Konstruktivismus

Der Realismus kehrt zurück

Auch der Soziologe Wolfgang Sofsky erkennt eine (notwendige) Rückkehr des Realismus und macht Mut, den allgegenwärtigen Konstruktivismus zu hinterfragen (vgl. hier):

Zu den dümmlichsten Ideen der Gegenwart gehört die Vorstellung, es gebe überhaupt keine Tatsachen und Wahrheiten, sondern nur Meinungen, standortgebundene Vorurteile, relative Konstruktionen. Die Wirklichkeit verschwindet hinter einem Gewölk von Bildern und Vorstellungen. Sogar die blutende Wunde, die beim Anrennen des Kopfes gegen Eisenbeton entsteht, sei zuletzt nur eine Konstruktion. Dabei spürt der Verletzte nur zu gut, dass das Bild von der Wunde nicht die Wunde selbst ist.

Mehr in der NZZ: www.nzz.ch.

Wer und was dominiert die Sozialwissenschaften?

Heute habe ich in einer sozialwissenschaftlichen Datenbank mit Werken aus den Jahren 1915 bis 2012 nach dem Schlagwort „Michel Foucault“ recherchiert. Ich fand 2529 Quellen. Karl Popper ist 134 Mal, Jürgen Habermas gleich 3586 Mal verschlagwortet. Eine Anfrage zu Bonhoeffer in der gleichen Datenbank lieferte dagegen nur eine Quelle. Das Schlagwort „Realismus“ war 491 Mal, „Konstruktivismus“ dagegen 1648 Mal indexiert.

Vieles, was in diesen Werken steht, ist allerdings nur Hirngespinst, wie sich leicht mit einem Zitat von Michel Foucault beweisen lässt (Michel Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier, 1996, S. 28):

Das Problem der Wahrheit dessen, was ich sage, ist für mich ein sehr schwieriges, ja sogar das zentrale Problem. Auf diese Frage habe ich bisher niemals geantwortet. Gleichzeitig benutze ich jedoch ganz klassische Methoden: die Beweisführung oder zumindest das, was in historischen Zusammenhängen als Beweis gelten darf – Verweise auf Texte, Quellen, Autoritäten und die Herstellung von Bezügen zwischen Ideen und Tatsachen; Schemata, die ein Verständnis ermöglichen, oder Erklärungstypen. Nichts davon ist originell. Insoweit kann alles, was ich in meinen Büchern sage, verifiziert oder widerlegt werden, nicht anders als bei jedem anderen historischen Buch.

Trotzdem sagen die Leute, die mich lesen, und besonders diejenigen, die von meiner Arbeit etwas halten, oft lächelnd: „Im Grunde weißt du genau, daß alles, was du sagst, nur Fiktion ist.“ Ich antworte stets: „Natürlich; daß es etwas anderes wäre, davon kann gar keine Rede sein.“

Also: Was dominiert die Sozialwissenschaften? Schimäre!

Ist die Wirklichkeit nur ein Konstrukt?

Der Dogmatiker Wilfried Härle setzt sich in seinem Aufsatz „Die Wirklichkeit – unser Konstrukt oder widerständige Realität?“ mit dem erkenntnistheoretischen und ontologischen Konstruktivismus auseinander. Am Ende seiner Untersuchung kommt Härle nicht umhin, dem radikalen Konstruktivismus das Prädikat „außerordentlich gefährliche Theorie“ auszustellen:

Dass jede Deutung bzw. Interpretation unserer Wirklichkeitserfahrungen mittels sprachlicher, kulturell vereinbarter Zeichen die Wirklichkeit nur ungenau, unzureichend oder ganz verkehrt erfassen kann, ist wohl richtig, aber das bedeutet nicht, dass die Unterscheidung zwischen res und intellectus, zwischen Wirklichkeit und Sprache sinnlos oder überflüssig wäre, im Gegenteil: Gerade weil unser Denken und Reden so irrtumsanfällig ist, müssen wir nicht nur den Dialog untereinander suchen, um uns mit neuen Wahrnehmungen, Perspektiven und Einsichten konfrontieren zu lassen, sondern wir müssen uns dem Kontakt und der Kontrolle durch die widerständige Realität aussetzen, und dabei können wir dessen innewerden, dass es diesen Segen der Möglichkeit des Irrtums gibt, der als erkannter Irrtum ja immer schon eine Wahrheitserkenntnis, folglich der erste Schritt zum Lernen und damit zu einem angemesseneren Umgang mit der Wirklichkeit ist. Deswegen bin ich der Überzeugung, dass der Radikale Konstruktivismus grundfalsch ist. Er lebt von einer Einsicht, die an ihrer Stelle (auf der Ebene der Drittheit) richtig und wichtig ist, er generalisiert diese Einsicht und wendet sie auf Ebenen bzw. Schichten des Erkennens und der erkannten Wirklichkeit an, auf denen sie nicht gilt. Darum hat der Radikale Konstruktivismus als Theorie für mich selbst den Charakter eines Irrtums, den man erkennen und vermeiden oder überwinden kann.

