Philosophie

Herman Bavinck: Christliche Weltanschauung

BavinckCov.jpgDer Niederländer Herman Bavinck (1854–1921) beschäftigte sich sein ganzes Leben lang mit dem Spannungsfeld von christlichem Glauben und moderner Kultur. Nach einer kurzen Tätigkeit als Pastor einer Gemeinde in Friesland wurde Herman Bavinck 1882 als Professor der Systematischen Theologie an die Theologische Hochschule nach Kampen berufen. 1902 wechselte er nach Amsterdam und lehrte dort als Professor der Theologie an der freien Universität. Heute gilt Bavinck zusammen mit Abraham Kuyper als Hauptvertreter der ersten Generation der neo-calvinistischen Theologie.

Eine im Jahre 1904 gehalten Rektoratsrede mit dem Titel »Christliche Weltanschauung« wurde jetzt in einer deutschen Ausgabe neu herausgegeben. Bavinck behandelt darin drei große Fragen der Philosophie: Wie verhalten sich Denken und Sein und wie Sein und Werden zueinander? Und: Welche Normen gibt es für rechtes Handeln? Bavinck trägt seine Ausführungen mit der Überzeugung vor, dass allein der christliche Glaube befriedigende Antworten auf diese Hauptthemen menschlichen Lebens anzubieten hat.

Vor über einhundert Jahren, als die Dichter und Gelehrten im deutschen Sprachraum noch mit der Verarbeitung des Nietzsche-Schocks beschäftigt waren, beschrieb der gläubige Theologe das gesellschaftliche Denkklima mit folgen Worten:

Gemeinsam aber … ist die Abkehr von dem allgemeinen, ungezweifelten christlichen Glauben. Worin man auch im einzelnen voneinander abweichen möge, es steht fest, dass die Zeit des historischen Christentums vorbei ist. Es passt nicht mehr zu unserer kopernikanischen Weltanschauung, zu unserer Kenntnis der Natur und ihrer unveränderlichen Gesetze. Es passt nicht mehr zu unserer modernen Kultur, zu der »Diesseitigkeit« unserer Lebensauffassung, zu unserer Wertschätzung der materiellen Güter. Die Gedankenwelt der Schrift lässt sich in den Zyklus unserer Vorstellungen nicht mehr einfügen. Das ganze Christentum mit seiner Trinität und Inkarnation, mit seiner Schöpfung und seinem Sündenfall, mit seiner Schuld und Versöhnung, mit seinem Himmel und seiner Hölle gehört in eine veraltete Weltanschauung und ist mit dieser endgültig abgetan. Es hat unserem Geschlecht nichts mehr zu sagen und ist durch eine tiefe Kluft von modernem Denken und Leben geschieden. Die Schlagwörter Gott, Seele, Unsterblichkeit, sagt Meyer-Benfey, haben ihren Sinn für uns verloren. Wer fühlt heute noch das Bedürfnis, über das Dasein Gottes zu disputieren? Wir brauchen Gott nicht mehr, für ihn ist auf unserer Welt kein Raum mehr. Möge der greise Einsiedler in seiner Klause sitzen und seinen Gott verehren. Wir, Jünger des Zarathustra, wir wissen, dass Gott tot ist und nicht mehr auferstehen wird.

Das Buch ist beziehbar als:

  • Herman Bavinck, Christliche Weltanschaung, neu hrsg. von Thomas K. Johnson u. Ron Kubsch, Bonn: VKW, 2008, ISBN: 978-3-938116-38-8, 91 S., Preis € 8,00.

Postmoderne in dreißig Minuten

Den Slogan »In nur 2 Stunden wissen Sie Bescheid!« mit der Postmoderne in Verbindung zu bringen, provoziert. Jetzt wird’s allerdings noch verrückter: Ich biete einen nur dreißigminütigen Vorlesungsmitschnitt über »Emerging Church« an, in dem ich ›Leitgedanken‹ der Postmoderne kurz skizziere. Die Tonqualität ist leider nur suboptimal.

