Michael Polany

Die Lehre vom Zweifel

Michael Polany bläst hier in das gleich Horn wie Alvin Plantinga (Personales Wissen: Auf dem Weg zu einer postkritischen Philosophie, 2023, S. 445–446):

Mein Entschluss, meine Grundüberzeugungen mit philosophischen Mitteln zu bekunden, muss erst noch in ganzheitlicher Form dargelegt werden. Doch zunächst müssen wir uns von einem Vorurteil befreien, das sonst die Moral unseres ganzen Unterfangens untergräbt.

Während der gesamten kritischen Periode der Philosophie galt es als selbstverständlich, dass die Bejahung unbewiesener Überzeugungen die bequeme Straße in Richtung Finsternis darstellt, während man sich der Wahrheit auf dem geraden und engen Pfad des Zweifels nähert. Es wurde die Warnung ausgesprochen, dass uns seit frühester Kindheit eine Vielzahl unbewiesener Überzeugungen eingeflößt worden sei. Religiöse Dogmen, die Autorität der antiken Denker, die Lehren der Scholastiker, die Sprüche der Kinderstube – sie alle formten zusammen ein Korpus von Überlieferungen, die wir nur deshalb zu akzeptieren geneigt seien, weil diese Überzeugungen vorher schon von anderen vertreten worden waren, die wollten, dass wir sie auch unsererseits übernähmen. Wir wurden dazu angehalten, uns gegen den Druck dieser traditionsgebundenen Indoktrinierung zu wehren, indem wir das Prinzip des philosophischen Zweifels dagegen in Stellung brächten. Descartes erklärte, der universelle Zweifel solle seinen Geist von allen Meinungen säubern, die bloß auf Treu und Glauben angenommen worden waren, um ihn der fest in der Vernunft wurzelnden Erkenntnis zu öffnen. In seinen strikteren Formulierungen verbietet uns das Prinzip des Zweifels, überhaupt etwas glauben zu wollen, und es verlangt, dass wir den Geist lieber leer lassen sollen, als zu gestatten, dass Überzeugungen von ihm Besitz ergreifen, die nicht unwiderleglich sind. In der Mathematik, sagt Kant, gibt es keinen Platz für bloßes Meinen, sondern nur für echtes Wissen: »man muss wissen, oder sich alles Urteilens enthalten.«

Die Methode des Zweifels ist eine logische Folge des Objektivismus. Sie verlässt sich darauf, dass die Ausmerzung aller willensgebundenen Komponenten des Glaubens einen Wissensrest übrig lässt, der zur Gänze von objektiven Belegen bestimmt wird. Auf diese Methode hat sich das kritische Denken uneingeschränkt verlassen, um Irrtümer zu vermeiden und die Wahrheit zu erhärten.

Nun möchte ich keineswegs behaupten, dass diese Methode während der Periode des kritischen Denkens immer oder überhaupt irgendwann einmal in strenger Form angewandt worden ist (das ist ja nach meiner Überzeugung unmöglich). Vielmehr möchte ich bloß sagen, dass man sich emphatisch zu ihrer Anwendung bekannt hat, während man sich nur unauffällig und nebenbei dafür ausgesprochen hat, sie zu lockern. Zugegeben, Hume war in dieser Hinsicht ziemlich freimütig. An den Stellen, wo er den Schlussfolgerungen der eigenen Skepsis nicht aufrichtig Folge leisten zu können meinte, beschloss er unverhohlen, sie beiseitezuschieben. Dennoch unterließ auch er es einzuräumen, dass er damit seine eigenen persönlichen Überzeugungen zum Ausdruck brachte. Ebenso wenig hat er sein Recht in Anspruch genommen und seine Pflicht angenommen, sich zu diesen Überzeugungen zu bekennen, sobald dies darauf hinauslief, Zweifel zu ersticken und die strikte Objektivität fallenzulassen. Seine Abweichungen von der Skepsis blieben streng genommen inoffiziell und gehörten nicht in expliziter Form zu seiner Philosophie. Kant hingegen nahm diesen Widerspruch ernst. Er unternahm die übermenschliche Anstrengung, sich der durch Humes Erkenntniskritik sichtbar gewordenen Situation zu stellen, ohne eine Lockerung des Zweifelsprinzips zuzulassen. Im Hinblick auf diese Schwierigkeiten schreibt Kant: »Der Keim der Anfechtungen, der in der Natur der Menschenvernunft liegt, muß ausgerottet werden; wie können wir ihn aber ausrotten, wenn wir ihm nicht Freiheit, ja selbst Nahrung geben, Kraut auszuschießen, um sich dadurch zu entdecken, und es nachher mit der Wurzel zu vertilgen? Sinnet demnach selbst auf Einwütfe, auf die noch kein Gegner gefallen ist, und leihet ihm sogar Waffen, oder räumt ihm den günstigsten Platz ein, den er sich nur wünschen kann. Es ist hiebei gar nichts zu furchten, wohl aber zu hoffen, nämlich, daß ihr euch einen in alle Zukunft niemals mehr anzufechtenden Besitz verschaffen werdet.«

