Szientismus

Wahrheiten und Mehrheiten

Ob Klima-, Umwelt- oder Gesundheitskrise: Die Machtworte der Wissenschaft verheißen – so argumentieren viele Politiker und Journalisten – Abhilfe. Tatsächlich aber verbündet sich hier naive Wissenschaftsgläubigkeit mit einem tendenziell undemokratischen Machtanspruch. Jakob Hayner stellt das Buch Wahrheiten und Mehrheiten von Peter Strohschneider vor, in dem der heute so verbreitete Szientismus unter die Lupe genommen wird: 

Mit klarer Argumentation und nüchterner Analyse nimmt Strohschneider auf knapp 200 Seiten einige der Irrtümer über Wissenschaft und Politik auseinander, die in den vergangenen Jahren geradezu endemisch geworden sind. Der 1955 geborene Strohschneider ist zwar von Beruf Literaturwissenschaftler, war aber auch langjähriger Vorsitzender des Wissenschaftsrats und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, zudem Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Kurz: Hier spricht ein Mensch der Wissenschaft aus intimer Kenntnis der Sache.

„Wahrheiten und Mehrheiten. Zur Kritik des autoritären Szientismus“ heißt das Buch von Strohschneider. Szientistisch, in Abgrenzung zu szientifisch (schwer einzudeutschen: wissenschaftistisch statt wissenschaftlich), nennt Strohschneider die „Follow the Science“-Pose, die allein „die Fakten“, aber keinerlei Erkenntnis- und sonstige Wissenschaftsprobleme kennt, sondern ausschließlich einen alternativlos wirkenden Handlungsdruck aufbaut. Zu finden ist das bei Gruppierungen wie „Scientists for Future“ oder bei Leuten, die es wie der SPD-Politiker Karl Lauterbach vom Twitter-Troll zum Minister gebracht haben.

Ein Zitat aus dem Buch (Wahrheiten und Mehrheiten: Kritik des autoritären Szientismus, 2004, S. 135–136):

So „sorgt die Rhetorik des Notstands für despotische Verhältnisse,“ und dieser Schritt lässt sich nicht nur in politischen Stellungnahmen wie denjenigen der Jugendklimabewegung oder von Karl Lauterbach verfolgen, sondern auch an gesellschaftstheoretisch erheblich ambitionierteren Beispielen. So hat etwa der Soziologe Anthony Giddens, in den neunziger Jahren einer der intellektuellen Väter des britischen New Labour-Projektes, schon vor über einer Dekade in seinem Buch The Politics of Climate Change durchbuchstabiert, wie manifestes Politikversagen behoben werden könne, indem man diese Politics um alles Politische programmatisch bereinige. Es müsse „der scharfe Gegensatz von Links und Rechts sowohl ideologisch als auch in der parteipolitischen Praxis überwunden werden […].“ Denn tatsächlich bestehe längst kein sachlicher Dissens mehr über das, was bei der Bekämpfung des Klimawandels ‹eigentlich› erforderlich sei. Vielmehr seien es allein politische Gegnerschaften, welche die richtigen Entscheidungen behinderten. Und gegen diese Blockaden durch das Politische empfahl Giddens nun einen parteiübergreifenden monitoring body. Dieser sollte die Verfolgung von Klimaschutzzielen nicht bloß überwachen, sondern gegebenenfalls auch selbst direkt in die entsprechende Gesetzgebung eingreifen. Unüberhörbar ist, dass dieser klimapolitische Herrschaftsentwurf bis in jene Vorstellungen des bundesrepublikanischen Gesundheitsministers hinein nachhallt, nach welchen Politik durch Szientifizierung ertüchtigt werden soll.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

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Die Überheblichkeit des Szientismus

Lydia Jaeger schreibt über die Grenzen des Szientismus (Wissenschaft ohne Gott?, 2007, S. 86–87):

Bei der Betrachtung der Rolle der menschlichen Vernunft haben wir
gezeigt, dass Wissenschaft in einer Welt, deren Elemente sie bis ins Letzte beschreiben könnte, unmöglich ist. Die Person des Forschers selbst
bliebe völlig außen vor, obwohl dieser der Autor jeglicher wissenschaftlicher Beschreibung ist. Nach logischen Gesichtspunkten betrachtet, ist es
absurd, das menschliche Denken im Namen der Wissenschaft, das diese
produziert, ausklammern zu wollen. Ebenso ist es praktisch unmöglich,
keine Werturteile abzugeben und Aussagen, ein Objekt sei schön oder
hässlich und eine Handlung sei gut oder schlecht unter dem Vorwand,
solche Urteile würden jeglicher wissenschaftlicher Basis entbehren, zu
unterlassen. Menschliches Leben müsste dann auf alles verzichten, was
es interessant macht. Keine Gesellschaft könnte ohne minimale Übereinkünfte in ethischen Fragen überleben. Werturteile und menschliches Zusammenleben sind jedoch nur möglich, weil sie grundsätzlich auf anderen
als mit wissenschaftlichen Methoden erlangten Gegebenheiten basieren.
Keine Methode kann von der Beschreibung des Ist (was Inhalt der wissenschaftlichen Forschung ist) zum Soll (was Inhalt ästhetischer oder
ethischer Regeln ist) führen.

Wenn die Wissenschaft also den Menschen nicht darin erschöpfend beschreiben kann, was seine Rationalität, seinen Geschmack und sein ethisches Verhalten betrifft, kann sie auch keine Welt fordern, die der Einflussnahme eines mit Persönlichkeit ausgestatteten Wesens verschlossen
wäre. Mehr noch: es wäre in einer solchen geschlossenen Welt gar kein
Wesen denkbar, dass in der Lage wäre, Wissenschaft zu betreiben! Wer
also die Existenz Gottes und die Möglichkeit der göttlichen Einflussnahme auf das Geschehen der Welt negiert, hat keine wissenschaftlich
fundierte Begründung für seine Aussagen. Letztlich ist es nicht die Wissenschaft, die Gott negiert, sondern die ideologische Überheblichkeit des
Szientismus.

Die Tatsache, dass in Bezug auf den Mensch die wissenschaftliche Beschreibung an ihre Grenzen stößt, ist kein Zufall. Nach Aussage der Bibel
wurde der Mensch „zum Bilde Gottes“ geschaffen. Seine Stellung in der
Natur ist daher von gewissen Analogien zur Beziehung Gottes zur Welt
geprägt. Versucht man, Gott aus seinem Weltbild auszuklammern, muss
man sich gezwungenermaßen der schwierigen Frage stellen, wie die Position des Menschen in einem solchen Weltbild adäquat definiert werden
kann.

Steven Pinker: „Desaster des Postmodernismus“

Der Harvard-Professor Steven Pinker hat sich in dem Aufsatz „Science Is Not Your Enemy“ seinen Frust von der Seele geschrieben. Wie Telepolis meldet, plädiert er dafür, „dass sich Geisteswissenschaften vom ‚Desaster des Postmodernismus, mit seinem trotzigen Obskurantismus, seinem dogmatischen Relativismus und seiner erstickenden politischen Korrektheit‘ abwenden und der Naturwissenschaft zuwenden sollten, deren neue Erkenntnisse seiner Ansicht nach das Potenzial haben, andere Disziplinen zu befruchten.“

Weiter heißt es:

Dabei hätten die Geisteswissenschaften Pinker zufolge ein paar neue Ideen vonseiten der Naturwissenschaften bitter nötig: In den USA gehen die Studentenzahlen nämlich vielerorts zurück und die Absolventen solcher Fächer müssen sich zunehmend in schlecht bezahlten Jobs verdingen oder finden gar keine Arbeit. Neben antiintellektuellen Tendenzen in der US-Kultur und einer zunehmenden Kommerzialisierung der Universitäten sieht der Experimentalpsychologe die Ursache dafür auch bei den Fächern selbst: Sie hätten sich zu lange im postmodernen Dogmatismus ausgeruht und nichts wirklich Neues auf die Beine gestellt. Angeblich beklagen sich Hochschulleiter zunehmend, dass Geisteswissenschaftler immer nur Besitzstände wahren wollten, wenn sie mit etwas ankommen, während Naturwissenschaftler stets aufregende neue Projekte vorzuweisen hätten, wenn sie um Mittel ersuchen.

Nun ist der von Pinker verteidigte Szientismus sicher keine Antwort auf die Fragen der Zeit. Seine Analyse trifft den Nagel allerdings auf den Kopf und es mehren sich die Zeichen dafür, dass an den Universitäten der Widerstand gegenüber dem geistlosen postmodernen Dogmatismus wächst. Ich kann es den Studenten nur wünschen.

Grotesker Szientismus

Katrin Hummel hat in der FAZ einen Beitrag über das Thema „Sex in der Partnerschaft“ veröffentlicht. Darum geht es: Wenn einer häufiger Sex möchte als der andere, stürzt das manche Paare in eine schwere Krise. Oft sind es die Männer, die ihre Lust als normal darstellen und die Unlust ihrer Partnerin als therapiebedürftig einstufen.

Manche dürfte das Thema sehr interessieren, andere eher weniger. Ich hatte beim Lesen des letzten Abschnitts eine hohe Aufmerksamkeitsbindung. Denn dort treibt der neuzeitliche Szientismus, nach dem sich allein mit naturwissenschaftlichen Methoden alle sinnvollen Fragen beantworten lassen, doch recht seltsame Blüten. Zitat:

Dass ein sexuell erfülltes Leben auch bei betagten Paaren möglich ist und die Ehe keine „Institution zur Lähmung des Geschlechtstriebs“ ist, wie Gottfried Benn es formuliert hat, ist nun sogar bewiesen. Vor kurzem konnte im MRT erstmals nachgewiesen werden, dass es Paare gibt, die nach dreißig Jahren noch richtig verliebt ineinander sind.

Hier der Artikel: www.faz.net.

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