfen, ist das System Regenbogen:

In Zeiten woken Denkens bestehen sie auf die eine oder andere Weise immer in der absurden Vorstellung, dass sich Vielfalt und Gleichheit im selben Maße erreichen lassen und sich also nicht logisch ausschließen. Im Grunde ist es einfach: Je mehr Vielfalt, desto weniger Gleichheit – und umgekehrt. Die woke Ideologie bestreitet diese logische Wahrheit und macht aus ihrem Dementi ein magisches Axiom. Als Symbol für dieses paradoxe Dogma muss der Regenbogen herhalten, die zugehörige Andacht erfolgt auf dem Karneval der Kulturen. Mag man nicht mittanzen, gerät man schon mal ins Fadenkreuz des DEI-Referats.

Letztbegründet werden die zentralen Überzeugungen der westlichen Cargo-Demokratien in Schriften von postmodernen Philosophen wie Michel Foucault, Jacques Derrida oder Judith Butler. Die Dampfplauderer aus den akademischen Klöstern versorgen ihre gläubigen Leser regalweise mit Nebelkerzenliteratur – ihre Texte belegen angeblich, dass Wahrheit relativ ist. Diese Behauptung wird gern genutzt, um den Widerspruch zwischen Vielfalt und Gleichheit (vermeintlich) aufzulösen. In Wirklichkeit sind akademische Bestseller wie Butlers „Das Unbehagen der Geschlechter“, weil sie Wahrheit und Logik leugnen, eine Beschwörung des Übernatürlichen – ohne tradierte Strukturen allerdings, die den religiösen Eifer einhegen könnten.

Lässt man sich durch postmoderne Sakraltexte erwecken, zeichnen sich nicht nur unendlich viele Geschlechter ab, wo es vorher bloß zwei gab. Wer den spirituellen Faden weiterspinnt, findet es auch leicht, zu glauben, dass eine Technologie aus dem Frühmittelalter wie das Windrad unser Klima rettet oder dass es sich bei den antisemitischen Massakern der Hamas vom 7. Oktober um einen Freiheitskampf progressiver Kräfte gehandelt hat. Welche Folgen man riskiert, wenn dem Widersinnigen zu viel Raum gegeben wird, wusste bereits Voltaire: „Wer dich dazu bringen kann, Absurditäten zu glauben, der kann dich auch dazu bringen, Gräueltaten zu begehen.“

Mehr: www.cicero.de.

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Die Journalismuskrise

Das Vertrauen in herkömmliche Medien ist stark gesunken. Eine Folge davon ist, dass sich immer mehr Leute von alternativen Kanälen informieren lassen. Nicht immer ist das hilfreich. Allerdings bringt es auch nichts, über diese neuen Kanäle zu schimpfen. Beatrice Achterberg zeigt, dass sich die klassischen Medien selbstkritischer fragen sollten, ob sie ihren Auftrag noch ernst nehmen.

Ein Auszug:

Viele Berichte sind nicht aus böser Absicht im Sinne von «Fake News» verfälscht, sondern mit gut gemeintem, aber verschlossenem Blick verfasst. Das liegt auch daran, dass viele Journalisten sich in einem geschlossenen Milieu bewegen.

Umfragen zeigen, dass Volontäre der öffentlichrechtlichen Sender viel häufiger links-grün wählen würden, als es der Durchschnitt der Gesellschaft tut. Der Begriff «Hauptstadtjournalismus» ist zwar abfällig, aber treffend, um ein Milieu von Gleichgesinnten zu beschreiben, das an ähnlichen Lagen wohnt, ähnlich denkt und womöglich auch ähnlich wählt. Es ist von anderen Milieus entkoppelt.

Ein solches Biotop von Gleichgesinnten sorgt dafür, dass sich viele nicht mehr trauen, herrschende Narrative infrage zu stellen. Journalisten schreiben oft für die Anerkennung anderer Journalisten; sie sind es, die ihnen die Preise verleihen.

