Carl Trueman

Interview mit Carl R. Trueman

VM Trueman DerSiegeszugDesModernenSelbst Webseite01 1080xEvangelium21 hat ein Interview mit Carl Trueman zu seinem Buch Der Siegeszug des modernen Selbst veröffentlicht. Hier ein Auszug:

Was ist denn die moderne Sicht des Selbst und des Personseins?

Trueman: Das Selbst wird weitgehend mit inneren, psychologischen Gedanken und Gefühlen identifiziert. Nur so konnte die Trans-Ideologie so plausibel werden. Das Personsein wird mit dem Selbstbewusstsein gleichgesetzt. So setzt sich zunehmend durch, dass Babys im Mutterleib oder Menschen mit Demenz nicht länger als Personen angesehen werden und man ihnen deswegen auch Rechte abspricht.

Wie hat diese Sicht das Denken über die Ethik geformt?

Trueman: Der Verlust einer allgemein anerkannten Sicht der menschlichen Natur und wofür Menschen leben hat dazu geführt, dass Ethik zu einer Sache konkurrierender individueller Rechte wurde, bei denen typischerweise nach den jeweiligen kulturellen Vorlieben über richtig und falsch entschieden werden kann. Der Anspruch, ob etwas moralisch richtig oder falsch ist, ist nun wesentlich zu einer Aussage über kulturelle Vorlieben und Nützlichkeit geworden. Was auch immer den Einzelnen glücklich machen kann, wird zum bestimmenden ethischen Anspruch.

Wie konnten die Ideen der sexuellen Revolution den öffentlichen Diskurs der westlichen Zivilisation so dominieren und den Weg in die Kirchen finden?

Trueman: Wenn Sexualität erst einmal mit menschlicher Identität gleichgesetzt wird – was plausibel scheint, weil sexuelle Wünsche für die meisten von uns zu den stärksten Erfahrungen gehören –, werden Gesetze und Sitten, die mit sexuellem Verhalten verbunden sind, unvermeidlich politisch. Sie schränken das Sexualverhalten ein, sodass die Gesellschaft schließlich bestimmt, wer wir sein dürfen – und bekanntlich gilt: Sex sells. Kinofilme und Fernsehserien, das Internet und die Werbung – alles drängt uns, über uns selbst in sexuellen Kategorien zu denken. Das verstärkt die politische Tendenz der sexuellen Revolution. Für die Kirche gilt, dass wir in dieser Welt leben und viele ihrer Entwicklungen in uns aufnehmen, ohne dass wir es wirklich merken. Denken wir an die einvernehmliche Scheidung. Dabei geht man davon aus, dass die Ehe eine gefühlsmäßige Verbindung zwischen zwei Menschen ist, die aufgelöst werden kann, wenn sie die beiden Vertragspartner nicht mehr länger glücklich macht. Das ist die Sicht der Welt auf die Ehe, nicht die der Bibel. Aber wie viele unserer Kirchen haben noch einen klaren Standpunkt zum Thema einvernehmliche Ehescheidung?

Mehr hier: www.evangelium21.net.

Carl Trueman: Der Siegeszug des modernen Selbst

VM Trueman DerSiegeszugDesModernenSelbst Mockup 3D

Das Buch Der Siegeszug des modernen Selbst ist inzwischen in deutscher Sprache erschienen und kann bei dem Verlag Verbum Medien oder im Buchhandel bezogen werden.

Professor Stephan Holthaus, Rektor der Freien Theologischen Hochschule in Gießen, schreibt über das Buch:

»Carl Trueman, Professor für Bibel- und Religionswissenschaft am Grove City College, analysiert unsere westliche Kultur unter der Fragestellung: ›Was macht eigentlich den Menschen aus?‹ Die ›Identitätsfrage‹ durchzieht nach Trueman die neuere Geistesgeschichte vom Individualismus bis hin zur Genderdebatte und der LGBTQ+-Bewegung. Die ›sexuelle Revolution‹ begann schon mit der Infragestellung unseres ›Selbst‹ durch Rousseau, dann folgten Marx, Darwin, Shelley, Nietzsche, Freud und zuletzt die ›Neuen Linken‹. Weil wir Gott verloren haben, haben wir auch uns selbst verloren, so Trueman. Die Sexualisierung unserer Gesellschaft und die Suche nach Authentizität sind dabei Ausdruck einer kollektiven Verunsicherung des Menschen, der auf der Suche nach seinem echten Wesenskern ist. Diese geniale Gegenwartsanalyse bleibt nicht beim Lamentieren stehen, sondern zeigt auf, wie unglaublich wichtig der christliche Glaube und unsere Identität in Gott in der modernen Zeit sind. Summa: Eine sehr spannende, tiefgründige und hochaktuelle Lektüre. Absolut empfehlenswert!«

