„Bewahre uns vor dem Bösen“
Helmut Thielicke predigte in den Jahren 1944 bis 1945 in Stuttgart unter anderem über „das Böse“ (Das Gebet, das die Welt umspannt, 1983, S. 140–141):
Liebe Zuhörer! Wir sind in unserer Zeit viel zu sehr mit dämonischen Mächten in Berührung gekommen, wir haben viel zu deutlich gespürt und gesehen, wie Menschen und ganze Bewegungen verführt und gesteuert wurden von geheimnisvollen, abgründigen Mächten – dorthin, wohin sie selber nicht wollten –; wir haben allzu oft beobachtet, wie ein fremder Geist in manche Menschen fahren und sie (die vorher vielleicht ganz nett und vernünftig waren) bis in die Substanz hinein verwandeln konnte, wie er sie zu Grausamkeiten, Machträuschen und Wahnsinnsausbrüchen zu bringen vermochte, deren sie vorher niemals fähig zu sein schienen; wir sahen außerdem, wie sich von Jahr zu Jahr mehr eine Atmosphäre der Vergiftung um unseren Erdball legte, wie wirklich etwas spürbar wurde von den bösen Geistern in der Luft, und wie eine unsichtbare Hand einen unsichtbaren Taumelkelch von Volk zu Volk reichte und die Nationen bis in die Tiefe verwirrte; ich sage: wir haben das alles viel zu sehr gesehen, wir sind viel zu sehr von alledem erschreckt worden, als daß ich euer und mein Gehirn erst präparieren müßte, damit es, ohne sich zu genieren, die Frage nach dem Teufel überhaupt zu stellen wagt. Die Übergewalt und der Starkstrom dieser Erlebnisse sind so stark, daß sie alle Sicherungen unseres Intellektes – die wir so gern und geschickt einbauen, um uns jene dunklen Mächte vom Halse zu halten – einfach durchschlagen.
So lassen wir die Frage, ob es einen Teufel gebe, dahingestellt und fragen lieber gleich, wer er ist, um dann sein biblisches Porträt mit dem zu vergleichen, was uns in unserer apokalyptischen Zeit entgegentritt. Vielleicht ist es gar nicht so schwer, die beiden Bilder zur Deckung zu bringen.
Warum ist eigentlich der Versucher so gefährlich? Denn wäre er nicht mit der höchsten Gefahr gleichsam beladen, so würde uns Jesus gewiß nicht darum zu beten lehren, daß wir von ihm erlöst werden. Dann wäre er vermutlich auch selber nicht gegen ihn angetreten und hätte nicht sein ganzes Erdenleben hindurch gegen diese unsichtbare Front kämpfen müssen. Ich würde auf diese Frage, warum die dämonische Macht so gefährlich ist, zunächst ganz einfach antworten: Sie ist darum so gefährlich, weil man sie nicht erkennen kann, und weil sie eben nicht jenen charakteristischen „Pferdefuß“ besitzt, an dem man sie erkennen könnte. Hätte sie einen Paß, so stünde in der Spalte „Besondere Kennzeichen“ zweifellos: „Keine“. Der Teufel ist ein Meister der Tarnung, und eine wichtige Spezialität seiner Taktik besteht darin, daß er sich hinter positiven Werten und Idealen versteckt.