Schon seit Langem hat sich gezeigt, dass Kants Hoffnungen auf ein unbestreitbares Reich der Vernunft zu hoch gegriffen sind. Aber die Leidenschaft des Zweifelns ist auch heute noch spürbar.

Michael Polany: Personales Wissen – endlich in deutscher Sprache

Endlich ist das Buch Personales Wissen: Auf dem Weg zu einer postkritischen Philosophie von Michael Polany in deutscher Sprache erschienen. Der renommierte Übersetzer philosophischer Werke, Joachim Schulte, hat es für den Suhrkamp Verlag glanzvoll übertragen. Rebekka Ladewig hat das Projekt geleitet und das Buch mit einem Nachwort und Register versehen. Der Verlag schreibt über das Buch:

In seinem zum Klassiker gewordenen Buch Personales Wissen von 1958 legt Michael Polanyi das Augenmerk auf die personengebundenen Elemente wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse – auf Erfahrung und Vorwissen, Geschicklichkeit und Können. Mit dieser Intervention leuchtet er den blinden Fleck einer am Objektivitätsideal ausgerichteten Wissenschaftslogik aus, nämlich den verkörperten, vergesellschafteten Forscher selbst. Als „personales“ und in der Folge als „implizites Wissen“ konzeptualisiert, ist sein epistemologischer Ansatz zu einem der wichtigsten Beiträge der gegenwärtigen Wissenschaftsforschung avanciert. Polanyis Hauptwerk liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Hier die ersten drei Absätze aus dem Vorwort von 

In der vorliegenden Untersuchung geht es vor allem um das Wesen die Rechtfertigung der wissenschaftlichen Erkenntnis. Doch Überlegungen zur wissenschaftlichen Erkenntnis führen darüber dahinaus zu einem weiten Bereich außerwissenschaftlicher Fragen.

Zunächst lehne ich das Ideal der wissenschaftlichen Distantanz ab. Dabei ist dieses Ideal in den exakten Wissenschaften vielleicht harmlos, denn faktisch wird ihm dort von den Wissenschaften keine Beachtung geschenkt. Doch wie wir sehen werden, in der Biologie, der Psychologie und der Soziologie einen destruktiven Einfluss aus und verfälscht unsere ganze Einstellung in einem weit über den Bereich der Wissenschaft hinausgehenden Maß. Ich möchte, ganz allgemein gesprochen, ein alternatives Ideal Wissen aufstellen.

Daher rühren die große Reichweite dieses Buchs sowie die Prägüng des neuen Ausdrucks, den ich zur Formulierung des Titels „personales Wissen“. Vielleicht hat es den Anschein, diese Wörter widersprächen einander, denn wahres Wissen gilt unabhängig, allgemein begründet, objektiv. Aber der Widerspruch lässt sich auflösen, indem wir unsere Vorstellung vom Wissen und Erkennen modifizieren.

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