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Professorin em. für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft am Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden, schreibt:

»Das Buch ist eine Augenöffnung – somit ein großer Dienst in verwirrten Zeiten. Es stellt sich der großen Aufgabe, vom Faktenwissen zum Orientierungswissen überzuleiten. Sofern heute Vernunft vielfach dehumanisiert wird, wird sie hier wieder in ihre Aufgabe eingesetzt: den Geist wahrheitsfähig zu machen.«

Harald Seubert, Professor und Fachbereichsleiter für Philosophie und Religionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel (Schweiz) sagt zum Buch:

»Carl Trueman hat ein augenöffnendes Buch über die Bewusstseinslage eines Maß und Mitte verlierenden Individualismus vorgelegt. Er klärt schonungslos auf und zeigt, wie dieser Individualismus sich selbst abschafft. Die globale sexuelle Revolution hat tiefe Hintergründe: Hier werden sie souverän ausgeleuchtet und entschlüsselt. Wer wissen will, was in unserer Zeit vorgeht und wie sich proklamierte Freiheiten in ihr Gegenteil verkehren, muss dieses Buch lesen. Gerade Orientierung suchenden evangelikalen Lesern und Leserinnen wird das Buch Argumente und neue Klarheit geben. Ein Must-have!«

Im Geleitwort zur deutschen Ausgabe heißt es:

Carl Trueman zeigt in seinem Buch Der Siegeszug des modernen Selbst, dass wir in einer »entschöpflichten« (engl. decreated) und »entsakralisierten« (engl. desacralized) Welt leben. Mit Rückgriff auf Untersuchungen von Charles Taylor, Philip Rieff und Alasdair McIntyre zeichnet er kenntnisreich die Entwicklung nach, die zum »modernen Selbst« geführt hat. Die Fragen, die er stellt, sind von Gewicht und aktuell: Warum haben wir jenen metaphysischen Rückbezug verloren, der der menschlichen Identität und Moral über Jahrhunderte hinweg den nötigen Rückhalt gegeben hat, um Festigkeit und Bedeutung zu entwickeln? Wie ist es dazu gekommen, dass die stabile menschliche Natur sich verflüssigt hat und nun mehr und mehr verdampft? Woher stammt das Konzept eines Selbst, dass sich vor allem als psychologische und modellierbare Größe begreift? Woran liegt es, dass Sexualität – ja eigentlich eine zutiefst persönliche Angelegenheit – heute ein bemerkenswert öffentliches und machtpolitisches Thema geworden ist? Warum erscheint der Transgenderismus so vielen Leuten plausibel und unterstützenswert?

Der Historiker Carl Trueman geht in seiner Untersuchung zum »modernen Selbst« diesen Fragen und den zugrundeliegenden geistesgeschichtlichen Entwicklungen in einer Weise nach, die erkennen lässt, dass er verstehen möchte, was geschehen ist. Der Versuchung, vorschnelle oder polemische Kommentare und Antworten zu geben, widersteht er erfolgreich und liefert somit insbesondere christlichen Lesern einen nüchternen und zugleich erhellenden Beitrag zur Standortbestimmung. Die Kirchen brauchen dringend »ein tieferes und ganzheitlicheres Verständnis der modernen und postmodernen Gesamtlage«. Die spätmoderne Denkweise ist nämlich das Wasser, »in dem wir schwimmen, die Luft, die wir atmen«, wie Rod Dreher in seinem Vorwort schreibt. Wir können uns dem Einfluss dieser Kultur nicht nur nicht entziehen – allzu oft sind wir geneigte Teilhaber und Produzenten ihrer Lebensart.