Den Podcast aus dem Jahr 2007 gibt es hier: podcast2008:1.mp3. Die Folie dazu kann ebenfalls herunter geladen werden: leitbegriffe-der-postmoderne.pdf.

[podcast]http://theoblog.de/wp-content/uploads/2008/04/podcast2008%3A01.mp3[/podcast]

Was ist Wahrheit?

Die meisten Menschen haben ein ganz gutes Gespür dafür, was Wahrheit ist. Andererseits ist »Wahrheit« umstrittener als jeder andere Begriff. Ohne große Anstrengungen wäre es möglich, mehr als 10 Wahrheitstheorien aufzulisten, die in den Geisteswissenschaften oder der Wissenschaftstheorie miteinander konkurrieren. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Wahrheit eine lange und nicht immer ruhmreiche Geschichte hat. Im Namen der Wahrheit wurden bedeutende Bücher verfasst und Menschen befreit. Doch im Namen der Wahrheit wurden ebenfalls furchtbarste Verbrechen verübt, Fehlurteile gefällt und tragische Kriege angezettelt. Der Wahrheitsbegriff ist also zwiespältig und komplex.

Anbei ein kleiner Vortrag zum Thema »Was ist Wahrheit?«, den ich im Januar in einer Gemeinde gehalten habe: wasistwahrheit.pdf. Außerdem die dazugehörigen Folien im Flash-Format: wasistwahrheit.swf.

Richard Rorty über die liberale Theologie

In einem Interview mit dem Magazin Modern Reformation (Juli/August Vol. 12 No. 4, 2003) sagte Richard Rorty (1931–2007) über die liberale Theologie:

Ich bin erfreut darüber, dass liberale Theologen ihr Bestes geben, um das zu machen, was laut Pio Nono [Papst Pius IX.] nicht getan werden sollte – sie versuchen das Christentum an moderne Wissenschaften, moderne Kultur und demokratische Gesellschaft anzupassen. Wäre ich ein fundamenalistischer Christ, wäre ich entsetzt von dieser [liberalen] wischi-waschi Version des christlichen Glaubens. Doch weil ich ein Ungläubiger bin, der sich vor der Barbarei vieler fundamentalistischer Christen fürchtet (z.B. vor ihrer Homophobie), heiße ich theologischen Liberalismus willkommen. Vielleicht werden die liberalen Theologen einmal so eine wischi-waschi Version des Christentums entwickeln, dass niemand mehr Interesse daran hat, Christ zu sein. Wenn dem so wäre, dann wäre etwas verloren gegangen. Doch höchstwarscheinlich hätten wir noch mehr gewonnen.

Die Entwertung des Menschlichen

Anbei ein Aufsatz, der im Jahr 2001 entstand und sich im Geiste Schaeffers kritisch mit dem Post- und Transhumanismus befasst.

In diesem Zusammenhang: Das vergangene Jahrhundert offenbarte nicht nur eine Krise der Moderne, sondern eine Krise des Menschen überhaupt. Für Sigmund Freud (1856–1939) waren die Menschen alles andere als freie Persönlichkeiten, sondern triebgesteuerte Wesen, für die Rationalität einer von vielen Verdrängungsmechanismen ist. Im Jahre 1962 sprach Theodor Adorno (1903–1969) davon, dass der Anthropozentrismus »nicht zu retten« sei. 1966 schrieb Michel Foucault (1926–1984) begeistert vom »Verschwinden des Menschen« und deutete es als Befreiung von der Enge einer anthropologischen Axiomatik. François Lyotard (1924–1998) spricht davon, dass das Erbe Kants und Wittgensteins »von der Schuldenlast des Anthropomorphismus« zu befreien sei. Zyniker wie der aus Rumänien stammende E. M. Cioran oder der deutsche Ulrich Horstmann proklamieren sogar Sätze wie »Das Paradies ist die Abwesenheit des Menschen« oder »Daß es besser wäre, wenn es nicht wäre, hat sich das Untier [gemeint ist der Mensch] immer schon auf die ein oder andere Weise eingestanden.«

Kurz: Das Menschbild der nachmodernen Denker ist tief pessimistisch und in manchem Punkten geradezu biblisch düster. Warum verweigern so viele postmoderne Christen genau in dieser Frage ihren Lehrern die Gefolgschaft und entwerfen ein Menschenbild, dass bisweilen sogar den biblischen Sündenbegriff relativiert?.