Doch schaffen sich etablierte Medien, deren Aufgabe es ist, die Wahrheit abzubilden, langfristig selbst ab, wenn sie auf Bevormunden, Framing und Effekthascherei bei Enthüllungsgeschichten setzen.

Mehr: www.nzz.ch.

Woke TikTok-Blase

Meltem Seker studiert Politikwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und engagiert sich bei TikTok, um zu sehen, wie dort kommuniziert wird. Sie stammt selbst aus eine Migrantenfamilie, ist aber eine Kritikerin der Identitätspolitik. Das hat sie in einem ihrer Videos auch zum Ausdruck gebracht: „Ich sprach darüber, wie es ist, immer diejenige zu sein, die aus der Reihe tanzt, nicht hineinpasst, die nicht an die Ideen, die Theorien, die Ideologien der anderen glaubt. Mein Video war eine Reaktion auf die vielen negativen Erfahrungen und Diffamierungen, die ich an der Uni mitmachen musste. Grund dafür ist mein kritischer Ansatz zur Identitätspolitik, denn der Status quo in geisteswissenschaftlichen Studiengängen ist das Wiederholen verschiedener Dogmen: Geschlecht sei ein Gefühl, uneingeschränkte Massenmigration kein Problem und die Stimmabgabe für Die Grünen die Lösung für alles. Äußert man Kritik, wird einem eine beliebige Phobie angehängt oder Hass vorgeworfen.“

Kritik am Mainstream und an der Identitätspolitik kommt allerdings bei TikTok nicht gut an. Meltem Seker beschreibt sehr hilfreich, dass bestimmte Positionen schnell mit Hass-Wellen belegt werden und die Algorithmen die Entwicklung der „Gespräche“ stark beeinflussen: 

Es zeigt sich also, dass durchschnittliche Meinungen auf TikTok auf viel Gegenwind stoßen und schlichtweg schockieren. Keine meiner erläuterten Hate-Wellen wurde durch radikale Äußerungen ausgelöst. Viel mehr zeigt sich durch vergangene Wahlergebnisse, dass mindestens die Hälfte der deutschen Bevölkerung ähnliche oder sogar radikalere Sichtweisen vertritt. Eine sachlich begründete und abgewogene Migrationskritik sollte nicht dazu führen, dass ich auf rassistische Weise angegangen werde und mir vorgeworfen wird, meine eigene Identität zu hassen. Oder dass ich als Nazi bezeichnet werde.

Kritik am Islam sollte mir keine hundert Hassnachrichten einbringen, und die Diskussion um eine Sportlerin, der eine genetische Männlichkeit vorgeworfen wird, sollte nicht zu vulgären Beleidigungen und Suizidaufforderungen führen. Die emotionalen Reaktionen auf TikTok zeigen mir, dass der Algorithmus, die Blasenbildung und die Echokammern ein verzerrtes Bild der Realität darstellen. Das ist problematisch, wenn man bedenkt, dass immer mehr junge Menschen die App nutzen, um auf dem neuesten Stand zu sein. Oft wird automatisch davon ausgegangen, dass die TikTok-Startseite die Realität widerspiegelt und nicht die eigenen Interessen. 

Gleichzeitig spielt der Algorithmus immer radikalere Videos auf die Startseite. Somit ist es ungewohnt, sobald man auf Meinungen trifft, die von der eigenen Meinung abweichen. Gleichzeitig gibt es auf TikTok das Problem, dass es keine Mitte gibt. Durch den Algorithmus gehen kurze und provokante Inhalte viral, die die Fronten stärken. Lange, komplexe und sachliche Videos haben dort keine Chance. Das erkenne ich daran, dass teilweise nur zwei Prozent der Nutzer meine Videos zu Ende sehen.

Mehr: www.cicero.de.