Von mir gibt es für das Werk eine starke Empfehlung. Wer sich für das Thema interessiert, kommt an dieser Studie nicht vorbei. Wer sich für das Thema nicht interessiert, aber geistliche Leitungsverantwortung wahrnimmt, wird das Buch nicht ignorieren können, da uns Fragen um »Selbstverständnis«, »expressiven Individualismus«, »sexuelle Revolution« oder »Identität« in den nächsten fünfzehn Jahren intensiv beschäftigen werden.

Die neue Sichtweise vom „Selbst“

VM Trueman DerSiegeszugDesModernenSelbst Webseite01 1080xWorum geht es in dem Buch Der Siegeszug des modernen Selbst: Kulturelle Amnesie, expressiver Individualismus und der Weg zur sexuellen Revolution, das im November 2022 beim Verbum Medien-Verlag erscheinen wird? Es geht um eine neue Sichtweise auf das „Selbst“. Sexualität ist demnach das, was den Menschen im Tiefsten ausmacht. Von daher bekommt Sex im persönlichen Leben und in den öffentlichen Diskursen eine so große Aufmerksamkeit. Die Frage der Identität ist aufs Engste mit der Sexualität verknüpft. Warum und auf welche Weise es so gekommen ist, wird in diesem Buch gründlich untersucht.

Carl Trueman schreibt (Der Siegeszug des modernen Selbst, 2022, S. 43):

Wie in der Einleitung erwähnt, ist der Grundgedanke dieses Buches, dass
die sexuelle Revolution mit ihren verschiedenen Ausdrucksformen in der
modernen Gesellschaft nicht isoliert betrachtet werden darf. Vielmehr
ist sie die konkrete und vielleicht offensichtlichste gesellschaftliche
Manifestation einer viel tieferen und umfassenderen Revolution. Es geht
um die Sicht auf das Individuum, das Selbst. Während Sex heute oft als
schlichte Freizeitaktivität hingestellt wird, soll Sexualität der Kern dessen
sein, was es bedeutet, als authentischer Mensch zu leben. Das ist
ein tiefgreifender Anspruch, der wohl beispiellos in der Geschichte ist.

Wenn der Glaube etwas kostet

Wir leben in einem säkularen Zeitalter (wie Charles Taylor sagt). Folglich kostet es immer häufiger etwas, als Christ zu seinen Glaubensüberzeugungen zu stehen. Carl Trueman berichtet für First Things, dass eine christliche Universität ihren Dozenten Bradley Nassif fallen ließ, weil er traditionelle Ansichten zu Sexualität und Ehe vertritt.

Trueman schreibt:

Im Mai 2021 stellte die North Park University (NPU) ihre Abteilung für Christliche Studien (CSD) wegen zu geringer Einschreibungen ein und entließ in der Folge vier fest angestellte Lehrkräfte, darunter Dr. Nassif. Eine Untersuchung durch eine neutrale externe Organisation zeigte jedoch, dass der Fachbereich Christliche Studien in Wirklichkeit finanziell gut dastand. Drei der vier Professoren wurden wieder eingestellt, aber Dr. Nassif blieb auf der Strecke. Jetzt unterrichten Lehrbeauftragte seine Kurse.

Der Grund dafür ist kein Geheimnis. Nassif behauptet, dass all dies geschah, weil er seine begründeten, orthodoxen Ansichten über Ehe und menschliche Sexualität zum Ausdruck brachte. Er war das einzige Fakultätsmitglied der CSD, das die Ansichten der Evangelical Covenant Church (ECC) zu Ehe und Sexualität unterstützte und der Meinung war, dass sie in den Lehrplan aufgenommen werden sollten. Einige Mitglieder des Lehrkörpers und der Verwaltung reagierten auf seine Sichtweise mit Feindseligkeit. Und diese Haltung zur Sexualität wurde ein wesentlicher Grund für seine Entlassung.

