Das Problem mit der evangelikalen Elite

Gern wird in Deutschland das Narrativ verbreitet, die Evangelikalen hätten viel zu viel Macht und würden dadurch eine freie Gesellschaft gefährden. Zu einem ganz anderen Ergebnis kommt Aaeon M. Renn in seiner Analyse. Seiner Meinung nach gibt es, anders als bei den Katholiken, keine einflussreiche evangelikale Elitein Nordamerika:

Das Problem mit der evangelikalen Elite ist, dass es keine gibt. Nur sehr wenige evangelikale Christen bekleiden Führungspositionen in den kulturprägenden Bereichen der amerikanischen Gesellschaft. Evangelikale leiten keine Filmstudios, sind keine Chefredakteure großer Zeitungen und keine Präsidenten von Eliteuniversitäten. Es gibt keine Evangelikalen am Obersten Gerichtshof. Es gibt kaum führende evangelikale Akademiker oder Künstler. Es gibt nur wenige Evangelikale in den Führungsetagen der Finanzwelt. Die prominenten Evangelikalen im Silicon Valley lassen sich an einer Hand abzählen. Es gibt nicht einmal viele Evangelikale, die einflussreiche konservative Thinktanks und Publikationen leiten, obwohl die Evangelikalen eine der größten und wichtigsten Wählergruppen in der republikanischen Koalition sind.

Zwei Bereiche sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen: Politik und Wirtschaft. Viele Evangelikale sind in der Politik erfolgreich. Glenn Youngkin, der Gouverneur von Virginia (und einer der wenigen Evangelikalen, die eine Spitzenposition in der Hochfinanz innehatten, als Co-CEO der Carlyle Group), ist einer davon; Jim Banks, der Junior-Senator aus Indiana, ist ein weiterer.

Es gibt auch viele evangelikale Führungskräfte und Unternehmer. Diese sind jedoch eher in profitablen, aber prosaischen Branchen mit begrenztem kulturellem Einfluss zu finden: Gastronomie (Chick-fil-A), Einzelhandel (Hobby Lobby), Vertrieb (Gordon Food Service) oder Öl und Gas. Im Gegensatz dazu stehen Rupert Murdochs Medienimperium, Google oder BlackRock. Große Medien prägen Überzeugungen und kulturelle Narrative; die Algorithmen von Google bestimmen, was wir online sehen; die Investitionskriterien von BlackRock veranlassen CEOs zum Handeln. Nur wenige Unternehmen mit einem solchen Einfluss werden von Evangelikalen geführt.

Und: 

Ich habe R. R. Reno gefragt, und er hat darauf hingewiesen, dass die letzten beiden Chefredakteure des Wall Street Journal überzeugte Katholiken waren. Charles Taylor, wohl einer der drei oder vier einflussreichsten lebenden Philosophen, ist katholisch. Leonard Leo, der Architekt von Donald Trumps Umgestaltung der Justiz, ist katholisch. Und dann sind da noch der Vizepräsident und sechs der neun Richter des Obersten Gerichtshofs.

Die Evangelikalen selbst haben sich gefragt, warum sie unter ihrem zahlenmäßigen Gewicht bleiben. Der Historiker Mark Noll schrieb über „den Skandal des evangelikalen Geistes” und wies auf den Anti-Intellektualismus der Bewegung hin. Der Evangelikalismus ist stark populistisch, und diese Ausrichtung führt zu Misstrauen gegenüber Institutionen und Eliten.

Die evangelikale Theologie vernachlässigt die Schöpfung und hat im Gegensatz zum historischen Protestantismus keine Tradition des Naturrechts. Der Schwerpunkt liegt auf der Rettung von Seelen. Die evangelikale Kultur neigt auch dazu, die Rolle der Frau im Familienleben zu betonen, was der Entstehung weiblicher Eliten entgegenwirkt. Evangelikale sind allzu oft in ihren parallelen Institutionen, wie christlichen Hochschulen, eingeschlossen, die sie von den Wegen und Netzwerken der Elite fernhalten. Sie stehen Macht und deren Ausübung zutiefst misstrauisch gegenüber. In gewisser Weise kommt das Streben nach Elite-Status einem Verrat an der evangelikalen Kultur, wenn nicht sogar an den evangelikalen Überzeugungen gleich.

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