Über einen irrelevanten Glauben

Nancy Pearcey (Die ganze Wahrheit, 2024, S. 44):

Wir alle würden Dorothy Sayers zustimmen, die sagte: Wenn der Glaube nicht in unser Arbeitsleben hineinspricht, hat er dort nichts zu sagen, wo wir den größten Teil unserer Zeit verbringen. Dann ist es kein Wunder, dass die Leute sagen, der Glaube sei irrelevant! „Wie könnte sich irgendjemand immer noch für den Glauben interessieren, wenn er zu neunzig Prozent seines Lebens anscheinend nichts zu sagen hat?“

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Kultur des Todes (21): Reform des Abtreibungsrechts

Trotz vieler politischer Probleme hält die Ampel noch daran fest, das Abtreibungsrecht zu lockern. Erinnern wir uns: Die Koalition hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen, das „Selbstbestimmungsrecht von Frauen“ zu stärken. Eingesetzt wurde zu diesem Zweck eine Expertenkommission, die im April des Jahres 2024 ein mehr als 500-seitiges Gutachten vorlegte, das es wirklich in sich hat (vgl. hier).  

Mathias Brodkorb (SPD) ist der Meinung, dass die Ampel das Vorhaben ganz schnell verwerfen sollte. Denn die Argumentation der Expertenkommission ist fatal. Die Würde des heranwachsenden Menschen soll nämlich laut Gutachter in dem Maße anwachsen, in dem er körperlich unabhängiger von der Mutter wird.

Brodkorb schreibt: 

Die Gutachter ficht das nicht an. Es gebe gute Argumente dafür, dass „die Menschenwürdegarantie durch einen Schwangerschaftsabbruch im Regelfall nicht verletzt wäre“, sind sie überzeugt. Dem Lebensrecht eines Embryos komme nämlich ein „geringeres Gewicht zu als dem Lebensrecht des Menschen nach der Geburt“. Das Kernargument: „Wegen der existenziellen Abhängigkeit des Ungeborenen vom Körper der Schwangeren spricht viel dafür, dass das Lebensrecht pränatal mit geringerem Schutz zum Tragen kommt als für den geborenen Menschen.“ Bis zur 22. Schwangerschaftswoche sollte daher Abtreibung künftig nicht mehr als Straftat gelten. Jedenfalls „spricht viel dafür“. Eine Unernsthaftigkeit reiht sich in einer existenziellen Frage an die nächste.

Die Argumentation hat eine gravierende Konsequenz: Die Menschenwürde gilt dann nicht mehr als unantastbar und unteilbar, stattdessen gibt es angeblich Grade der Würdigkeit und damit des Werts menschlichen Lebens. Eigentlich sollte Artikel 1 des Grundgesetzes nach dem Nationalsozialismus einmal ein Schutzschild genau vor solchen Auffassungen sein.

Ethisch betrachtet ist die gesamte Argumentation ohnehin haarsträubend: Die Würde des heranwachsenden Menschen soll demnach in dem Maße anwachsen, in dem er körperlich unabhängiger von der Mutter wird. Eigentlich würde man meinen, dass es eher andersherum funktionieren müsste: dass also der Schutzanspruch eines Menschen um so größer ist, je abhängiger und unterstützungsbedürftiger er ist.

Es ist grotesk, aus der Schwäche eines Menschen einen geringeren Grad an Würde und Schutzbedürftigkeit zu schlussfolgern. Man möchte keinem Bewohner eines Pflegeheims wünschen, von Mitarbeitern betreut zu werden, die solche Überzeugungen hegen wie die Gutachter der Bundesregierung. Und schon gar nicht möchte man dann ein Mensch sein, der auf eine Organtransplantation angewiesen ist, um zu überleben. Auch ein solcher ist biologisch vom „Körper“ anderer Menschen „existenziell abhängig“ und wäre dann angeblich mit geringerer Würde und Lebensrecht ausgestattet als andere.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): ww.cicero.de.