Der Anwalt von Dr. Nassif hat eidesstattliche Erklärungen von der AAUP-Präsidentin der NPU, Nancy Arneson, und dem ehemaligen Probst Michael Emerson erhalten, die diese Behauptung unterstützen. Obwohl North Park einer Konfession, der ECC, angehört, die traditionelle Ansichten über Sex, Sexualität und Ehe vertritt, will North Park offenbar nicht, dass diese Ansichten im Klassenzimmer gelehrt werden, und sei es auch nur als eine Option unter vielen, geschweige denn als die für alle Menschen verbindliche Wahrheit. Und Dr. Nassifs Einspruch dagegen hat ihn seine Karriere gekostet.

Mehr hier: www.firstthings.com.

Das Geschlecht als Gefühl

Ein kürzlich publiziertes Interview mit Frau Prof. Dr. med. Sibylle M. Winter von der Charité in Berlin bestätigt wieder einmal, wie wichtig es ist, dass das Buch Der Siegeszug des modernen Selbst von Carl Trueman in diesem Herbst bei Verbum Medien erscheinen soll. 

Trueman zeigt in seiner Untersuchung zur kulturellen Amnesie und dem expressiven Individualismus, dass der postmoderne Mensch keine Autorität jenseits des eigenen Gefühls mehr gelten lässt. Sogar der eigene Körper wird dem inneren psychologischen Selbst unterworfen. Der Leib darf (angeblich) nicht mehr „mitsagen“, wer ich bin. Was bleibt, ist ein expressiver Individualismus und Subjektismus, dem die Gesellschaft sich anschließen darf. 

Und damit zurück zu Sibylle Winter. Die FAZ hat die Ärztin anlässlich des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes gefragt, wie denn festgestellt werden könne, ob eine Person transident sei (Transidentität liegt laut Genderforschung dann vor, wenn die Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt festgestellten Geschlecht nicht übereinstimmt). Die Antwort lautet wie folgt: 

Die Geschlechtsidentität ist eine sub­jektive Einschätzung. Es gibt keine Diagnostik wie eine Blutentnahme oder Ähnliches. Deshalb ist es sehr wichtig, den jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, uns ihre Gedanken zu ihrer Geschlechtsidentität mitzuteilen. Wenn wir das nicht infrage stellen, können die jungen Menschen eigene Unsicher­heiten zulassen und ihren Weg finden. Ihre subjektive Einschätzung ist für uns maßgeblich. Dabei ist die Haltung ­wichtig, dass Transsexualität heute nicht mehr als Krankheit gesehen wird, wie man früher noch dachte. Sondern ein subjektives Gefühl. Für uns bedeutet das: Wir prüfen nicht, wir stellen es nicht infrage. Wir schauen nicht, ob es wirklich so ist.

Kurz gesagt: Geschlechtsidentität ist ein subjektives Gefühl, das nicht infrage gestellt wird (werden darf). Es wird nicht überprüft, ob das Gefühl mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die subjektive Selbstauskunft hat das letzte Wort.  

Stellen wir uns mal vor, wir würden auch in anderen Bereichen der Medizin (oder in sonstigen Wissenschaften) so vorgehen. Was wollen wir denn einer Frau sagen, die subjektiv das sichere Gefühl hat, eine Katze zu sein und darunter leidet, nicht nur einen falschen Köper zu haben, sondern auch in der falschen Spezies geboren worden zu sein? 

Oder ein anderes Beispiel: Es gibt Menschen, die intakte Körperteile als fremd empfinden und – um dem wahren Ich näher zu kommen – diese Körperteile entfernen oder zerstören lassen möchten (man sprich auch von „Apotemnophilia“ oder besser von „Body Integrity Identity Disorder“,  also: Störung der körperlichen Integrität und Identität, vgl. dazu: Ron Kubsch, Eine fatale Sehnsucht: Wenn sich Menschen eine Behinderung wünschen, ideaSpektrum 31/23 2006). Was würde denn passieren, wenn wir nicht schauen, ob es wirklich so ist? Rechtfertigt das seelische Leid Betroffener einen unwiderruflichen ärztlichen Eingriff, der zur Körperbehinderung führt, also etwa der Amputation eines gesunden Armes? 

Ich hoffe nicht. Menschen reifen doch gerade dann, wenn sie sich infrage stellen lassen und ihre eigenen Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Ideen an der Wirklichkeit prüfen. Wo soll denn ein Absolutismus des Selbst hinführen? 