Hier der Aufsatz: Entwertung.pdf .

Pure Vernunft darf niemals siegen

Wohl keine deutschen Musiker verstehen den Geist der Postmoderne besser einzufangen und zu predigen, als die der Hamburger Band Tocotronic. Geradezu nietzeanisch düster sind die Songbotschaften auf der Platte Pure Vernunft darf niemals siegen.

Hier Auszüge aus dem Titelsong:

Pure Vernunft darf niemals siegen
Wir brauchen dringend neue Lügen
Die uns durchs Universum leiten
Und uns das Fest der Welt bereiten
Die das Delirium erzwingen
Und uns in schönsten Schlummer singen
Die uns vor stumpfer Wahrheit warnen
Und tiefer Qualen sich erbarmen

Pure Vernunft darf niemals siegen
Wir brauchen dringend neue Lügen
Die uns den Schatz des Wahnsinns zeigen
Und sich danach vor uns verbeugen
Und die zu Königen uns krönen
Nur um uns heimlich zu verhöhnen
Und die uns in die Ohren zischen
Und über unsere Augen wischen

Pure Vernunft darf niemals siegen
Wir brauchen dringend neue Lügen
Die unsere Schönheit uns erhalten
Uns aber tief im Inneren spalten
Viel mehr noch, die uns fragmentieren
Und danach zärtlich uns berühren
Und uns hinein ins Dunkel führen
Die sich unserem Willen fügen
Und uns wie weiche Zäune biegen
Pure Vernunft darf niemals siegen

Die Vorherrschaft von Jesus Christus

Die Referate, die John Piper, Voddie Baucham, D.A. Carson, Tim Keller, Mark Driscoll und David Wells im Jahre 2006 auf einer Konferenz von Desiring God vortrugen, sind bei Crossway Books in einem Sammelband mit dem Titel:

  • John Piper u. Justin Tylor (Hg.), The Supremacy of Christ in a Postmodern World, Wheaton, IL: Crossway, 2007

erschienen.

Hier der Inhalt des Buches:

Part 1: Culture and Truth
1 The Supremacy of Christ in a Postmodern World (David Wells)
2 Truth and the Supremacy of Christ in a Postmodern World (Voddie Baucham Jr.)

Part 2: Joy and Love
3 Joy and the Supremacy of Christ in a Postmodern World (John Piper)
4 Love and the Supremacy of Christ in a Postmodern World (D. A. Carson)

Part 3: Gospel Theologizing and Contextualizing
5 The Gospel and the Supremacy of Christ in a Postmodern World (Tim Keller)
6 The Church and the Supremacy of Christ in a Postmodern World (Mark Driscoll)

Der Sammelband kann im Volltext als PDF heruntergeladen werden unter: Supremacy of Christ.

Ist unsere Gesellschaft postmodern?

Mike Bischoff hat kürzlich in einem Post sein Verständnis von Postmoderne auf konstruktive und hilfreiche Weise präzisiert. Ich kann mich in den wesentlichen Aussagen sowohl Sebastian Heck als auch Mike anschließen. Ich vertrete bekanntlich in Anlehnung an Zima und Kamper einen zwiespältigen Epochebegriff: Die Postmoderne ist »sowohl als Bruch mit der Moderne als auch als deren Fortsetzung mit neuen Mitteln« lesbar. Sie war – wie Jean-François Lyotard sagt – bereits in die Neuzeit eingeschlossen.