Kultur des Todes (20): Grundrecht auf aktive Sterbehilfe

Der spanische Starregisseur Pedro Almodóvar hat mit seinem Film „The Room Next Door“ den „Goldenen Löwen“ in Venedig gewonnen. In dem Drama spielt Tilda Swinton eine Kriegsreporterin, die ihrem Krebsleiden ein Ende setzen will. Julianne Moore spielt ihre Freundin, die ihr bei den Vorbereitungen hilft. Es geht also um ein emotionales Plädoyer für die aktive Sterbehilfe. Passend hat Almodóvar in seiner Dankesrede eindringlich für das Recht auf Sterbehilfe geworben

Die TAGESPOST schreibt: 

Bei der Preisverleihung sagte der Regisseur: „Der Film handelt von einer Frau, die in einer sterbenden Welt stirbt, und von einer Person, die sich entscheidet, ihre letzten Tage mit ihr zu verbringen. Einen todkranken Menschen zu begleiten, für ihn da zu sein und ihn manchmal nur mit einem Wort zu trösten, gehört zu den großen menschlichen Qualitäten.“ Der Film erzähle nicht nur von Ingrids bedingungsloser Solidarität, sondern auch von Marthas Entschluss, „ihr Leben zu beenden, wenn es nur noch aus unerträglichem Schmerz besteht“. 

Anschließend hielt Almodóvar ein leidenschaftliches Plädoyer für die aktive Sterbehilfe: „Sich von dieser Welt würdevoll und in Frieden zu verabschieden, ist meiner Meinung nach ein Grundrecht eines jeden Menschen. Es ist keine politische, sondern eine zutiefst menschliche Frage, die mit Mitgefühl behandelt werden muss – auch wenn es die Aufgabe der Regierungen ist, die notwendigen Gesetze zu schaffen, um dies zu ermöglichen.“

Mehr: www.die-tagespost.de.

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Ist Gott queer?

Queere Theologie läuft Gefahr, sich von zentralen Glaubensgrundsätzen zu entfernen, meint Ulrich Körtner in einem Gespräch mit der WELT: 

„Eine dramatische Veränderung“ ergebe sich durch die queere Theologie für die Kirche. „Denn wenn das biologische Geschlecht irrelevant sein soll, muss auch die kirchliche Sexualethik irrelevant werden, da sie von der Zweigeschlechtlichkeit ausgeht und die Prinzipien der zweigeschlechtlichen Ehe auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften anzuwenden vermag. Das erodiert, wenn biologische Geschlechtlichkeit bestritten wird.“

Zudem ergäben sich „gewaltige Probleme“ beim christlichen Gottesbild. „Die feministische Theologie wollte zwar auch weibliche Seiten in Gott entdecken, ging aber im christlichen Kontext noch davon aus, dass Gott die Versöhnung zwischen den von ihm geschaffenen Geschlechtern will, die seinem Bilde entspricht“, sagt Körtner. „Demgegenüber wird in einer Theologie der Queerness versucht, die eigene sexuelle Identität, die man sich selbst in Zurückweisung biologischer Geschlechtlichkeit konstruiert, nun auch in einer sexuellen Queer-Identität Gottes zu verankern, die ebenfalls in Zurückweisung biologischer Geschlechtlichkeit konstruiert wird.“

Das aber widerspreche „diametral“ dem Gottesbild der Bibel. „Denn in ihr ist Gott sexuell weder aktiv noch konnotiert. Dass er als Vater bezeichnet wird, macht aus ihm keinen Mann im sexuellen Sinne. Deshalb kann man ihn für keine sexuelle Identität welcher Art auch immer in Anspruch nehmen, nicht das Eigene auf ihn projizieren oder ihn als Analogie des eigenen Lebens konstruieren.“ Insofern habe „eine reflektierte Lehre von Gott eine kritische Funktion“, sagt Körtner. „Sie ist ein Einspruch dagegen, die eigene Identität auf Gott zu übertragen und damit absolut zu setzen.“

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

The End of Solomon’s Porch

Durch den ZEIT-Artikel „Wie ein Pastor Trump verhindern will“, der davon erzählt, wie Doug Pagitt derzeit Wahlkampf für Kamala Harris macht, wurde ich an die Tage erinnert, in denen die Emerging Church und die Gemeindegründung Solomon’s Porch in aller Munde war. Und was erfahre ich? Ich lese, dass Doug Pagitt ein Evangelikaler ist. Vermutlich kann er selbst über dieses „Label“ nur lächeln. Ich erfahre außerdem: Die „Gemeinde“ Solomon’s Porch wurde 2023 geschlossen.

