Überlegungen zur Frage nach der Präexistenz Christi und seiner Gegenwart im Alten Testament werden heute selten angestellt. Selbst in der evangelikalen Literatur der letzten Jahrzehnte gibt es dazu oft eigenartiges Schweigen. Der Alttestamentler Benjamin Kilchör (STH) bezieht Stellung und schreibt:
Gerade im Rahmen einer Hermeneutik, die verneint, dass Christus im Alten Testament anwesend ist – im besten Falle vielleicht anwesend in der Ankündigung des Abwesenden – besteht im christlichen Kontext die Gefahr, das Alte Testament nur als Sprungbrett ins Neue Testament zu benutzen, als Verstehenshintergrund für das Neue Testament, vielleicht sogar als Negativfolie, vor welcher das Neue Testament umso heller leuchtet. Wenn wir aber sehen, dass Christus im Alten Testament ebenso gegenwärtig ist wie im Neuen (nicht in derselben Weise, nämlich nicht im Fleische, wohl aber vermittelt durch denselben Geist), wenn wir darum vom Christus ereignis des Neuen Testaments ins Alte zurückkehren und Christus selbst als das Wort und die Herrlichkeit Gottes erblicken, die im Alten Testament, ins Geheimnis gehüllt, erscheint, dann müssen wir nicht ständig aus dem Alten Testament ins Neue springen, sondern können Christus aus dem Alten Testa ment selbst verkündigen. Wenn wir also das Alte Testament auslegen, nicht nur mit einem historischen Interesse, sondern als Gottes eigenes Wort für die christliche Gemeinde, dann können wir durchaus die Dynamik, die sich im Text selbst findet, her ausarbeiten, ohne nach einem christologischen „Plus“ zu suchen.
Der Aufsatz„Hermeneutische Überlegungen zur Gegenwart Christi im Alten Testament“ (Biblisch erneuerte Theologie, 2019, S. 31–52) kann hier heruntergeladen werden: BeTh2019-Kilchoer.pdf.
Das Thema war mal präsenter, auch bei den „Laien“. Gott zog in einer Wolke an den Israeliten vorbei, und das direkte Ansehen (von vorne) hätte zum Tod geführt. Wer war aber dann der Gott, der mit Adam und Eva sprach, ohne dass die beiden gleich tot umfielen? Die Israeliten durften die Rückseite sehen, die Kehrseite der Pracht und Herrlichkeit Gottes. Und wenn wir Jesus sehen, dann denken wir oft genug zuerst an denjenigen, der elend gefoltert am Kreuz hing, der die Herrlichkeit Gottes verlassen hat, um als Mensch geboren zu werden, um dann für uns zu sterben, sehen also ebenso die Kehrseite der Pracht und Herrlichkeit. Es gibt mittelalterliche Kirchenfenstermalereien (mindestens zwei in Frankreich), da ist es Jesus selbst, der Adam und Eva aus dem Garten Eden vertrieb. Und auf dem gleichen Fensterbild ist Jesus der barmherzige Samariter, der den unter die Räuber Geratenen aufrichtet und in die Herberge bringt. Aus der Perspektive des Sünders ist der Samariter = Jesus… Weiterlesen »
Ein wirklich wichtiges Thema und wirklich sehr wenig bekannt, auch mir selbst. Dabei ist es Jesus selbst, der immer wieder darauf hinweist, wie oft und umfangreich im AT von ihm die Rede ist.
Liest man solche Aussage von ihm, ist die Verwunderung oft sehr groß. Auch bei mir war dies jahrelang ein Rätsel und die Anzahl an Büchern die mir da aufhelfen konnte war extrem dünn gesät. Meist stocherten die Autoren dann auch noch im Nebel und mutmaßten, was Jesus damit wohl gemeint haben könnte.
Inzwischen gibt es zum Glück mehr Quellen, aus denen man Hilfe bekommt. Auch der Vergleich zum aramäischen „memra“ ist sehr aufschlussreich. Im Grunde kann man natürlich auch allein aus der Bibel darauf kommen, wonach man im AT Ausschau halten muss, um Jesus dort zu begegnen. Er ist das Wort Gottes. Ich muss also (beispielsweise) schauen, wo Gott spricht und handelt. Überall dort ist Jesus erkennbar.
Wie blind müssen und mussten die Juden doch sein, dass sie das Offensichtlichste im AT bisher nicht erkannt haben?