Die Postmoderne situiert sich weder nach der Moderne noch gegen sie. Sie war in ihr schon eingeschlossen, nur verborgen.

Von daher beobachte ich mit Skepsis, wie so manche EmCh’ler die Fehler der »modernen« Kirchenvertreter wiederholen. Sie assimilieren sich an den Postmodernismus, der – habe ich Recht – radikalisierte Moderne ist. Wen wundert es, dass man als Beobachter dabei auf den Gedanken kommen kann, dass die Konsequenzen fataler sein könnten, als die der neuzeitlichen Kirchen­ge­schichte? (An dieser Stelle der Hinweis, dass Dirk Seifert den Epocheanspruch der Postmoderne in einer Ausarbeitung aus christlicher Sicht kritisch hinterfragt.)

Jetzt aber zu Mike’s Thema: Ist unsere Gesellschaft postmodern?

Ich bin ebenfalls der Auffassung, dass der harte Postmodernismus in Deutsch­land nicht wirklich angekommen ist. Die Gründe dafür sind sehr vielfältig. Meines Erachtens hängt es mit der Frankfurter Schule (Michel Foucault bekannte in seinen späten Jahren die Verwandschaft seiner Ideen mit denen der Kritischen Theorie), dem sehr hohen Stellenwert der ›harten‹ Naturwissenschaften in Deut­schland und dem Einfluss von Jürgen Habermas zusammen (der vor der neuen Unübersichtlichkeit gewarnt hat und als »Hüter der Rationalität« darauf beharrt, dass Fragen der Begründbarkeit von solchen bloßer Gewohnheit oder Vorlieben zu unterscheiden sind).

Trotz dieses Widerstandes schätze ich jedoch die Lage ähnlich wie Mike ein: In vielen Bereichen unsere Gesellschaft etabliert sich ein ›softes‹ postmodernes Denk- und Lebensklima. Die Lebenskultur ist postmodern aufgeladen. Die Umprägung der Gesellschaft geschieht sanft über den Zeitgeist (TV, Kino, Werbung, Literatur etc.), die Besetzung von Schlüsselstellen mit PoMo-Leuten und zunehmend auch über (bildungs)politische und gesetzgeberische Maßnahmen. Bettina Röhl, eine Tochter von Ulrike Meinhof, spricht im Blick auf die postmoderne Politik des Gender Mainstreaming vom kompletten Umbau der Gesellschaft und Neuerfindung der Menschheit.

In der FAZ vom 4. Januar 2008 (S. 36) habe ich wieder ein interessantes Beispiel für die Aktualität des Themas gefunden. Walter Grasnick, Oberstaatsanwalt a. D. und emeritierter Honorarprofessor für Strafrecht und Rechtsphilosphie in Marburg, veröffentlicht dort einen Beitrag mit dem Titel »Wie Richter richtig richten«.

Grasnick fragt:

Was tun Richter? Sie sprechen Recht. Nur: Was das heißt, wissen die wenigsten. Selbst unter den Richtern. Auch in der Rechtstheorie und Juristischen Methodenlehre herrscht darüber keine Klarheit. Meist werden nicht einmal die richtigen Fragen gestellt.

Nach einem Schwenk über Niklas Luhmann kommt er dann zu folgender Einsicht:

Rechtslehre und Rechtspraxis arbeiten von alters her gesetzeszentriert. Zum Schein, den sie freilich in der Regel selbst nicht durchschauen. Und so geben sie denn regelmäßig gutgläubig vor, sie wendeten nur das Gesetz an, während es sich doch in Wahrheit um ihre Interpretation des Gesetzes handelt. Und die ist nun mal ein anderer Text als der Gesetzestext. Die vielbeschworene Gesetzesbindung des Richters entpuppt sich somit als Selbstbindung, das heißt als Bindung an den selbstgeschriebenen Text der ureigenen Interpretation. Rechtsarbeit ist Textarbeit, Arbeit am eigenen Text mit Hilfe fremder Texte. Diese dienen dem Richter als Referenztexte beim Verfertigen der Begründung seiner Entscheidung.
Das Gesetz ist hier nicht mehr als ein Topos unter Topoi. Zugegebenermaßen noch immer der Haupttopos. Aus allerdings nicht unbedenklichen Gründen. Denn kein Gesetz vermag es, die richterliche Entscheidung zu determinieren. Die bloße Berufung auf das Gesetz überzeugt aber die Rechtssuchenden eher als das offene Eingeständnis des Richters, sein Urteil basiere letztlich auf seiner Überzeugung. Doch mehr als Rechtsmeinungen sind nirgends zu haben.
Wer sich jedoch dazu bekennt, dass unser Recht notwendig Richterrecht ist, sieht sich sattsam bekannten Anwürfen ausgesetzt. Dann sei alles purer Subjektivismus, blanke Beliebigkeit und schrankenlose Willkür. Den Vorwurf des Subjektivismus kann jedoch nur erheben, wer der subjektiven Illusion des Objektivismus erlegen ist. Die anderen Verdikte erledigen sich bei genauerem Hin­sehen.

Zu diesem Abschnitt gäbe es viel zu sagen. Ich beschränke mich auf wenige Notizen:

Wie andere das auch gern tun, präsentiert z. B. Grasnick seinen Subjektivismus als eine von allen zu akzeptierende propositionale Wahrheit. Solche Argu­mentationsfiguren tauchen in der Literatur oft auf. »Im 20. Jahrhundert haben die Geschichtswissenschaftler endlich erkannt, dass es keine historischen Wahrheiten gibt.« Oder: »Wahrheit ist immer relativ.« Solche Sätze stehen im Widerspruch zu ihrem eigenen propositionalen Gehalt. Mit diesem Relativismus-Argument hat sich schon Sokrates befasst und dem Protagorasschüler Theodorus dabei geholfen, einzusehen, dass er damit falsch liegt, weil beinahe alle Menschen es anders sehen müssen. Sokrates: »Sollten wir vielleicht sagen, dass dein Glaube für dich wahr ist, aber nicht für die unzählbar vielen Leute?« (nachzulesen in Platons Theaitetos).

Was mich mehr interessiert, ist die Tatsache, dass post-strukturalistische Hermeneutik hier nicht in einem Lehrbuch für Literaturwissenschaftler oder Philosophen erklärt, sondern von einem Staatsanwalt und Rechtsprofessor als alltägliche Prozesserfahrung beschrieben wird. Demnach schafft der Richter sich selbst die Gesetze, nach denen er dann Recht spricht, da es ›den Text‹ gar nicht gibt, sondern nur jeweils subjektive Textinterpretationen. Wer darüber anders denkt, ist »der subjektiven Illusion des Objektivismus« erlegen.

Es ist ja irgendwie beruhigend, dass Walter Grasnick offensichlich seinen Lesern zutraut, dass sie aus seinem Essay annähernd herauslesen können, was er als Autor intendiert. Und: Ganz so, wie er es beschreibt, wird es wohl nicht sein, da Gerichte öffentlich und Urteile überprüfbar sind. Ein Richter muss sich also zumindest auch mit den Textinterpretationen der Anwälte, denen anderer Richter und potentieller Kommentatoren auseinandersetzen, bevor er sein Urteil spricht. Eine subjektive Komponente bei der Gesetzesanwendung sieht das Rechtssystem ja bewußt vor, ohne das diese gleich in einen Subjektivismus oder gar in Willkür führen muss.

Doch: Die »alltägliche Rechtspraxis« verrät viel über eine Gesellschaft und prägt diese zugleich. Wenn Grasnick spiegelt, was sich in den Gerichten abspielt (was er, wäre er seiner eigenen Argumentation treu, nicht könnte), würde dies zeigen, wie tief inzwischen der Dekonstruktivismus eines Derrida und der Professoren von Yale in die Gesellschaft eingedrungen ist.