Tatsächlich: In einem sehr ausführlichen Interview erzählen Doug Pagitt und Tony Jones, was die Emerging Church ausmachte und warum Solomon’s Porch verschwunden ist.

Man kann im Nachhinein darüber staunen, dass diese Strömung von einigen als „Hoffnungsträger“ für die evangelikale Bewegung gefeiert wurde. (Eine Schlüsselstelle ist für mich übrigens die positive Referenz auf Antonio Gramsci, ca. ab Minute 55. Es sind demnach charismatische Persönlichkeiten (oder organische Intellektuelle), die Revolutionen anstoßen). Geredet wird eigentlich nur über die eigene Biographie, über Gemeinschaft, rhetorische Fertigkeiten – den Menschen. Gott und seine Offenbarung sind akzidentiell.

Heute würde ich sagen, die EmCh war einer der Wegbereiter für den Postevangelikalismus.

Hier das Interview:

Luther als „Doktor der Sünde“

Ilars Plume schreibt die flache Anthropologie der Neuzeit („Verzerrungen des Evangeliums“, Theologische Handreichung und Information, 42. Jg., August 2024, Nr. 3, S. 48–72, hier S. 53–54):

Luthers Weg zur Wiederentdeckung des Evangeliums begann mit dem richtigen Verständnis der Sünde. Die von Rom angebotenen Heilmittel gegen die Sünde waren nicht wirksam, weil die Diagnose nicht richtig gestellt wurde. Dies tat Luther wie ein Arzt, als er die Sünde als „den Tod in uns“ definierte. Daniel Olivier1, Historiker an der Universität Paris, nennt Luther deshalb einen „Doktor der Sünde“ und beklagt, dass leider nicht Luther, sondern die Anthropologie des Erasmus von Rotterdam die westliche Welt erobert habe. War Luther nach gründlichem Studium der Heiligen Schrift zu der Überzeugung gelangt, dass die menschliche Natur hoffnungslos verdorben und böse ist, so war der Mann aus Rotterdam – wie Aristoteles vor ihm – der Meinung, dass der Mensch gut genug ist, um durch Erziehung oder Moralunterricht geheilt zu werden. Fast alles, was wir in diesem Zusammenhang in der modernen Welt sehen, steht unter dem Joch des „Tausendkünstlers“ und ist abgeleitet von seinen großen Schülern Aristoteles und Erasmus. Die römische Kirche lehnte Luther ab, während die Protestanten ihn einfach vergaßen, so dass der Positivismus129 zum größten Problem der westlichen Kultur werden konnte.

Anselm: Meine Seele flieht zu deinem erquickenden Erbarmen

Gebet des Anselm von Canterbury:

Gedenke, gerechter, heiliger und gütiger Gott, gedenk deines Erbarmens, gedenke, daß du mich erschaffen und erlöst hast! Guter Gott, gedenke nicht deiner Gerechtigkeit wider deinen Sünder, gedenke deiner Güte gegen dein Geschöpf! Gedenke nicht des Zornes gegen den Schuldigen, sondern des Erbarmens gegen den Armen! Gewiß, meine Schuld verdient Verdammung, meine Buße reicht nicht, um Sühne zu leisten, aber dein Erbarmen übersteigt gewiß alle Schuld. Schone also, du guter Herr, der du das Heil verleihst, der du den Tod des Sünders nicht willst, schone meiner sündigen Seele! Verstört flieht sie von deiner schrecklichen Gerechtigkeit zu deinem erquickenden Erbarmen.

Hat der Mpox-Ausbruch etwas mit Sex zu tun?