Oder ist es vielleicht doch das AT selber, dass eine Präexistenz des Messias und seine Wesensgleichheit mit Gott ausschließt? In öffentlichen Debatten zwischen Juden und Christen konnten aus meiner Sicht bisher nur die jüdischen Argumente überzeugen.
So eine öffentliche Debatte von Kilchör mit nem Rabbi wäre enorm aufschlussreich…
Ich empfehle sehr „The Angel of the Lord. A biblical, historical, theological Study“ von Doug van Dorn und Matt Foreman. Bietet einen sehr umfangreichen Überblick. Aus der Beschreibung: „Who is this Angel? Exploring the biblical texts, the testimony of church history, and the insights of Systematic Theology, Matt Foreman and Doug Van Dorn argue that the answer is beyond doubt: the Angel of the Lord is a manifestation of God the Son. Even more, they argue that this Angel appears more often than people realize, because he appears under different titles, including: the Word, the Name, the Glory, the Face, the Right Hand, even the Son. They show that even some of the ancient Jews spoke of a Second Yahweh in the Old Testament. Christian theologians throughout history have taught this same understanding. Christians today need to be taught again how the Person of Jesus appears throughout the Bible and how he speaks to us today.“ Vielleicht etwas für Verbum,… Weiterlesen »
@Theo: Danke für den Hinweis. Knapp 500 Seiten ist natürlich eine Hausnummer. 😉 So etwas akkurat zu übersetzen, …
Liebe Grüße, Ron
@Ron, seit einige Zeit nutze ich die Übersetzungsfunktion in Logos. Damit konnte ich bereits Werke lesen, die mir zuvor verschlossen blieben. Man müsste das empfohlene Buch also mal in Logos integrieren. Würde mich auch interessieren.
Foreman und van Dorn gaben Interviews zu dem Buch zu Shane Rosenthal bei White Horse Inn. Für die, die lieber kostenlos Englisch hören, empfehlenswert, aber hat vielleicht nicht die Tiefe, die man will.
„dorn foreman“ – White Horse Inn
@ Alex: haben sie es nicht gesehen? Ist auch in der Literatur umstritten. Shane Rosenthal hat in seiner Vertretungszeit für Michael Horton viel dazu gebracht, und als konvertierte Jude war das es für ihn: wieso sah ich das vorher nicht. Paulus hat etwas dazu in 2Kor 3, denke ich.
@Erzgebirgsengländer:
Die Frage ist doch, ob die Juden nicht gute Gründe haben, NICHT an Jesus als Messias zu glauben.
Und was bestimmte Aussagen im AT mit der Ablehnung einer Präexistenz des Messias sowie seines „Gottseins“ zu tun haben könnten. Das wären doch Fragen, die sich Christen stellen könnten, die aus jüdischer Sicht die Hebräische Bibel für eigene Vorstellungen vom „Messias“ frecherweise vereinnahmen.
wenn der Herr Jesus so „frech“ war, dann dürfen es Seine Nachfolger auch 🙂
Micha 5,1; Dan 7,13; Jes 9,5; die in Hebr 1,8 zitierte Stelle, uvm. hat man dafür ja auch genug Grund!
@ Philipp:
Selbstverständlich dürfen auch die Nachfolger Jesu „frech“ sein.
Das müssen sie sogar, denn die zitierten Stellen aus Micha, Jesaja und Daniel haben nicht so wahnsinnig viel mit dem „Christus“ zu tun, wie ihn uns das Johannesevangelium oder der Philipperhymnus vorstellen.
Den Widerspruch zwischen AT und NT zulassen, heißt nicht automatisch, dass man nicht an Jesus glauben kann. Nur dass es vielleicht eine etwas andere Messiasgestalt ist als die, die im AT beschrieben wird.
@Ron: Ja. Meine Paperback-Ausgabe zählt 412 Seiten. Wenn man die Appendizes (60 Seiten), Indexe und die Vorworte abzieht, bleiben 322 Seiten Text. Und es liest sich sehr gut (ob das eine Übersetzung leichter macht weis ich nicht). Viele Grüße, Theo
Danke Ron für den Hinweis auf den Aufsatz. Kommt in mehrererlei Hinsicht zur rechten Zeit!
Post tenebras lux.
M
„…die zitierten Stellen aus Micha, Jesaja und Daniel haben nicht so wahnsinnig viel mit dem „Christus“ zu tun, wie ihn uns das Johannesevangelium oder der Philipperhymnus vorstellen.“ Ich wundere mich schon sehr, dass obiger Kommentar von Alex bisher widerspruchsfrei bleibt. Diese Aussage ist für mich äußerst frech!