Soziologie

Silke Edelmann: „Lassen wir uns von dem Buch zum radikalen Weiterdenken herausfordern“

Silke Edelmann schreibt in ihrer ausfĂĽhrlichen Rezension des Buches Der Siegeszug des modernen Selbst von Carl Trueman (Bulletin, Nr. 27-28, 2023):

Das Verständnis von Sexualität und Sexualethik in der westlichen Welt, die man gemeinhin als christliche Zivilisation bezeichnet, hat sich in den letzten 60 Jahren rasant verändert. Wie es dazu kam, dem geht der englische Theologe und Kirchenhistoriker Carl R. Trueman nach. Die gesellschaftliche Debatte ist moralisch aufgeladen, doch die Ursachen des Wandels liegen tiefer. Wurde die Sexualität des Menschen seit jeher in einem spirituell-metaphysischen Rahmen gedeutet, wurde die metaphysische Rückbindung in der Neuzeit zunehmend aufgekündigt. Immer mehr verlagerte sich die maßgebliche moralische Instanz in das Innere des Subjekts, während äußere Maßgaben zunehmend hinterfragt wurden.

Anhand der Ideengeschichte arbeitet Trueman heraus, warum das Bekenntnis zu traditionellen Moralvorstellungen heute eine so heftige Gegenreaktion hervorruft. Gemäß den gängigen postmodernen Narrativen beruht die Rückbindung des Menschen an eine metaphysische Realität auf einer Fiktion. Im Rückgriff auf das marxsche Diktum, Religion sei Opium für das Volk, argumentieren vor allem linke Denker, dass jede metaphysische Weltanschauung das Instrument einer Elite zur Durchsetzung ihrer Interessen darstellt.

Christen, die ihre ethischen Erwägungen metaphysisch verankert wissen möchten, müssen ein Verständnis dafür entwickeln, wie der neuzeitliche Subjektivismus, der auch die Theologie geprägt hat, diese Verankerung erodiert, um Perspektiven aufzuzeigen, wie christliche Apologetik dem entgegenwirken könnte. 

Mehr: www.dijg.de.

Die Schwerelosigkeit Gottes

David Wells schreibt in God in the Wasteland (1994, S. 88):

Es ist eines der entscheidenden Merkmale unserer Zeit, dass Gott heute schwerelos ist. Ich meine damit nicht, dass er ätherisch ist, sondern dass er unwichtig geworden ist. Er ruht so unbedeutend auf der Welt, dass er nicht wahrgenommen wird. Er hat seine Bedeutung für das menschliche Leben verloren. Diejenigen, die den Meinungsforschern versichern, dass sie an die Existenz Gottes glauben, mögen ihn dennoch für weniger interessant halten als das Fernsehen, seine Gebote für weniger verbindlich als ihre Gier auf Wohlstand und Einfluss, sein Urteil für nicht ehrfurchtgebietender als die Abendnachrichten und seine Wahrheit für weniger zwingend als den süßen Nebel der Schmeicheleien und Lügen der Werbeindustrie. Das ist Schwerelosigkeit. Es ist ein Zustand, den wir ihm zugewiesen haben, nachdem wir ihn an den Rand unseres säkularisierten Lebens gedrängt haben.

Spätmoderne in der Krise

Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa schreiben in ihrem Vorwort zum Buch Spätmoderne in der Krise über die Partikularisierungsthese von Jean-François Lyotard (Suhrkamp, 2021, S.11):

Von Jean-François Lyotard stammt bekanntlich die 1979 in Das postmoderne Wissen entfaltete These, dass wir am „Ende der großen Erzählungen“ der Moderne und der Modernisierung angelangt seien. Die großen Theorien gesellschaftlicher Entwicklung, welche die klassische Moderne prägten, hätten in der Postmoderne an Kredit verloren, gefragt seien nur mehr die „kleinen Erzählungen“, die spezifischen Analysen: lokal, zeitlich und sachlich begrenzt. Lyotards Kritik am Erbe der Geschichtsphilosophie und an deren aus heutiger Sicht naiv und einseitig anmutenden Fortschrittsgeschichten war sicherlich berechtigt – aber mit seiner Prognose, dass damit die umfassenden theoretischen Deutungsversuche überflüssig werden, lag er letztendlich falsch. Genau das Gegenteil ist inzwischen eingetreten.

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