Es ist höchste Zeit, dass wir die Vorstellung vom Menschen als eine plastische Person, deren psychologisches Wesen es mit sich bringt, dass sie ihre persönliche Identität nach Belieben erschaffen und verändern kann, hinterfragen. Nur wenn uns das gelingt, sind wir in der Lage, die mit diesem Konzept aufgeworfenen Fragen solide zu beantworten. Trueman: 

Die Welt, in der diese Art des Denkens plausibel geworden ist, hat sowohl intellektuelle als auch materielle Wurzeln. Philosophische Denkströmungen aus dem neunzehnten Jahrhundert haben die Annahme, dass die menschliche Natur etwas Gegebenes ist, etwas, das eine intrinsische, nicht verhandelbare Autorität darüber hat, wer wir sind, stark geschwächt oder sogar abgeschafft. Die Veränderungen in unseren materiellen Verhältnissen haben es ermöglicht, dass die diesen Philosophien zugrundeliegenden, anti-essentialistischen Prinzipien plausibel und vielleicht sogar zum Maßstab unseres heutigen Denkens über das Selbstsein geworden sind.

Der Siegeszug des modernen Selbst

Daniel stellt in seiner ausführlichen Rezension sein Lieblingsbuch aus dem Jahr 2021 vor. Es geht um The Rise and Triumph of the Modern Self von Carl R. Trueman. Daniel schreibt: 

Um verstehen zu können, warum die Aussage “Ich bin ein Mann gefangen im Körper einer Frau” heutzutage zutiefst die Identität einer Person ausmacht, oder etwas allgemeiner formuliert, warum Sexualität in unseren Tagen für den Großteil der Menschen Identität ist, bedient sich Trueman der Frameworks der Philosophen Charles Taylor und Alasdair MacIntyre sowie des Soziologen Philip Rieff. Besonders hilfreich bei Taylor ist der von ihm geprägte Begriff der sozialen Idee (social imaginary), der beschreibt, wie sich Individuen die Welt, in der sie leben, und ihre Beziehung zu ihr vorstellen. Hier gilt es zwei Arten der Weltanschauung zu unterscheiden: während Mimesis die Welt als einen Ort ansieht, in dem Sinn von außen vorgegeben ist oder zumindest gefunden werden kann, beschreibt Poiesis eine Welt als Ort, der letzlich allein von Atomen bestimmt wird und den es in einer anderen Konstellation des Zufalls nie gegeben hätte. Eine erste Beobachtung von Trueman ist diejenige, dass die Welt in unserer Zeit von einer vormals mimetischen zu einer mehr und mehr poetisch aufgefassten geworden ist.

Rieffs Arbeit hilft uns zu verstehen, dass der Mensch lernt, wer er ist, wenn er lernt, wie er zu seiner Gesellschaft passen kann. Die Auffassung hat hierbei im Zeitablauf einen signifikanten Wandel erlebt: hat früher der political man sich selbst als Teil eines antiken/mittelalterlichen Stadtstaates gesehen, dem gegenüber man loyal sein musste, spürte der religious man in der Folge eine starke Beziehung zu seinem Glauben. Die Unterscheidung zwischen dem economic man und dem heutigen psychologic man lässt sich gut anhand eines Beispiels beschreiben: der economic man war dann zufrieden mit seiner Arbeit, wenn er sich und seine Familie ernähren und Schuhe für seine Kinder kaufen konnte – unabhängig davon, wie schmutzig und hart sein Job war. Dem heutigen psychologic man jedoch ist es wichtig, Erfüllung, Verantwortung und Spaß in seiner Arbeit zu finden, auch wenn das negative Folgen für seine Außenwelt bedeuten würde – individuelles psychologisches Wohlbefinden triumphiert.

Trueman zeigt auf, dass eine frühere Gesellschaft bildende Institutionen (Schulen, Universitäten) dahingehend nutzte, Einzelne zu formen und sie ihren Werten und Normen gerecht zu erziehen. Infolge des Shifts zum psychologic man jedoch sind externe Muster zur Repression geworden und Schüler gehen heute in die Schule um zu performen, nicht um geformt zu werden. Das Individuum ist zum König mutiert. Wenn Identität jedoch eine Sache allein der social imaginary des Einzelnen geworden und das Denken des Menschen als souverän angesehen wird, so wird Identität so unendlich wie die menschliche Vorstellungskraft. Jeder kann jeder werden und sein. 