Bei der Mpox-Epidemie in Afrika tun sich alle schwer mit klaren Aussagen über die Ansteckungswege. Jetzt gipfelt es in einem bizarren Duell zwischen der WHO und der afrikanischen Gesundheitsbehörde CDC über „Atemtröpfchen“. Nike Heinen hat den Verdacht, dass aus politischen Gründen kein Klartext geredet wird:

Warum kommen die Tröpfchen dann so prominent in den Stellungnahmen der beiden um Gesundheit bedachten Institutionen vor? Der Seuchenschutz ist auf Geldgeber und kooperationsbereite Behörden angewiesen. Diese Art von Statements werden wohl in der Hoffnung verfasst, dass Rücksichtnahme auf Tabus den Kooperationswillen der betroffenen Länder befördert. Und so wird kommuniziert, was für „sagbar“ gehalten wird. Tröpfchen in der Atemluft sind so viel unverfänglicher als andere Körperflüssigkeiten.

Und sie sind zu einem Code geworden. Wenn Harris „eher keine Tröpfcheninfektion“ sagt, könnte sie damit meinen, „es gibt einen ganz anderen Infektionsweg“. Wenn die Africa CDC wiederum die „Tröpfcheninfektion“ betont, dann mag das heißen: Haltet Abstand. Was keiner ausspricht: Es ist wahrscheinlich, dass auch diese Neuausgabe der Mpox-Erreger hauptsächlich durch Sex übertragen wird. Und bisher standen vor allem Männer im Risiko, die Sex mit Männern haben, aus [sic!, auch] das muss sich nicht geändert haben.

Auch das RKI meint: „Ausschläge treten häufig am Anus bzw. im Rektum, an den Genitalien oder im Mund auf, was wahrscheinlich zur Übertragung bei sexuellem Kontakt beiträgt … Personen können ihr Risiko senken, wenn sie die Zahl der Sexpartner und/oder Sexpartnerinnen reduzieren. Orte, an denen wenig oder gar keine Kleidung getragen wird und Körperkontakte stattfinden, wie Darkrooms, Saunen oder Sex-Clubs, bergen ebenfalls ein erhöhtes Infektionsrisiko.“

Mehr: www.welt.de.

Säkularisierungstempo nimmt zu

Die Kirchen in Deutschland verlieren massiv Mitglieder. Im Jahr 2023 werden mehr als 400.000 Katholiken und 380.000 Protestanten ausgetreten sein. Das Phänomen ist noch nicht wirklich verstanden. Derzeit gibt es zwei große Erklärungsansätze: Es könnte sich einmal um einen sogenannten „Kohorteneffekt“ handeln. Demnach wäre der Mitgliederverlust der Kirchen damit zu erklären, dass Menschen jüngerer Kohorten zwar noch getauft und religiös sozialisiert wurden, diese Bindung aber schwach geblieben ist und mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter endet. Demgegenüber postuliert andererseits die Theorie des „Periodeneffekts“ zur Erklärung der Kirchenaustritte, dass bestimmte Ereignisse, wie z.B. die Berichterstattung über die Missbrauchsfälle in den beiden deutschen Amtskirchen, auch ältere, religiös gefestigte Menschen dazu veranlasst haben, ihre Religionsgemeinschaft zu verlassen.

Der Soziologie Daniel Lois hat sich mit beiden Ansätzen beschäftigt und der Artikel „Wie der Mitgliederverlust der Kirchen zu erklären ist“ erlaubt Einblicke in die Debatte. Alles in allem zeigt sich, dass das Säkularisierungstempo zunimmt:

Für die Kirchen sind das alles schlechte Nachrichten. Die aktuelle Entwicklung ihrer Mitglieder sei durch drei parallel wirkende Mechanismen gekennzeichnet, die das Säkularisierungstempo weiter beschleunigten: Ungebrochen negative Kohorteneffekte gingen einher mit sich jüngst verstärkenden, negativen Periodeneffekten sowie einer zunehmenden Abkopplung von der Kirche bei jungen Erwachsenen. Das heißt, auch wenn die Kirchen in Zukunft keine negativen Schlagzeilen mehr produzieren, werden sich die Kohorteneffekte noch verstärken: Die Kinder von bereits religiös kaum noch sozialisierten Personen werden selbst kaum noch den Kirchen beitreten.

Mehr: www.faz.net.

KI ist von vorn bis hinten Politik

ChatGPT ist nicht vom Himmel gefallen. Kate Crawford erforscht seit zwei Jahrzehnten die materiellen und politischen Fundamente großer Datensysteme und erklärte kürzlich in einem Interview, dass die KI-System gar nicht weltanschaulich neutral sein können. Ich denke, dieser Punkt wird bisher in der Diskussion leider vernachlässigt. 

Sie sagt:

In den Jahren, in denen ich diese Systeme erforscht habe, ist mir wirklich klar geworden, dass KI von vorn bis hinten Politik ist. Wenn man ein KI-System trainiert, kommt man nicht umhin, dass man es auch mit einer Weltanschauung trainiert. Die Entscheidungen, die Sie als Ingenieur darüber treffen, welche Datensätze Sie verwenden, welche Sprachen und welche Kulturen vertreten sind, werden die Art der Fähigkeiten Ihres KI-Modells grundlegend verändern, und es wird die Texte und Bilder verändern, die es produziert. Sie legen die Parameter einer Weltanschauung fest, und das ist eine politische Entscheidung. Es gibt kein perfektes, neutrales System, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Das bedeutet, dass wir uns große Sorgen darüber machen müssen, dass die Konzentration in der KI-Industrie so groß ist. Es gibt wirklich nur eine Handvoll Unternehmen, die KI im globalen Maßstab anbieten können und die daher eine enorme Macht haben, darüber zu entscheiden, wie die Welt aussehen wird. 

Mehr: zeitung.faz.net.

Analogia fidei

R.C. Sproul schreibt über die „Entsprechung des Glaubens“ (lat. analogia fidei, Bibelstudium für Einsteiger, 2023, S. 46–47):

Als die Reformatoren mit Rom brachen und die Position verteidigten, dass die Bibel die höchste Autorität der Kirche sein muss (sola scriptura – „allein die Schrift“), definierten sie mit großer Sorgfalt grundlegende Auslegungsprinzipien. Die erste Regel der Hermeneutik war die analogia fidei (wörtl. „Entsprechung zum Glauben(sinhalt)“ – im Folgenden als „Analogie des Glaubens“ bezeichnet). Diese Regel besagt, dass die Schrift selbst die Schrift interpretieren muss: Sacra Scriptura sui ipsius interpres („die Heilige Schrift ist ihr eigener Ausleger“). Das heißt einfach, dass kein Teil der Schrift so ausgelegt werden darf, dass er in Konflikt mit der Lehre einer anderen Schriftstelle gerät. Wenn zum Beispiel ein Vers auf zwei verschiedene Weisen gedeutet werden kann und dabei die eine Deutung dem Rest der Schrift widerspricht, während die andere mit ihr harmoniert, dann muss die letztere angewendet werden. Dieses Prinzip beruht auf der zugrunde liegenden Überzeugung, dass die Bibel das vertrauenswürdige inspirierte Wort Gottes und deshalb schlüssig und stimmig ist. Weil davon au gegangen wird, dass Gott sich nicht selbst widerspricht, wird es als Lästerung des Heiligen Geistes angesehen, eine abweichende Auslegung zu wählen, die die Bibel unnötig mit sich selbst in Widerspruch bringt. Diese Sorgfalt ist heute von denen über Bord geworfen worden, die die Inspiration der Schrift leugnen. Es ist an der Tagesordnung, dass die Schrift nicht nur entgegen der Schrift ausgelegt wird, sondern dass man dafür sogar keine Anstrengung scheut. Die Bemühungen von rechtgläubigen Theologen, schwierige Schriftstellen zu harmonisieren, werden ins Lächerliche gezogen und weitgehend ignoriert.

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