„Moral hat sich verselbstständigt“

Vom Übermenschen, der nur nach eigenen Interessen entscheidet, träumte Nietzsche. Diese Sorte Mensch dominiert heute, behauptet die finnisch-deutsche Schriftstellerin Beile Ratut in ihrem Buch Kompendium des Übermenschen. Sie sagt: „Auch moralische Maßstäbe werden einer Nutzen-Agenda unterworfen.“ Auszug:

Nietzsche hat ja insofern Recht, dass wir wirklich in einer Verkettung von Ursache und Wirkung leben. Es gibt natürliche Gesetzmäßigkeiten in der Physik, aber es gibt natürlich auch in unserem Leben immer Gesetzmäßigkeiten. Man verliebt sich auch aufgrund hormoneller Situationen oder man lebt in einer Verkettung von Racheakten oder von Abhängigkeiten. Also die Dinge werden immer fortgetragen. Ich glaube, dass der Mensch sich aber danach sehnt, aus dieser Verkettung herauszubrechen, dass etwas geschieht, das diese Verkettung durchbricht. Und das ist vom Menschen her eben gar nicht so einfach möglich.

Wenn Sie in die Bibel schauen, da ist es ja so, dass ganz viele Dinge außerhalb der Gesetzmäßigkeiten entstanden sind, also Jesus ist aus einer Jungfrau geboren worden. Oder David wurde erwählt, obwohl er vom Menschlichen her überhaupt nicht wahrscheinlich war. Also da waren andere Brüder waren viel schicker als David und wurden  aber eben nicht gewählt. Ich denke, der Mensch hat, wenn er irgendwo gesund oder ausgereift ist, eine Sehnsucht nach der Durchbrechung dieser Kette. Danach, dass etwas in unser Leben kommt, das wir eben nicht verdient haben, weil wir instinktiv spüren, dass wir viele Dinge, die wir haben, nur haben, weil wir schön sind oder erfolgreich sind, weil es uns aufgrund unserer Leistung zugefallen ist. Aber letzten Endes spüren wir ein Unbehagen darüber.

Ein außergewöhnliches Interview mit der Schriftstellerin Beile Ratut, veröffentlicht bei DLF. Der Redakteurin Christiane Florin bleibt hin und wieder die Luft weg.