Zygmunt Bauman

Die Entweihung des Menschen

Soziologen und Philosophen haben versucht, mit markanten Begriffen charakteristische Eigenschaften der Moderne bzw. Spätmoderne zu beschreiben. Sehr bekannt geworden sind „Entzauberung“ (Max Weber -> Moderne) und „Verflüssigung“ oder „Liquidität“ (Zygmunt Bauman -> Spätmoderne). Carl Trueman, Redner auf der E21-Hauptkonferenz im Juni (vgl. hier), fügt diesen beiden Kategorien noch eine dritte hinzu: die „Entweihung“.

Trueman schreibt:

Die Abschaffung des Menschen, wie Lewis sie beschreibt, findet vor dem Hintergrund zweier Aspekte der Moderne statt: der Entzauberung und der sich beschleunigenden Liquidität. Allerdings, so meine ich, ist für ein angemessenes Verständnis unserer Zeit eine dritte Kategorie hinzuzufügen: die der Entweihung. Der Mensch ist erschaffen nach dem Bild Gottes. Das macht die Abschaffung des Menschen zu einem theologischen Akt mit theologischen Konsequenzen. Für sich genommen bringen weder Entzauberung noch Liquidität diesen Aspekt des Problems angemessen zum Ausdruck, das theologische Konzept der Entweihung hingegen schon.

Das wird uns klarer, wenn wir über die erklärungsschematischen Grenzen von Entzauberung und Liquidität nachdenken. Die erste besteht darin, dass diese Konzepte nur auf den Verlust von etwas hinweisen, was einmal war. Entzauberung verweist auf den Verlust von Verzauberung. Während einst das Übernatürliche das Natürliche durchdrang und das Transzendente die Bedingungen für das Immanente festlegte, bleiben heute nur noch das Natürliche und das Immanente übrig. Ähnlich verhält es sich mit der Liquidität: Wir haben nicht mehr, wie Marx es ausdrückt, ständische und stehende Verhältnisse. Alles richtig – aber der Zustand der Moderne beschränkt sich nicht, wie wir sehen werden, auf diese Verluste.

Das zweite Problem ist, dass Entzauberung und Liquidität einen Mangel an menschlichem Handlungsvermögen suggerieren. Beide sind das Ergebnis unpersönlicher sozialer Prozesse: Industrialisierung, Bürokratisierung, Technologisierung, Globalisierung. Verbunden mit diesen Prozessen ist die Verdinglichung der Phänomene, auf die sie sich beziehen, im allgemeinen Sprachgebrauch: Industrie, Bürokratie, Technologie, die globale Wirtschaft. Jedes dieser Phänomene nimmt in unserem Denken ein Eigenleben an; in diesen Prozessen treten wir Menschen als austauschbare Objekte auf, nicht als aktive Subjekte oder Personen. Doch die Prozesse selbst sind das Ergebnis menschlichen Handelns. Wenn wir zu Rädchen in der Maschine geworden sind, dann deshalb, weil wir die Maschine gebaut haben.

Darüber hinaus dürfen wir den Einfluss und das Wirken kultureller Eliten – der Rechts-, Bildungs-, Technologie-, Kunst-, Manager- und politischen Klassen – nicht außer Acht lassen. In der Vergangenheit sahen sich diese Eliten mit der Aufgabe betraut, Kontinuität zu garantieren; das geschah durch die Wertevermittlung von Generation zu Generation und die sorgfältige Pflege der für diese Aufgabe notwendigen Institutionen und sozialen Praktiken. Heute ist der vorherrschende Impuls unserer Eliten Zerrüttung, Zerstörung und Zerstückelung. Die Abschaffung des Menschen ist ein bewusstes Projekt der Offiziersklasse unserer Kultur, nicht einfach nur das Ergebnis unpersönlicher sozialer und technologischer Kräfte. Für sich genommen, reichen die Kategorien der Entzauberung und Liquidität nicht aus, um dieses Projekt angemessen zu verstehen.

Das dritte Problem besteht darin, dass weder Entzauberung noch Liquidität die theologische Signifikanz der Veränderungen berücksichtigt, die die Moderne in Bezug auf das Verständnis des Menschseins mit sich gebracht hat. Man muss kein Christ (und nicht einmal Theist) sein, um zu begreifen, dass diese Transformationen theologisch bedeutsam sind. Sowohl bei Marx als auch bei Nietzsche ist „Entweihung“ ein Teil ihres Verständnisses der modernen Welt. In derselben Passage des Kommunistischen Manifests, in der verkündet wird, dass alles Stehende verdampft, wird erklärt, dass alles Heilige entweiht wird. Und Nietzsches „toller Mensch“ macht sehr deutlich, dass Gott nicht nur in der moralischen Vorstellung aufgehört hat zu existieren, sondern tot ist – mehr noch, dass wir ihn getötet haben. Diese Tötung Gottes ist sicherlich der ultimative Akt aktiver Entweihung.

Sowohl Nietzsche als auch Marx bewerten diese Entweihung positiv. Für Marx ist Religion ein Opiat, das das Proletariat daran hindert, den vollen Schmerz zu spüren, den der Kapitalismus verursacht. Religionskritik ist daher von zentraler Bedeutung für das revolutionäre Projekt. Entweihung ist eine Voraussetzung für die Verwirklichung der kommunistischen Utopie. Für Nietzsche ist der Tod Gottes, auch wenn er eine erschreckende Verantwortung auf die Schultern der Menschen legt, eine notwendige Voraussetzung für die Selbsttranszendenz des Menschen. Die Frage ist nur, ob wir dieser Aufgabe gewachsen sind.

Mehr: www.evangelium21.net.

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Zygmunt Bauman (1925–2017)

Zigmunt BaumanDer streitbare jüdisch-polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman ist am 9. Januar 2017 im Alter von 91 Jahren gestorben. Er gehörte zu den bedeutenden Geisteswissenschaftlern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und gilt als ein Wegbereiter postmodernen Denkens. In seinem Hauptwerk Flüchtige Moderne (in dt. Sprache 2003) beschrieb er, wie DER SPIEGEL korrekt berichtet, „die Schattenseiten der postmodernen Gesellschaft: Überbetonung des Marktes, ungefilterte Kommunikation, Fehlen von Gemeinsamkeiten“.

Linken Kategorien und einer spätmodernen Anthropologie blieb Bauman bis ins Alter treu, obwohl er mit der kommunistischen Partei in Polen brach und die Spassgesellschaft mitunter scharf kritisierte („Postmoderne ist ein Freibrief, zu tun, wozu man Lust hat, und eine Empfehlung, nichts von dem, was man selbst tut oder was andere tun, allzu ernst zu nehmen“ (Ansichten der Postmoderne, 1995, S. 9)). Ein Zitat aus einem Interview, dass er im Jahre 2005 der ZEIT gegeben hat, bündelt wesentliche Thesen seines Denkens. Einerseits finden wir darin seine berechtigte Kritik an einer konsum- und interessengeleiteten Lebensweise, andererseits auch das Lob auf den Menschen, der sich selbst Gesetz ist.

Wir leben heute in der flüchtigen oder flüssigen Moderne, wie ich sie nenne, in Konsumgesellschaften, in denen menschliche Beziehungen auf flüchtigen Genuss beschränkt sind. Menschen sind nur so lange wertvoll, wie sie Befriedigung verschaffen. Zwei elementare Bedürfnisse stehen einander in diesen Gesellschaften entgegen: der Wunsch, im aufgewühlten Meer einen sicheren Hafen zu haben, und das Bedürfnis, zugleich ungebunden zu sein, die Hände frei zu haben, über Spielräume zu verfügen. Wer sich aus Bindungen lösen kann, muss sich nicht anstrengen, um sie zu erhalten. Er kann sie als freier Konsument genießen und dann wegwerfen. Aber wenn jeder eine menschliche Beziehung zum Umtausch in den Laden zurückbringen kann, wo bleiben dann Räume, in denen das Gefühl moralischer Verantwortung für den anderen wachsen kann? In der traditionellen modernen Ethik galt es, Regeln zu gehorchen, die postmoderne Moral aber verlangt von jedem, selbst Verantwortung zu übernehmen. Nun ist der Mensch als Vagabund unterwegs, der individuell entscheiden muss, was gut ist, was böse. Das war so lange eine gute Nachricht, bis der Konsum die zwischenmenschlichen Beziehungen kolonisierte.

Angesichts solcher düsteren Analysen leuchten die Kraft und Schönheit der jüdisch-christlichen Sicht auf das Leben gerade zu auf. Der Gott der Bibel bietet dem Menschen nämlich Bindung, Freiheit und Heimat an. Doch mit einem Gott, der dem Menschen Würde und Verantwortung schenkt, wollte Bauman nicht mehr rechnen. Für ihn war das „ein schöner Traum, den wir nicht aufhören werden zu träumen“. Freiheit ist nach Bauman nur zum Preis von Ambivalenz, Uneindeutigkeit und Ungewissheit zu haben.

Mehr als Scheidungsstatistik

Die Scheidungsstatistik des Statistischen Bundesamtes löst regelmäßig eine Flut von Pressemeldungen aus. Die FAZ titelt: Die Ehe verliert an Bedeutung.

Die Zahl der Scheidungen in Deutschland ist im vergangenen Jahr abermals leicht gestiegen. Wie das Statistisches Bundesamt am Mittwoch in Wiesbaden mitteilte, wurden 2011 rund 187 600 Ehen geschieden. Das waren 0,3 Prozent mehr als im Vorjahr. Fast die Hälfte der Paare hatte Kinder unter 18 Jahren. Insgesamt waren somit im Jahr 2011 rund 148 200 Minderjährige von der Scheidung ihrer Eltern betroffen, 2,1 Prozent mehr als im Vorjahr.

DIE WELT meldet: Elf von tausend Ehen werden geschieden:

Der Trend zur Trennung hat sich in Deutschland leicht verstärkt: Elf von 1000 Ehen sind 2011 geschieden worden. Im Durchschnitt dauert die Floskel „bis dass der Tod uns scheidet“ nur noch 14,5 Jahre.

Etwas einseitig wirken die Erklärungsversuche. „Gründe dafür seien ‚die längeren Ausbildungszeiten oder die immer stärker werdenden Anforderungen der Arbeitswelt an Flexibilität und Mobilität‘, sagte Egaler“, Präsidenten des Statistischen Bundesamtes.

Die Ursache liegen m.E. tiefer. Es geht auch um eine geistliche Krise (vgl.  Monopolverlust der Ehe). Im postmodernen Denken ist nämlich kein Platz mehr für stabile Werte oder Beziehungen. Da der Mensch die Erfindung von Machtdiskursen ist, orientiert er sich nicht an ewigen Wahrheiten, sondern handelt Normen und Beziehungen ständig neu aus. Lyotard weist darauf hin, dass permanente „Institutionen in beruflichen, affektiven, sexuellen, kulturellen, familiären und internationalen Bereichen wie in politischen Angelegenheiten“ durch „zeitweilige Verträge“ ersetzt werden (Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 191). Ähnlich wertet der Soziologe Zygmunt Bauman: Bezeichnend für das „postmoderne Lebensspiel“ ist das Leben im Augenblick. Inbegriff der postmodernen Lebensstrategie ist die Gestalt des Touristen. Ein Tourist bindet sich nicht, kennt keinen Befriedigungsaufschub und vor allem: er konsumiert. In einer Zeit des globalen Kapitalismus ist alles auf Bedürfnisstimulation und rasche Befriedigung angelegt. Wie ein Nomade verhält sich der Tourist als Durchreisender. Das Leben bleibt episodenhaft, die Verpflichtungen sind überschaubar. Der Nomade bindet sich nicht an den Aufenthaltsort oder Partner. Wenn ein Stamm mit dem dazugehörigen Vieh einen Weideplatz abgegrast hat, zieht er weiter (Zygmunt Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, 1997).

Der Preis ist freilich hoch.

Die Grunderfahrung der Menschen in der Postmoderne ist für ihn eine des Verlustes: des Verlustes an Gewissheit, Ordnung, Selbstsicherheit. Die aus allen traditionellen Bindungen, Ordnungen und Gemeinschaftsformen ‚entbetteten‘ und der Anarchie des wild gewordenen liberalen Marktes überlassenen Individuen reagieren auf die geänderte Situation mit Gefühlen der Angst und Orientierungslosigkeit (R. Eickelpasch u. C. Rademacher, Identität, 2010, S. 49–50).

Bezeichnend finde ich die Werbung, die DIE WELT online (wechselnd) neben den Scheidungszahlen platziert: „Secret – Spiele nach deinen Regeln: Leben deine Phantasie. Finde niveauvolle Partner für diskrete erotische Abenteuer.“

Fragen als Abwehrmechanismus

»Ehrliche Antworten auf ehrliche Fragen«, hieß es zur Zeiten von Francis Schaeffer im L’Abri-Studienzentrum. Junge Leute strömten in die Schweiz, weil sie brennende Fragen loswerden wollten und leidenschaftlich nach tragfähigen Antworten suchten.

Ehrliche Fragen vernehme ich heute selten. Gefragt wird zwar viel, oft aber nur, um sich vor Antworten zu schützen. Man fragt, weil man keine Antwort will.  Auf eine Antwort hören, kann nämlich bedeuteten, dass man nicht mehr nur das tun kann, was man will. Da einem »Hören« das verbindliche »Gehorchen« folgen könnte, wird lieber hinterfragt.

Zygmunt Bauman schreibt über die Postmoderne:

Sie ist ein Geisteszustand, der sich vor allem durch seine alles verspottende, alles aushöhlende, alles zersetzende Destruktivität auszeichnet. Es scheint zuweilen, als sei der postmoderne Geist die Kritik im Augenblick ihres definitiven Triumphes: eine Kritik, der es immer schwerer fällt, kritisch zu sein, weil sie alles, was sie zu kritisieren pflegte, zerstört hat. Dabei verschwand die schiere Notwendigkeit der Kritik. Es ist nichts übriggeblieben, wogegen man sich wenden könnte.

Geist der (Zer)Störung

Bei den Vorbereitungen für einen Vortrag stieß ich bei Zygmunt Baumann erneut auf ein strenges Zitat (Ansichten der Postmoderne, 1995, S. 6):

[Die Postmoderne] ist ein Geisteszustand, der sich vor allem durch seine alles verspottende, alles aushöhlende, alles zersetzende Destruktivität auszeichnet. Es scheint zuweilen, als sei der postmoderne Geist die Kritik im Augenblick ihres definitiven Triumphes: eine Kritik, der es immer schwerer fällt, kritisch zu sein, weil sie alles, was sie zu kritisieren pflegte, zerstört hat.

Postmoderne – eine Definition

Zygmunt Bauman (Ansichten der Postmoderne, 1995, S. 9):

Postmoderne ist ein Freibrief, zu tun, wozu man Lust hat, und eine Empfehlung, nichts von dem, was man selbst tut oder was andere tun, allzu ernst zu nehmen.

P.S. Ich sollte hinzufügen, dass Bauman einer der großen postmodernen Denker ist.

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