Mehr hier: philemonblog.de.

Übrigens: Der Verlag Verbum Medien arbeitet derzeit in Kooperation mit dem Netzwerk Evangelium21 an einer deutscher Ausgabe des Buches.

Aufstieg und Triumph des modernen Selbst

41+mYYRIPWL SX331 BO1 204 203 200Claudio Canonica hat für Daniel Option das faszinierende Buch Aufstieg und Triumph des modernen Selbst ausführlich rezensiert. Hier ein Auszug zum Einfluss von Jean-Jacques Rousseau auf die Romantik und indirekt auch auf die sexuelle Revolution:

Ein spannendes Kapitel von Truemans Buch untersucht den Einfluss von Rousseaus Denken auf die Poeten Wordsworth, Blake, und Shelley, welche ihrerseits eine ganze Generation der Romantik geprägt haben. Rousseau hat den Naturzustand des Menschen idealisiert, und Wordsworth malte darauf den Lesern seiner Werke eine Rückkehr zum natürlichen, ländlichen Leben vor Augen. Seine Gedichte sind geprägt von einer Antithese, einem Kampf zwischen Natur und Kultur, wobei die Natur das Ideal ist, das durch den schädlichen Einfluss der Kultur zerstört wird.

Das Thema von Shelleys Denken ist die innere, rohe Kraft der Natur, die den Poeten bewegt und zu künstlerischem Ausdruck befähigt. Der Dichter wird zu einer Art Propheten, der mit der Stimme des urtümlichen, absoluten und natürlichen Lebens spricht. Damit rücken Kunst und Ästhetik für Shelley in die Nähe von Ethik und Politik. Die wirklich wichtigen Tugenden können im Menschen nur durch Formen der Kunst erzeugt werden, und die Poesie ist es, die den Menschen wirklich zum Menschen macht und ihn zum moralischen Urteil befähigt. Gleichzeitig ist Shelley ein scharfer Kritiker des Christentums. Gott ist für ihn ein Prototyp menschlicher Tyrann[ei], und Religion ein Machtsystem zur Unterdrückung von Minderheiten.

Wichtiger für Truemans Buch ist allerdings, dass bei Shelley eine klare Verbindung zwischen Religion, politischer Unterdrückung, und Restriktionen sexueller Aktivität auftaucht. Im Zentrum dieses Zusammenhanges steht die monogame Ehe. Für Shelley, wie auch für andere Denker seiner Zeit, stellt sie nur ein soziales Konstrukt dar, ein christliches Relikt, das geschaffen wurde, um den natürlichen Instinkt der Liebe zu kanalisieren und letztlich zu unterdrücken. Der einzige Weg, um sexuelle Verbindungen im Einklang mit der Natur wiederherzustellen, ist daher die Abschaffung der Ehe. Christliche Vorstellungen von Moral und lebenslanger Ehe sind für Shelley Instrumente der Unterdrückung, die Menschen fortgesetzt daran hindern, authentisch zu leben, sie sind daher grundsätzlich böse, gegen die Natur des Menschen. Vielleicht ist hier die erste Vorahnung einer Revolution zu finden, die in ihrem tiefsten Kern sexuell und antireligiös ist.

An dieser Stelle der Hinweis, dass Evangelium21 in Zusammenarbeit mit dem Verlag Verbum Medien die Rechte für die Übersetzung des Buches erworben hat. Wir arbeiten mit Hochdruck an einer deutschen Ausgabe und hoffen, diese im Jahr 2022 in den Buchhandel zu bringen. Als Team sind wir zuversichtlich, dass die pünktliche Herausgabe gelingt.

Falls jemand den Wunsch verspürt, die deutsche Ausgabe von The Rise and Triumph of the Modern Self: Cultural Amnesia, Expressive Individualism, and the Road to Sexual Revolution finanziell zu unterstützen, kann er sich gern mit mir über das Kontaktformular in Verbindung setzen. Wir können jede Form der Unterstützung gut gebrauchen. Das Projekt ist sehr ambitioniert. Vielen Dank!

