Matthew Crawford

Totem des Konsumkapitalismus

Matthew Crawford schreibt in Die Wiedergewinnung des Wirklichen: Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung (Berlin, 2017, S. 121–121):

Ob man sie nun als infantil oder als höchste Errungenschaft des europäischen Denkens betrachtet: Die Vorstellungen Kants sind der philosophische Ursprung der modernen Gleichsetzung von Freiheit und Wahlmöglichkeit, wobei die Wahl als bloßer Ausdruck des unbedingten Willens verstanden wird. Das ist grundlegend für das Verständnis unserer Kultur, denn der so verstandene freie Wille dient als zentrales Totem des Konsumkapitalismus, und wir halten jene, die uns die Wahlmöglichkeiten anbieten, für Diener unserer Freiheit.

Mann kann nicht behaupten, dass Kant die Grundausrichtung dieser Eingriffe verursacht hat. Aber wenn man von der Prämisse ausgeht, die stumpfsinnige Natur bedrohe unsere Freiheit als vernünftige Wesen, ist die Verlockung groß, eine virtuelle Realität zu konstruieren, die weniger real ist – ein nettes Wunderhaus, in dem das Selbst nicht mit der Welt kollidiert und in dem es keine Kontingenz gibt, die unsere Handy-Dandy-Maschine nicht vorwegnehmen könnte. Kant versuchte, die Freiheit des Willens gegen äußere Einflüsse abzuschotten und zu einem „unbedingten“ apriorischen Gesetz zu machen, aber dazu musste er den Willen in eine separate Sphäre auslagern, aus der er keine kausale Wirkung in dieser, von der Newton’schen Kausalität beherrschten Welt entfalten kann. Der Preis für diese Illusion der Autonomie ist Machtlosigkeit.

 

Ersetzung der Wirklichkeit

Matthew Crawford schreibt in Die Wiedergewinnung des Wirklichen: Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung (Berlin, 2017, S. 116):

Die schleichende Ersetzung der Wirklichkeit durch die virtuelle Realität ist ein herausragendes Merkmal des heutigen Lebens, aber sie hat Vorläufer im abendländischen Denken. Sie ist ein Kulturprojekt, das sich ausgehend von Immanuel Kants Versuch entwickelt hat, die Autonomie des menschlichen Willens zu verwirklichen, indem die materielle Wirklichkeit durch Abstraktionen gefiltert wird.

 

Aufmerksamkeitslandschaften

Matthew Crawford schreibt in Die Wiedergewinnung des Wirklichen: Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung (Berlin, 2017, S. 69–70):

Man kann es auch so ausdrücken: Im Rahmen des Befreiungsprojekts der Linken wurden überkommene kulturelle Vorrichtungen beseitigt, die dem Leben des Individuums einst eine gewisse Kohärenz verliehen hatten (die vorteilhaft oder nachteilig sein mochte). Es entstand ein kulturelles Autoritätsvakuum, das mit Aufmerksamkeitslandschaften gefüllt wurde, passend entworfen vom Entscheidungsarchitekten, der sich der Aufgabe mit größter Energie widmete. Und normalerweise handelte es sich um einen Architekten, der ein Ertragspotential sah.

 

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