Theologie als Kriterium der Unwahrheit
Heinrich Meier schreibt in seinem Buch über Ecce homo und der Antichrist (Heinrich Meier, Nietzsches Vermächtnis: Ecce homo und Der Antichrist, München: C.H. Beck, 2019, S. 189):
Es ist Teil von Nietzsches Politik der Umwertung, daß sie ein Vorurteil gegen die Theologen zu wecken und zu pflanzen sucht. Dazu zählen die polemische Faustregel, was ein Theologe als wahr empfindet, das muß falsch sein, woran man beinahe «ein Kriterium der Wahrheit» habe, oder die nicht weniger hyperbolische Behauptung, der «Selbsterhaltungs-Instinkt» des Theologen verbiete, «dass die Realität in irgend einem Punkte zu Ehren oder auch nur zu Worte käme». Die Politik der Umwertung übersetzt den Streit um die Wahrheit in einen Kampf, in dem die Bejahung des Lebens auf den «Willen zum Ende» trifft, und in einen Konflikt, in dem das Wir der Philosophen sich gegen den «nihilistischen Willen» der Theologen wappnen muß, der zur Macht will.
Nietzsche verstand es gut, den Geist der Zeit zu bündeln und vorausschauend die Dinge auf den Punkt zu bringen.
Die christliche Theologie nimmt heute in den intellektuellen und ethischen Debatten kaum noch jemand ernst. Sicher ist das Ausdruck der Säkularisierung. Ich rate den Theologen freilich, sich an die eigene Nase zu fassen. Was haben denn Theologen heute noch zu sagen? Statt in die Säkularisierung einzustimmen, wäre es so wichtig, zu zeigen, dass Gott wirklich gesprochen hat. Die Heilige Schrift gibt Antworten auf die Fragen, die wirklich wichtig sind. Das aber kann heute kaum ein Theologe noch so sagen.
Im Original klingt Nietzsche übrigens so (Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, Absatz 9–10):
Diesem Theologen-Instinkte mache ich den Krieg: ich fand seine Spur überall. Wer Theologen-Blut im Leibe hat, steht von vornherein zu allen Dingen schief und unehrlich. Das Pathos, das sich daraus entwickelt, heißt sich Glaube: das Auge ein für alle Mal vor sich schließen, um nicht am Aspekt unheilbarer Falschheit zu leiden. Man macht bei sich eine Moral, eine Tugend, eine Heiligkeit aus dieser fehlerhaften Optik zu allen Dingen, man knüpft das gute Gewissen an das Falschsehen – man fordert, daß keine andre Art Optik mehr Wert haben dürfe, nachdem man die eigne mit den Namen »Gott«, »Erlösung«, »Ewigkeit« sakrosankt gemacht hat. Ich grub den Theologen-Instinkt noch überall aus: er ist die verbreitetste, die eigentlich unterirdische Form der Falschheit, die es auf Erden gibt. Was ein Theologe als wahr empfindet, daß muß falsch sein: man hat daran beinahe ein Kriterium der Wahrheit. Es ist sein unterster Selbsterhaltungs-Instinkt, der verbietet, daß die Realität in irgendeinem Punkte zu Ehren oder auch nur zu Worte käme. So weit der Theologen-Einfluß reicht, ist das Wert-Urteil auf den Kopf gestellt, sind die Begriffe »wahr« und »falsch« notwendig umgekehrt: was dem Leben am schädlichsten ist, das heißt hier »wahr«, was es hebt, steigert, bejaht, rechtfertigt und triumphieren macht, das heißt »falsch«… Kommt es vor, daß Theologen durch das »Gewissen« der Fürsten (oder der Völker –)hindurch nach der Macht die Hand ausstrecken, zweifeln wir nicht, was jedesmal im Grunde sich begibt: der Wille zum Ende, der nihilistische Wille will zur Macht …
Unter Deutschen versteht man sofort, wenn ich sage, daß die Philosophie durch Theologen-Blut verderbt ist. Der protestantische Pfarrer ist Großvater der deutschen Philosophie, der Protestantismus selbst ihr peccatum originale. Definition des Protestantismus: die halbseitige Lähmung des Christentums – und der Vernunft… Man hat nur das Wort »Tübinger Stift« auszusprechen, um zu begreifen, was die deutsche Philosophie im Grunde ist – eine hinterlistige Theologie… Die Schwaben sind die besten Lügner in Deutschland, sie lügen unschuldig… Woher das Frohlocken, das beim Auftreten Kants durch die deutsche Gelehrtenwelt ging, die zu drei Vierteln aus Pfarrer- und Lehrer-Söhnen besteht – woher die deutsche Überzeugung, die auch heute noch ihr Echo findet, daß mit Kant eine Wendung zum Besseren beginne? Der Theologen-Instinkt im deutschen Gelehrten erriet, was nunmehr wieder möglich war… Ein Schleichweg zum alten Ideal stand offen, der Begriff »wahre Welt«, der Begriff der Moral als Essenz der Welt (– diese zwei bösartigsten Irrtümer, die es gibt!) waren jetzt wieder, dank einer verschmitzt-klugen Skepsis, wenn nicht beweisbar, so doch nicht mehr widerlegbar… Die Vernunft, das Recht der Vernunft reicht nicht so weit… Man hatte aus der Realität eine »Scheinbarkeit« gemacht; man hatte eine vollkommen erlogne Welt, die des Seienden, zur Realität gemacht… Der Erfolg Kants ist bloß ein Theologen-Erfolg: Kant war, gleich Luther, gleich Leibniz, ein Hemmschuh mehr in der an sich nicht taktfesten deutschen Rechtschaffenheit – –