Hier noch der Link auf die vollständige Rezension von Claudio Canonica: danieloption.ch.

Joshua Harris ist wieder da

Joshua Harris steht wieder im Rampenlicht. Er wurde als junger Autor des Buches Ungeküsst und doch kein Frosch: Warum sich Warten lohnt bekannt und war damit eine wichtige Inspiration für die „Wir wollen warten“-Bewegung innerhalb des amerikanischen Evangelikalismus. Dann, nach einer Zeit als Pastor einer evangelikalen Megakirche in Gaithersburg, verließ er den Dienst, verwarf sein Buch und die Lehre, die ihm seine Plattform gegeben hatten, und hing sogar den Glauben an den Nagel.

Harris ist nun zurück auf der Bühne und geht mit seinem neuesten Projekt hausieren, einem fünfteiligen Kurs, der dabei helfen soll, mit dem Schaden umzugehen, den die Reinheitskultur und die religiöse Gesetzlichkeit im Leben junger Leute angerichtet haben könnten. Joshua Harris lässt sich das natürlich gut bezahlen.

Hier ein Artikel dazu von Carl Trueman: www.firstthings.com.

Die Gender-Verwirrung

Das Thema „Transgender-Identität“ wird für Christen auf absehbare Zeit von Bedeutung sein, sowohl in Fragen des öffentlichen Lebens als auch in der Seelsorge. Die aufgeregte Debatte um alles, was damit zu tun hat – von Unisex-Schultoiletten über Trans-Frauen im Sport bis hin zu Eltern- und Kinderrechten – wird dafür sorgen, dass die Thematik in der Politik präsent bleibt. Und die Tatsache, dass immer mehr Teenager angeben, von einer Geschlechtsidentitätsstörung betroffen zu sein, bedeutet, dass Gemeinden und Pastoren gut daran tun, sich damit zu befassen.

Carl Trueman hat in seinem dicken Buch The Rise and Triumph of the Modern Self: Cultural Amnesia, Expressive Individualism, and the Road to Sexual Revolution die kulturgeschichtliche Entwicklung analysiert. In einem Artikel, der bei E21 erschienen ist, gibt er Christen und Gemeinden konkrete Empfehlungen.

Ein Auszug:

Ein Mensch, der mit Geschlechtsdysphorie kämpft, ist per Definition jemand, der sich nicht einmal in seinem eigenen Körper zuhause fühlt. Dieses Gefühl des Unbehagens lässt sich nicht über Nacht beseitigen. Aber wir sollten uns daran erinnern, dass das gewissermaßen nur eine der aktuellen Ausdrucksweisen für das Unbehagen ist, das wir alle in einer Welt empfinden, die nicht so ist, wie sie sein sollte – die sozusagen aus den Fugen geraten ist. Und an dieser Stelle kommt der Gemeinde als einer bekennenden, Jüngerschaft lebenden und anbetenden Gemeinschaft eine entscheidende Bedeutung zu.

Die Gemeinde sieht sich heute einer Kakophonie der Identitäten ausgesetzt, die unsere Welt überfluten (dabei ist das Gender-Chaos nur ein Beispiel). Wenn sie sich dagegen behaupten will, dann muss sie eine starke Gemeinschaft sein, in der die Menschen ein tiefes Gefühl der Zugehörigkeit empfinden und in der deshalb ein tiefes Bewusstsein dessen, wer wir selbst sind, geformt und gefördert wird. Dazu gehören drei Dinge: ein klares Festhalten an der biblischen Lehre in den Bereichen Identität (wir finden unsere Identität in Christus) und Sexualität (sexuelles Verlangen oder innere Überzeugungen im Hinblick auf das Geschlecht machen nicht maßgeblich aus, wer wir sind); ein auf Nachfolge ausgerichteter Ansatz für den Gottesdienst, denn dort begegnet Gott seinem Volk und dort werden wir daran erinnert, wer wir sind; und eine liebevolle Gestaltung der Gemeinschaft, in der wir uns aufrichtig umeinander kümmern, einander Gastfreundschaft erweisen und die Lasten des anderen tragen. All diese Elemente sind notwendig, um unsere Identität zu prägen.