So komme ich zum Schluss nochmals auf die Frage zurück, die Mike bewegt (und ich sehr schätze): Wie soll angesichts der postmodernisierten Menschen um uns herum Gemeindearbeit ausschauen? Ich frage: Was machen wir mit Menschen, die (›weich‹ oder ›hart‹) davon ausgehen, dass es jenseits subjektiver Interpretationen nichts gibt? Assimilieren wir uns? Oder müssen wir Ansätze wie zum Beispiel den der radikalen Dekon­struktion aufbrechen, damit die Menschen der Anspruch des Evangeliums überhaupt noch hören können?

– – –

Download des Beitrags als PDF: wiepostmodern.pdf

 

Identität in der Postmoderne

Ted Turnau, Theologe und derzeit Dozent für Medienwissenschaften an der Karls-Universität in Prag, hat sich in einem Workshop mit der Frage der menschliche Identität auseinandergesetzt. Ted, der über »Re-Imagining Ricoeur: Popular Culture as Discursive Text, Metaphor, and Narrative« (1999) promoviert hat, untersucht die Geschichte des »Selbst«, angefangen von dem eher statischen Selbstverständnis des Menschen in der Moderne bis hin zu den dynamischen Entwürfen des Subjekts in der Postmoderne (Lacan, Foucault und Ricoeur). Zum Abschluss seines Workshops entwickelt Ted Turnau, der ebenfalls ein exzellenter Filmkritiker ist, eine biblische Antwort auf die Frage nach einem gesunden Selbstbild.

Neben einem Outline zum ca. 1,5 Stunden Workshop in englischer Sprache gibt es hier die mp3-Datei: www.bethinking.org.

Rebellen des Denkens

ROT.jpgAls ich vor einigen Tagen die Dokumentation Rebellion of Thought vorstellte, hatte ich noch keine Gelegenheit, den Film in voller Länge zu sehen. In der Nacht vom Freitag zum Samstag war es endlich so weit. Meine Familie ging zu Bett, ich füllte mir ein Glas Rotwein und legte die DVD ein. Um es gleich zu sagen: Der Film ist ein Gesamtkunstwerk von atemberaubender Qualität und Schönheit. Musik, Kameraführung und Dramaturgie sind geradezu perfekt aufeinander abgestimmt und gehen unter die Haut.

Als die Filmemacher Brad und Kent C. Williamson damit begannen, Philosophen und Theologen über den Umbruch von der Moderne zur Postmoderne zu befragen, war ihnen selbst noch nicht klar, dass sie das Projekt auf unerwartete Weise verändern sollte. So verknüpft der Film sachliche Informationen über die Postmoderne und Dialoge der Macher über ihre Reise zu einem authentischen Christsein mit anderen kleinen Geschichten.

Die Schnittfolge ist extrem rasant, so dass die Gesprächspartner manchmal ihre Sätze nicht beenden können. Das macht den Film sehr unruhig, passt aber zur Kultur der Postmoderne. Auch die verschiedenen Frames, die das Videobild rahmen, sind stilgerecht und untermalen den Perspektivialismus. Die gewollte Fragmentarisierung ist jedoch zugleich eine Schwäche des Films. Nur selten wird ein Gedanke zu Ende geführt. Der Film will inspirieren, nicht erklären.

Zu den interviewten Experten gehören Leute wie Bruce Benson (Philosoph, Wheaton), D.A. Carson (Neutestamentler, Trinity), Jim Spiegel (Philosoph, Taylor) oder Angus Menuge (Philosoph, Concordia). Auch Win Corduan (Taylor), mein ehemaliger Lehrer im Fach Religionsphilosophie, ist dabei (habe ihn kaum wiedererkannt).

Der großer Schocker kommt am Ende des Films. Ich gebe es zu: Ich saß fassungslos im Sessel und hatte Tränen in den Augen.

Hier gibt es eine Pressemappe zum Film.

Nach oben scrollen
DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner