Stefan Zweig

Fünf Mythen über Johannes Calvin

Wie vielen anderen überragenden Personen der Kirchengeschichte, so erging und ergeht es auch dem französischen Reformator Johannes Calvin: Die Erinnerung an ihn ist durch verschiedene Verzerrungen entstellt worden, so dass man in Summe von modernen Legenden, die allerdings gern verbreitet werden, sprechen kann.

So ist Stefan Zweigs bis heute nachgedrucktes Buch Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen Gewalt eine in weiten Teilen erfundene Polemik. Zweig behauptet darin etwa: „Alle, die Calvin auch nur den geringsten Widerstand geleistet haben, werden hingerichtet, soweit sie nicht rechtzeitig aus Genf geflohen sind. Eine einzige Nacht, und es gibt in Genf keine andere Partei mehr als die calvinistische “ (S. 160).

Nun war Calvin sicherlich nicht zimperlich, wenn es darum ging, gegen theologische Gegner zu kämpfen. Aber was Zweig hier schreibt, ist völliger Quatsch (Nebenbemerkung: Ich muss bei der Kritik von Stefan Zweig maßvoll formulieren, da meine Frau eine große Liebhaberin seiner Schriften ist ;-). 

Wolfgang Huber urteilt zutreffend

Die Assoziation ist deutlich; und schnell ist aus dem reformatorischen Genf Calvins das Nazideutschland Adolf Hitlers geworden. Dabei ist dies historisch völlig unzutreffend: Die diktatorische Position, die Zweig Calvin zuschreibt, hatte dieser nie inne. Calvin war nicht der von Zweig dargestellte Diktator und das Genf seiner Zeit nicht eine frühere Version der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Hier haben Zweig und die, die seiner Interpretation gefolgt sind, Calvin Unrecht getan.

Professor Michael Haykin hat einige Irrtümer in seinem Artikel „Fünf Mythen über Johannes Calvin“ besprochen. Darin heißt es: 

Calvin konnte sicherlich in seinen Verbalattacken gegen die, die aus seiner Sicht Häretiker waren, und gegen seine theologischen Kontrahenten bissig sein. Aber es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass er üblicherweise danach trachtete, sie zu töten. Männer wie Jérôme-Hermès Bolsec (gest. 1584) und Sebastian Castellio (1515–1563), die sich in Genf theologische Gefechte mit Calvin lieferten, wurden aus der Stadt verbannt. In diesem Zusammenhang ist es unerlässlich, sich bewusst zu machen, dass die meisten christlichen Persönlichkeiten des 16. Jhdts. – ob nun Protestanten oder Katholiken – Häresie nicht einfach nur als einen merkwürdigen intellektuellen Sonderweg betrachteten, sondern als durchdrungen vom „Stigma moralischer Verderbnis“ – und entsprechend musste Ketzerei aus dem Gemeinwesen entfernt werden, bevor sie die ganze Gesellschaft in Mitleidenschaft zog. Wenn die Genfer Stadtoberen Servet hätten leben lassen, nachdem er nun einmal erkannt und in der Stadt festgenommen worden war, dann wäre das von den Gegnern der Reformation – insbesondere der katholischen Kirche – als Beweis gewertet worden, dass die Reformatoren ebensolche Häretiker waren, da sie diese Häresie tolerierten.

Mit folgenden Legenden beschäftigt sich der Baptist Michael Haykin:

  1. Calvin ließ Michael Servet hinrichten.
  2. Der Tyrann Calvin übte in der Hauptzeit seines Wirkens in Genf von 1541 bis 1564 in der Stadt eine Gulag-ähnliche Herrschaft aus.
  3. Calvins Theologie lässt sich mit dem Akronym TULIP zusammenfassen.
  4. Calvins monergistische Soteriologie bringt eine Tendenz zum Antinomismus mit sich.
  5. Calvin hatte kein Interesse an Mission.

Mehr: www.evangelium21.net.

Stefan Zweigs Rolle

Der Schriftsteller Stefan Zweig zeichnete Johannes Calvin in seinem Roman Calvin oder ein Gewissen gegen die Gewalt (1936 erschienen und als indirekte Kritik am Nazireich gedacht) als freudlosen Finsterling, als tyrannischen und verklemmten Diktator, der Andersdenkende gnadenlos verfolgte. Leider ist im deutschsprachigen Raum dadurch der Eindruck entstanden, Calvin hätte sich als Reformator in Genf durch anhaltende Machmissbräuche hervorgetan. Matthias Freudenberg schreibt dazu im Calvin Handbuch:

Das wohl bekannteste und in der populären Calvinrezeption verbreitetste Beispiel eines negativen Umgangs mit dem Genfer Reformator liegt im Geschichtsroman des Literaten Stefan Zweig Castellio gegen Calvin oder ein Gewissen gegen die Gewalt (1936) vor. Zweig urteilte, Calvin hätte einen „hysterischen Machttrieb“, er betriebe „eine drakonische Entrechtung der Persönlichkeit, vandalische Ausplünderung des Individuums“. Mitleidlos ließe er Druckerpressen, Kanzel, Katheder, Synoden und die Staatsgewalt spielen und hätte seinen Widerpart Castellio vollkommen überwacht. Sein „Wille über alle“ herrschte in der Stadt, er kämpfte um „die Totalität der Macht“ und beabsichtigte die völlige „Gleichschaltung eines ganzen Volkes“ im Stile einer neuen Form „dogmatischer Diktatur“. Schon Calvins Antlitz offenbarte die Strenge und Härte seiner Lehre (zitiert nach Ulrich 2002,173 f.). Aufschlussreich zum Verständnis dieser polemischen Schrift ist ihr Entstehungsjahr 1936 mit den Eindrücken der Gewalt und der totalitären Herrschaft des Nationalsozialismus auf Zweig. Ohne eigenes gründliches Calvinstudium und durch sekundäre Informationen mit negativen Urteilen versorgt, lieferten die zeitgenössischen Ereignisse – der Konflikt zwischen Intoleranz und Humanismus – das Interpretationsmuster zur Darstellung des Fanatikers Calvins, der in grotesker Weise verzeichnet wurde. Indirekt knüpfte Zweig an die ohne Sympathie für Calvin verfasste Darstellung von Friedrich W. Kampschulte Johannes Calvin. Seine Kirche und sein Staat in Genf aus dem 19. Jahrhundert an. Calvin wurde zur dunklen Folie für den an Castellio entdeckten Toleranzgedanken, dem Zweig sich selbst verpflichtet sah. Letztlich nahm Zweig eine idealtypische Historiographie vor, in der er geschichtliche Phänomene personalisierte und Calvin in die Nähe Hitlers rückte (vgl. Ulrich 2002,179-182). Die Wirkung von Zweigs Zerrbild Calvins reicht bis in die Gegenwart, fand gelegentlich Eingang in Schulbücher und beeinflusste bisweilen das Calvinbild populärer Nachschlagewerke.

Seit einiger Zeit wird nun Zweig selbst verdächtigt, junge Menschen, wohl überwiegend Frauen, bedrängt zu haben. Ulrich Weinziel hat in seinem Buch Stefan Zweigs brennendes Geheimnis (Zsolnay Verlag, Wien 2015) die These aufgestellt, Zweig sei ein Erotomane gewesen und habe dazu geneigt, Frauen sexuell zu terrorisieren. Die Geschichte der Wiener Moderne muss freilich nicht umgeschrieben werden.

Hier das DLF-Gespräch mit Ulrich Weinziel:

 

 

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