Ich kann ihm in diesem Punkt nur zustimmen. Und was für ein wunderbarer Schlusssatz:

Aber gegen diese drohende – und in der Geschichte immer wieder realisierte – Ersetzung der Wahrheitsfrage durch die Machtfrage gibt es einen Impuls aus der christlichen Überlieferung, an dem wir uns nicht irremachen lassen sollten – auch um derer willen, die die Wahrheitsfrage längst vergessen oder ersetzt haben. Ich meine die Aussagen des johanneischen Christus aus Johannes 18,37 und 8,31f.: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“ und: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“. Darauf kommt es an.

Der Aufsatz „Die Wirklichkeit – unser Konstrukt oder widerständige Realität?“ ist in dem Buch:

zu finden (S. 54–68).

Hardcore-Konstruktivismus

Der Beitrag „Die Schulä fenkt an“ wird inzwischen hier weiterdiskutiert:

Lange bevor sich die vollen Konturen des Postmodernismus in unserem Alltag abzuzeichnen begannen, hatte er mit seinen führenden Denkern von Wittgenstein über Foucault und Derrida bis Rorty weite Teile der universitären Geisteswissenschaften und ihnen nahestehende intellektuelle Kreise erobert. Insbesondere seine Erkenntnistheorie, der Konstruktivismus, trat schon vor mehr als 30 Jahren seinen Siegeszug in den Humanwissenschaften an, vor allem als didaktisches Paradigma in der Pädagogik – wo die 1978 erfolgte Habilitierung des führenden deutschen konstruktivistischen Pädagogen Kersten Reich (geb. 1948) als entscheidende Wegmarke angesehen werden kann -, was um 1990 herum in der Lehrerausbildung an den Pädagogischen Hochschulen immer spürbarer wurde. Die heute immer wieder und geradezu gebetsmühlenartig kolportierten Slogans und Paradigmen, daß der Lehrer sich „zurücknehmen“ und nur noch „Lernbegleiter“ sein soll (bloß nicht in den „Wissens-Konstruktionsprozeß“ des Kindes eingreifen!), sowie die Verteufelung des Frontalunterrichts und die Kultivierung der Verachtung „harten Faktenwissens“ (Artikel „Schule in der Krise“) wie auch jeglichen „ja/nein“- und „richtig/falsch“-Denkens haben hier ihren Ursprung, der wiederum letztlich auf die postmodernistische Ablehnung der Orientierung an einer absoluten Wahrheit und einer objektiven Realität zurückgeht.

Inzwischen ist eine ganze Pädagogen-Generation mit diesem konstruktivistischen Gedankengut großgeworden, darunter auch viele Christen meiner Generation. Und fatalerweise haben sogar viele dieser christlichen Pädagogikstudenten – nicht zuletzt aufgrund ihres geringen Interesses und teilweise erschreckenden Analphabetismus hinsichtlich der biblisch-christlichen Weltsicht und ihres mangelnden Bewusstseins für die Notwendigkeit weltanschaulicher Denkfähigkeit – die während ihres Studiums gelehrten Sichtweisen übernommen (hinzu kommt noch, daß es schlechte Noten in Hausarbeiten und Prüfungen gegeben hätte, wenn man sich der Meinung des Lehrstuhls widersetzt hätte). Christen, die während ihres Pädagogik-Studiums mit dem Konstruktivismus gefüttert worden sind und nicht gelernt haben, weltanschaulich nachzudenken, machen sich schließlich die Sicht zu eigen, daß die einzige uns zugängliche Realität die in unseren Köpfen sei – mit dramatischen Folgen für ihren eigenen Glauben, in welchem damit relativistische und emergente Paradigmen Einzug halten können (was auch die positive Rezeption der Emergenten Bewegung in diesen Kreisen erklärt). Als Lehrer tragen sie dann diese Elemente in den Unterricht hinein – und zwar sowohl in den Sachgegenstand als auch in das Erziehungskonzept.

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