Christoph Raedel

Transformative Ethik – eine selbstgestrickte Anleitung zum „gelingenden Leben“

Christoph Raedel und Bernd Wannenwetsch haben eine sachliche und notwendige Kritik der Transformativen Ethik von Thorsten Dietz und Tobias Faix verfasst. Ich kann nur hoffen, dass dieses auf drei Bände angelegte Werk es nicht in die evangelikalen Ausbildungsstätten schafft. Es gab ja schon allerlei Versuche, den Entwurf hochzuloben. Steffen Kern, neuer Präses des Gnadauer Verbandes, schrieb etwa:

Diese Ethik ist in vielfacher Hinsicht ein besonderes Buch: Die Autoren machen ihre Glaubens- und Denkgeschichte selbst zum Thema, reflektieren ihre theologische Existenz und wissenschaftliche Perspektive innerhalb der großen Geschichte Gottes mit seiner Welt, um in der weiten Landschaft der Multioptionalität Wege zum Leben zu eröffnen.

Ist Selbstreflexion das, was man von einer Ethik erwartet? Trifft hier nicht genau die Kritik am postmodernen Ethos, die Nils Heisterhagen formuliert hat: Das postmoderne Subjekt schaut immer mehr auf sich, die Kategorie des Allgemeinen ist aufgegeben? Landen wir so bei einer expressionistischen Ethik?

Der FeG-Pastor Sebastian Rink, selbst Unterstützer der Initiative Coming-in, hat sogar geschrieben:

Thorsten Dietz und Tobias Faix ist nicht weniger gelungen als eine Ethik für die Gemeinde! Mit ihrem Anspruch, die Ethik bei den biblischen Narrativen beginnen zu lassen, zielen sie – sicher aus Überzeugung – besonders auf Gemeinden und Christ:innen, die sich in irgendeiner Weise als „evangelikal“ verstehen und von der Bibel her denken. Ihrer „Transformativen Ethik“ gelingt es vorzüglich, die Brücke zwischen engagierter Bibelfrömmigkeit und reflektierter theologischer Ethik zu schlagen. Damit leisten sie (hoffentlich) nicht nur Beiträge für die Ethik, sondern ihre „Einführung in eine Ethik zum Selberdenken“ ist zugleich ein Grundkurs in Fragen des Bibelverständnisses und eines reflektierten Bibelgebrauchs.

Faix und Dietz vermitteln nachvollziehbar zwischen ihrer großen Wertschätzung und einer bleibenden ethischen Bedeutung der biblischen Erzählung(en) und der Tatsache, dass die Welt sich in den letzten 2000 Jahren immer rasanter weitergedreht hat. Immer wieder machen sie mit ihrer Metapher von „Karte und Gebiet“ aufmerksam auf den Kontext, in dem Bibel und Gegenwart sich bewegen.

Aha. Irgendwie logisch. Wenn sich der Glaube weiterentwickelt, dann entwickelt sich auch die Ethik weiter. Die Heilige Schrift ist nicht mehr Norm der Ethik, sondern nur noch das Sprungbrett für eine „höhere Ethik“.

Das Fazit von Christoph Raedel und Bernd Wannenwetsch in ihrer Rezension zur Transformativen Ethik lautet:

Angesichts der in der Summe doch befremdlichen Vergessenheit im Hinblick auf elementare Grundfesten der christlichen Ethik (Schrift, Tradition, Sünden‑/Gnadenlehre, Gemeinde) vermag es dann auch kaum zu verwundern, wenn der Begriff, der den Titel des Buches bildet: „Transformation“ hier in einer Verengung gebraucht wird, der der Tradition theologischer Ethik in keiner Weise gerecht wird. Was die Vf. unter „Transformation“ verstehen, ist im Kern nichts anderes als das Konglomerat von verschiedenen Transformationsprozessen von Individuum und Gesellschaft, wie diese von verschiedenen empirischen Disziplinen beschrieben werden. In der Rhetorik des „Ernstnehmen-müssens“ solcher Prozesse wird undeutlich, dass die christliche Ethik von einer sehr spezifischen Vorstellung von Transformation geleitet ist: der „Hineingestaltung in das Bild Christi“, oder traditionell gesprochen: der Heiligung. Eine Ethik ist dann als christliche greifbar, wenn sie den geistgewirkten Vorgang der Transformation des alten Adam in die neue Schöpfung in seiner Tiefenschärfe konturiert, gerade auch im erhellenden Kontrast zu den vielfältigen säkularen Transformationsprozessen, in die auch Christenmenschen eingespannt sind – „Schematisierungen“ (Röm 12,2), die es aus dem Geist des Evangeliums her zu erkennen, zu beurteilen und denen es gegebenenfalls zu widerstehen gilt. So bietet sich hier ein Buch, von dem zu fragen bleibt, inwiefern es tatsächlich als Lehrbuch christlicher Ethik verstanden werden will und fungieren kann. Wie die drei aneinander gereihten Titel des Werkes „Transformative Ethik – Wege zum Leben – Einführung in eine Ethik zum Selberdenken“ andeuten, in denen „christlich“ gar nicht vorkommt, haben wir es hier eher mit einem weiteren von zahlreichen Büchern auf dem gegenwärtigen Markt zu tun, in dem eine selbstgestrickte Anleitung zum „gelingenden Leben“ geboten wird, zu dem hier auch die ethische Reflexion als dazugehörig verstanden wird. Hierfür bedienen sich die Vf. gewiss auch einer langen Reihe ausgewählter Gedanken und Motive aus der christlichen Tradition. Dies mag das Buch für ein christliche Leserschaft interessant machen, es sollte aber nicht mit einem Lehrbuch christlicher Ethik verwechselt werden.

Hier die vollständige Rezension: rezensionen.afet.de.

Sterbehilfe: Scharfe Kritik an Forderung evangelischer Theologen

Ich bin ja froh, dass die Forderung führender evangelischer Theologen, in Deutschland einen assistierten professionellen Suizid zu ermöglichen, auf breite Kritik gestoßen ist. Besonders gefällt mir die Reaktion von Prof. Christoph Raedel, der darauf aufmerksam macht, dass der Verweis auf die Selbstbestimmung des Menschen theologische Begründungen ersetzt. 

Der Professor für Systematische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule (FTH) in Gießen, Christoph Raedel, kritisierte gegenüber idea den Verzicht auf eine tragfähige theologische Begründung, an deren Stelle der Verweis auf die Selbstbestimmung des Menschen getreten sei. Verzweiflung, Angstzustände und der Wunsch, anderen nicht zur Last zu fallen, böten keine Grundlage für ein selbstbestimmtes Sterben.

Raedel befürchtet, dass langfristig der Druck auf Ärzte und Pflegepersonal zunehmen wird, an der Suizidbeihilfe mitwirken zu müssen. Darauf deute jedenfalls die Aussage hin, dass sich kirchliche Einrichtungen dem Wunsch einer Person nicht verweigern dürften, die ihrem Leben mit ärztliche Hilfe ein Ende setzen will. Im Selbstverständnis kirchlicher Einrichtungen rücke damit der Sterbewunsch von Menschen vor das Bekenntnis zu Gott als Schöpfer und Erhalter des Lebens.

Mehr hier: www.idea.de.

Organspende? Christlich-ethische Entscheidungshilfen

Die nachfolgende Rezension zu dem Buch:

  • Christoph Raedel. Organspende? Christlich-ethische Entscheidungshilfen. Gießen: Brunnen Verlag, 2019. ISBN 978-3-76554345-6. € 9,95.

erschien in der Zeitschrift GLAUBEN UND DENKEN HEUTE 1/2019 (Nr. 23), S. 54–55):

41hms3Ey4fL SX320 BO1 204 203 200Seitdem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) seinen Gesetzentwurf zur Organspende vorgelegt hat, wird im öffentlichen und privaten Raum wieder einmal intensiv über das Spenden von Organen debattiert. Die Gruppe um Spahn und den SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach will rechtlich eine sogenannte „Widerspruchslösung“ durchsetzen. Diese sieht vor, dass sich jeder Bürger ab 18 Jahren entscheidet, ob er zur Organspende im Fall des eigenen Hirntods bereit ist. Jugendliche ab 16 Jahren sollen die Möglichkeit bekommen, sich aktiv als Organspender zu melden. Widerspricht man nicht oder trifft keine Entscheidung, wird man automatisch als Spender registriert.