Die Gemeinde der Zukunft wird sich weitaus stärker dessen bewusst sein müssen, wer sie ist. Sie kann sich nicht länger darauf verlassen, dass das moralische Empfinden der Gesellschaft da draußen ihre grundlegendsten ethischen Prinzipien bestätigt. Ganz im Gegenteil: Geht es nach dem moralischen Empfinden der Gesellschaft, dann erscheinen die Standpunkte der Gemeinde in Bezug auf Gender und Sexualität als zutiefst unglaubwürdig.

Mehr: www.evangelium21.net.

Der Aufstieg und Triumph des modernen Selbst

Trueman The Rise and Triumpf of the Modern SelfDaniel Vullriede hat das Buch The Rise and Triumph of the Modern Self (dt. Der Aufstieg und Triumph des modernen Selbst) von Carl Trueman gelesen und rezensiert.

Daniel schreibt:

Deutlich wird hier: Wenn man die politische Unterdrückung als Hauptproblem der Gesellschaft ansieht und sie v.a. psychologisch definiert, dann wird das subjektive Gefühl schnell zum Maßstab von Recht und Unrecht. Folglich konnte Marcuse die Einschränkung der liberalen Redefreiheit fordern (!), weil bereits Worte unterdrücken können. Parallel dazu bestimmte die existenzialistische Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir die Frage nach der Wahrheit v.a. von der Empirik her, und unterschied zwischen einem biologischen und psychologischen Geschlecht.

Gerade dieser dritte Teil des Buches hat es in sich. Anstatt sich in konstruierten Verbindungen und Argumenten aus zweiter Hand zu verlieren, arbeitet Trueman eng an den Primärquellen. Sich auf die unterschiedlichen Weltbilder, Denkvoraussetzungen und Argumente einzulassen, erfordert einiges an Konzentration und Wendigkeit. Dennoch kommt Trueman seinen Lesern stets entgegen – er wiederholt regelmäßig zentrale Gedanken, unterstreicht die logischen oder historischen Verbindungen und erläutert die praktischen Konsequenzen der jeweiligen Theorie.

Im vierten Teil von The Rise and Triumph of the Modern Self erläutert Trueman, wie die bisher besprochenen Denkrichtungen, Theorien und Umwertungen schließlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Besonders in der Bewegung des Surrealismus ging es darum, dem Irrationalen und Unbewussten künstlerisch Ausdruck zu verleihen, auch auf subversive und erotisierende Weise die traditionellen Normen in der Gesellschaft zu überwinden.

In gewisser Hinsicht leistete der Surrealismus direkte Vorarbeit für die kulturelle Entschärfung der Pornographie. Während eine frühere Generation von Feministinnen darin noch eine klare Unterdrückung von Frauen erkannte, hinterfragt heute fast niemand mehr die moralische Brisanz dahinter. Vom Playboy-Magazin über Fernsehserien wie Game of Thrones bis hin zu Liedern von Ariana Grande – pornographische Anspielungen und Inhalte, Praktiken und Produkte sind längst im kulturellen Mainstream angekommen. Sie ‚helfen‘ den Menschen dabei, ihre Individualität auszudrücken und sich im Hier und Jetzt gut zu fühlen – allerdings ohne die tieferen sozialen, existenziellen und ethischen Folgen und Problematiken bedenken zu müssen.

Bis zu diesem Punkt hat Trueman aufgezeigt, wie das Menschsein seit der Aufklärungsepoche einseitig psychologisch umgedeutet wurde, wie schließlich die Psychologie sexualisiert wurde, und wie die individuelle Sexualität sich immer weiter zu einem politischen Thema entwickelte.

Aber ist Sexualität nicht vielmehr etwas Persönliches und Privates? Ist das ganze Thema nicht vielleicht etwas dramatisiert dargestellt? Dass dies nicht der Fall ist, weist der Autor nach, indem er die Argumentationslinien verschiedener Beschlüsse des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten seit 1992 untersucht, die 2015 zur landesweiten Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe in den USA geführt haben. Der Wortlaut der offiziellen Beschlüsse überrascht tatsächlich und passt zu Truemans ideengeschichtlicher Kulturanalyse.

Mehr hier: www.evangelium21.net.

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