Ulf Poschardt

Wie die Wissenschaft Vertrauen verspielt

Wenn die Wissenschaft im postmodernen Modus sich machtpolitischen Interessen verschreibt, geht – zurecht – das Vertrauen in die Brüche (vgl. hier). Jean François Lyotard hat das Phänomen in Das postmoderne Wissen so beschrieben (2. korrigierte Aufl., 1999, S. 135):

Die Erbringung des Beweises, im Prinzip nur Teil einer Argumentation, die selbst bestimmt ist, die Zustimmung der Empfänger der wissenschaftlichen Nachricht zu erreichen, gerät so unter die Kontrolle eines anderen Sprachspiels, wo der Einsatz nicht die Wahrheit, sondern die Performativität ist, das heißt das bessere Verhältnis von Input/Output. Der Staat und/oder das Unternehmen geben die Erzählung der idealistischen oder humanistischen Legitimierung auf, um den neuen Einsatz zu rechtfertigen: Im Diskurs der stillen Teilhaber von heute ist der einzig kreditwürdige Einsatz die Macht (puissance). Man kauft keine Gelehrten, Techniker und Apparate, um die Wahrheit zu erfahren, sondern um die Macht zu erweitern.

Ulf Poschardt beschreibt, was passiert, wenn eine laute Minderheit der Forscher-Community die Grenze zum politischen Aktivismus überschreitet – ob es nun um Verkehr, Migration oder Klima geht.

Derweil greift in der Wissenschaft die aktivistische Poetik weiter um sich. Seien es Armutsforscher, Verkehrswissenschaftler oder Migrationsforscher: Die Neigung, den eigenen Erkenntnisdrang frei von politischen Überlegungen zu reflektieren, nimmt auf breiter Front ab.

Die aktivistischen Wissenschaftler haben in der Öffentlichkeit die Wissenschaft in Verruf gebracht. Aber eben nicht die unzähligen fleißigen, unbestechlichen, unangepassten, präzisen, neugierigen, nicht zu instrumentalisierenden Wissenschaftler, sondern allein die laute Minderheit, die sich die Trends eines vermeintlich unproblematischen Technik-Positivismus zu eigen gemacht hat. Die Wissenschaft hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Freundlicher formuliert könnte man sagen: Der Zweifel an ihrer Unbestechlichkeit ist zurück, weil das blinde Vertrauen in sie immer schon falsch war.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Die Politisierung der Weihnachtsbotschaft

Ulf Poschardt, Chefredaktor der WELT, hat mit einer Kurznachricht bei Twitter einen Streit über die Politisierung der Weihnachtsbotschaft ausgelöst. Er schrieb in seinem Tweet: „Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den #Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?“

Derbe Repliken ließen nicht lange auf sich warten. Über die Lawine, die Poschardt losgetreten hat, schreibt die NZZ:

Binnen weniger Stunden sah sich Poschardt einem Sturm an Kommentaren ausgesetzt, deren Tonfall rapide ungemütlicher wurde. Die einen versuchten mit Bibelzitaten nachzuweisen, dass Jesus tatsächlich der erste Jungsozialist war – ungeachtet des neunten und zehnten Gebots und zahlreicher konträrer Lehren des Neuen Testaments, etwa vom Zinsgroschen oder den anvertrauten Zentnern bei Matthäus. Andere konzentrierten sich auf die Dämonisierung des Übeltäters. Unter #PoschardtEvangelium verbreiteten sie, was der bekennende Marktfreund ihrer Meinung nach am liebsten beim Kirchgang gehört hätte. «Bittet, so wird euch gegeben! Zumindest ein bisschen. Wir müssen einsehen, dass der Sozialstaat seine Grenzen hat.» Oder kürzer: «Und Jesus sprach zu den Bedürftigen: Der Markt wird’s schon richten.» Der frühere grüne Bundesminister Jürgen Trittin, der nie weit ist, wenn es darum geht, die vermeintlich hässliche Fratze der bürgerlichen Gesellschaft zu entlarven, empfahl als verspätetes Weihnachtsgeschenk für Poschardt eine leere «AfD-Krippe», ohne Juden, Araber und Flüchtlinge.

Die Grüne-Jugend-Sprecherin Ricarda Lang sagte der FAZ:

Ich finde es ziemlich bezeichnend, dass es ihm anscheinend extrem widerstrebt, wenn in der Kirche ein menschliches und solidarisches Miteinander vertreten wird. Für uns ist Humanität ein gesamtgesellschaftlicher Anspruch – für Ulf Poschardt scheint Nächstenliebe hingegen eine links-grün-versiffte Marotte für Jusos und Grüne Jugend zu sein. Das sagt mehr über Herrn Poschardt aus als über die Kirche – und auch mehr als über die Grünen … Ihm geht es mit seinem Tweet nicht darum christliche Werte zu schützen, sondern darum, sein total veraltetes Weltbild zu verteidigen und sich gegen ein solidarisches Miteinander zu stellen. Und diese Haltung wünscht er sich offenbar auch von den Kirchen. Vielleicht hätte er gestern lieber mal zuhören sollen, statt gehässige Tweets abzusetzen.

Sehr interessant ist, dass Ricarda Lang dem Redakteur eine Form des Vernunft-Fundamentalismus vorwirft und gleichzeitig behauptet: Es gibt derzeit nur eine vernünftige und notwendige Politik, nämlich diejenige, die wir als Grüne Jugend und Jusos wollen.

Er stellt sich selbst als letzte Bastion der Vernunft dar, während er eigentlich nur ein Problem damit hat, dass die Kirche sich progressiver aufstellt oder Grüne Jugend und Jusos für eine humanitäre Geflüchtetenpolitik streiten, also genau das tun, was angesichts der globalen Lage vernünftig und notwendig ist.

So einfach ist das also? Wer die links-grüne Weihnachtsbotschaft anzweifelt, wird sofort ich die rechte Ecke geschoben und mit dem Fundamentalismusvorwurf belegt. Zugleich wird sendungsbewusst die einzig vernünftige und notwendige Lösung präsentiert. Natürlich in politisch korrekter Sprache.

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