Professor Raedel liefert nun mit seinem Buch Organspende? einen eigenen, christlich motivierten Diskussionsbeitrag. Er setzt sich auf den knapp einhundert Seiten ausschließlich mit Verpflanzungen von Organen auseinander, die Menschen nach einer Todesfeststellung entnommen wurden. Bei so einer „postmortalen Organspende“ stellen verstorbene Spender die eigenen Organe für eine Übertragung (Transplantation) zur Verfügung. Diese Spenderorgane werden dann an die passenden Patienten, die auf ein Organ warten, vermittelt. Lebendspenden oder Blutspenden werden in dem Buch nicht verhandelt, da sie Spender und Empfänger vor andere ethische Herausforderungen stellen. Auch der kriminelle Handel mit Organen wird nicht explizit beleuchtet.

Zum Eingang liefert der Autor einen kurzen Rückblick auf die noch junge Geschichte der Organspende. Obwohl wahrscheinlich schon vor 2500 Jahren in Indien Heiler in der Lage waren, Haut zu verpflanzen, und schon im 19. Jahrhundert mit Organübertragungen experimentiert wurde, konnte sich das Verfahren erst im 20. Jahrhundert durchsetzen. Seit den 70er-Jahren zählen Organverpflanzungen zu den standardisierten Maßnahmen. Die erste Niere wurde 1954 in Boston (USA) verpflanzt, das erste Herz 1963 in Südafrika (wobei der Patient allerdings wenige Tage nach der OP starb). Die größte Herausforderung für die Transplantationsmedizin war und ist die Abstoßreaktion des Organismus. Erst mit der Einführung des Immunsuppressivums Cyclosporin A Anfang der 80er-Jahre konnten die Erfolgsraten bei Übertragungen deutlich gesteigert werden. Heute ist es durch die Immununterdrückung möglich, mit Transplantationen von Nieren, Lebern, Lungen, Herzen, Bauchspeicheldrüsen oder seltener Darmgewebe das Leben eines Spendenempfängers beträchtlich zu verlängern. Gegenwärtig werden etwa bei Leberübertragungen Einjahres-Überlebensraten von über 90%, 5-Jahres-Überlebensraten von über 80% und 10-Jahres-Überlebensraten von über 70% erreicht.

Der Autor erläutert anschließend die derzeitigen rechtlichen Rahmenbedingungen und den Ablauf von Transplantationen. Er erörtert das Transplantationsgesetz vom 5. November 1997 sowie den Organspendeausweis und die Patientenverfügung. Ausführlich referiert Raedel das Hirntodkriterium (S. 25–42). Pro- und Contraargumente werden gründlich abgewogen. Letzte Spannungen lassen sich gleichwohl nicht aufheben, da bei der Todesfeststellung neben medizinischen auch philosophische Vorstellungen hineinspielen. Folgendes Zitat deutet die Grenzen einer rein medizinischen Todesfestellung an:

„Ob man der Auffassung vom Gehirn als zentraler Steuerungsinstanz des Organismus folgt oder nicht, entscheidet wesentlich darüber, wie man die intensivmedizinisch-apparativ aufrechterhaltene [sic!] Lebensfunktionen beim Hirntoten interpretiert. Dass der Hirntote unter den Bedingungen lebenserhaltender Maßnahmen wie ein Lebender aussieht, steht außer Frage. Und doch kann er die Hauptfunktionen seines Körpers, wie Atmung und Blutkreislauf, nur mit Unterstützung eines externen Apparats wie dem Beatmungsgerät aufrechterhalten. Sicherlich ist der Hinweis eindrücklich, ‚dass bei Hirntoten noch eine Wundheilung stattfindet, dass sie Fieber entwickeln können, dass sie eine Immunabwehr haben, dass bei hirntoten Kindern eine sexuelle Reifung und ein Körperwachstum zu beobachten ist, dass Hirntote auf bestimmte Reize mit einer erhöhten Herzfrequenz und mit erhöhtem Blutdruck, ja mit der Ausschüttung von Stresshormonen reagieren‘. Und doch muss man deutlich sagen, dass der Körper dies aufgrund der maschinellen Aufrechterhaltung des Herz-Kreislauf-Systems tut und er diese Aktivitäten bei Abschalten der Beatmung unverzüglich einstellen würde.“ (S. 41)

Sehr informativ und erhellend sind die Überlegungen zur Machbarkeit. Dürfen wir alles, was wir tun können? „In den postchristlichen Gesellschaften des Westens, in denen der Gottesgedanke für gesellschaftliche Debatten keinen maßgeblichen Einfluss mehr beanspruchen darf, ist die Vorstellung eines ewigen Lebens weithin verblasst. Unter diesen Voraussetzungen wird ein möglichst langes, selbstbestimmt geführtes irdisches Leben zur Leitvorstellung der liberalen Gesellschaft“ (S. 41). In Deutschland wird die Aufklärung in Sachen Organspende von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) verantwortet. Allerdings entstünde der Eindruck, dass die Zentrale mehr Werbung für Organspende als Aufklärung betreibe. Eine Untersuchung von 32 Kurzfilmen der BzgA zum Thema belege, dass tendenziell Reklamefilme entstanden seien, mit denen für die Einwilligung zur Organspende geworben werde. Die medizinischen und ethischen Probleme seien fast vollständig ausgeklammert worden. Im Mittelpunkt „stehen Organempfänger, die größtenteils als junge, sportlich aktive, gesund lebende, familiär eingebundene und produktiv im Arbeitsleben stehende Personen inszeniert werden“ (S. 49).

Die von der Gruppe um Jens Spahn angestrebte Widerspruchslösung lehnt Raedel ab. Internationale Vergleiche zeigten, dass sich Spendenbereitschaft auch ohne Zwang erreichen lasse (vgl. S. 51–53). Vor allem aber gälte: Die Widerspruchslösung „macht die Organspende faktisch — wenn auch nicht dem Wortlaut des Gesetzes nach — zur Bürgerpflicht und greift damit in das Selbstbestimmungsrecht der Person ein, weil sie das Nichtvorliegen einer Willensbekundung als Einwilligung in die Organspende deutet. Auf diese Weise werden die Organe eines Menschen quasi als Eigentum der Gemeinschaft angesehen, die mit seinem (Hirn-) Tod zur Verwertung freigegeben sind. Das aber ist unzulässig, weil eine Spende grundsätzlich die Bereitschaft zu spenden voraussetzt, diese Bereitschaft aber nicht einfach unterstellt werden darf, nur weil keine Willensbekundung vorliegt“ (S. 54).

Ab Seite 57 rücken biblisch-theologische Überlegungen in den Fokus. Der Mensch habe – so schreibt der Autor – es verlernt, als Geschöpf zu leben. Das Kernproblem menschlichen Daseins läge „in der Unfähigkeit, sich in heilsamer Selbstbegrenzung zu üben“ (S. 59). Nur wer sein irdisches Leben im Horizont der Ewigkeit lebe, werde gleichermaßen frei von Lebensverachtung und Lebensvergötterung. Einerseits könne zwar die Theologie die medizinischen Unsicherheiten nicht verbindlich klären. Andererseits dürften ethische Fragen nicht einfach offengelassen werden. Zwar liefere so Raedel – die Bibel, wie auf anderen Gebieten moderner Wissenschaftspraxis auch, keine direkten Antworten. Sie gebe aber ein Orientierungswissen, eine „Einweisung in ein Leben der Christus-Nachfolge“ (S. 80). Der Verfasser spürt den verschiedenen Argumentationssträngen nach und wägt sie sachlich ab. Er will dem Leser die Verantwortung für die eigene Entscheidung nicht abnehmen, sondern helfen, gut informiert eigene Urteile zu fällen.

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