Harry Blamires

Das christliche Konzept von Wahrheit

Der 2017 verstorbene Harry Blamires hat vor 60 Jahren einmal über das christliche Denken gesagt (The Christian Mind, 1963, Kindle Position 1392ff):

Wenn wir Christen von den „großen Wahrheiten“ des christlichen Glaubens sprechen, meinen wir vor allem jene Lehren, die das Zusammentreffen des Zeitlichen und des Ewigen beschreiben, Lehren, die von einer Wirklichkeit jenseits unserer endlichen Ordnung zeugen, die auf diese Ordnung eingewirkt hat und immer noch eingewirkt; die Lehren von der göttlichen Schöpfung, der Menschwerdung, der Erlösung, dem Wirken des Heiligen Geistes. Mit dieser Illustration, wie wir Christen in der Praxis das Wort Wahrheit verwenden, wenn wir christlich denken und sprechen, soll die ganze Breite der Kluft aufgezeigt werden, die den christlichen vom weltlichen Geist trennt. Für den Christen ist die Wahrheit übernatürlich begründet: Sie wird nicht in der natürlichen Welt hergestellt. Die Heftigkeit des Zusammenstoßes zwischen dem säkularen und dem christlichen Denken wird in dieser Hinsicht oft unterschätzt. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass das Versäumnis, klar zwischen dem christlichen Wahrheitsbegriff und dem Wahrheitsbegriff zu unterscheiden, der im säkularen Denken verbreitet ist, zu den bedauerlichsten Versäumnissen unserer Zeit gehört. Dieses Versäumnis hat mehr als alles andere dazu beigetragen, die intellektuelle Überzeugungskraft der Kirche zu schwächen. Es hat im Denken der Christen selbst zu schwammiger Sentimentalität und Ausflüchten geführt und damit Klarheit und Autorität zerstört. Umgekehrt hat sie in der säkularen Welt die Überzeugung genährt, dass die Kirche dieser Generation nichts zu sagen hat, was tiefer oder verblüffender wäre als die herkömmlichen Plattitüden der Wohlfahrtsethik. In aller Kürze kann man den Konflikt zwischen christlichem und säkularem Geist so zusammenfassen: Der Säkularismus behauptet, dass das rechthaberische Ich der einzige Richter der Wahrheit ist. Das Christentum erhebt die gegebene göttliche Offenbarung zum letzten Prüfstein der Wahrheit. Die Kennzeichen der christlich verstandenen Wahrheit sind also: Sie ist übernatürlich begründet und nicht in der Natur entstanden; sie ist objektiv und nicht subjektiv; sie ist eine Offenbarung und keine Konstruktion; sie wird durch Nachforschung entdeckt und nicht durch ein Mehrheitsvotum gewählt; sie ist verbindlich und nicht eine Frage der persönlichen Entscheidung.

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„Es gibt keinen christlichen Geist mehr“

John Stott schreibt (Es kommt auch auf den Verstand an, Hänssler, 1975, S 23–24):

Obwohl der menschliche Verstand verdunkelt und die menschlichen Augen blind sind, obwohl der Nichtwiedergeborene von sich aus die Dinge des Geistes nicht empfangen und verstehen kann, „weil sie geistlich begriffen sein wollen“, wendet sich das Evangelium doch an ihren Geist, ihren Verstand, weil das der von Gott gewählte Weg ist, ihre Augen zu öffnen, ihren Geist zu erleuchten und sie zu erretten. Zu diesem Punkt wird noch mehr zu sagen sein, wenn wir zum Thema Evangelisation kommen.

Die Erlösung des Menschen bringt die Erneuerung der Gottebenbildlichkeit, die durch den Sündenfall verzerrt wurde, mit sich. Dies schließt den Verstand ein. Paulus beschreibt aus dem Heidentum Bekehrte so: „Und zieht den neuen (Menschen) an, der da erneuert wird zu der Erkenntnis nach dem Ebenbilde des, der ihn geschaffen hat“ (Kolosser 3,10). Oder: „… die ihr erneuert seid im Geist eures Gemüts“ (Epheser 4, 2310). Er konnte noch weiter gehen: Ein geistlicher Mensch, ein Mensch, der unter der Leitung des Heiligen Geistes steht, hat eine neue Fähigkeit, geistlich zu differenzieren. Man kann sogar von ihm sagen, dass er den „Sinn Christi“ hat.

Diese Überzeugung, dass Christen einen neuen Geist haben, befähigte Paulus, sich voller Zuversicht an seine Leser zu wenden: „Als mit den Klugen rede ich; richtet ihr, was ich sage“ (1. Korinther 10, 15). Ich frage mich, wie der Apostel wohl reagieren würde, wenn er die westliche Christenheit heute besuchen würde. Ich glaube, er würde – genau wie Harry Blamires – den Mangel an Geist in der Christenheit beklagen [Harry Blamires, geb. 1916, ist ein anglikanischer Theologe und Literaturkritiker. Er war mit C.S. Lewis gut befreundet. Anm. R.K.]. Blamires beschreibt den Geist des Christen als „geschärft, informiert, fähig, Kontroversargumente aus dem säkularen Raum auf dem Hintergrund christlicher Gegebenheiten zu beantworten“. Christliche „Gegebenheiten“ wären zum Beispiel: die übernatürliche Wirklichkeit, die alles durchdringende Macht des Bösen, die Wahrheit, die Autorität und den Wert des Menschen. „Der christliche Denker“, so fährt er fort, „fordert die Vorurteile seiner Zeit heraus … stört die Selbstgefälligen … hindert die geschäftigen Pragmatiker … stellt alles um sich herum in Frage und … ist unbequem.“ Aber er sagt auch, dass christliche Denker mit einem christlichen Verstand heute nicht vorhanden zu sein scheinen. Im Gegenteil:

„Der Verstand der Christen hat sich dem Trend der Zeit gebeugt. Er ist so schwach und rückgratlos geworden wie nie zuvor in der Geschichte der Christenheit. Es ist schwer, den völligen Verlust intellektueller Standhaftigkeit in der Kirche des 20. Jahrhunderts in Worte zu fassen. Man kann das nicht beschreiben, ohne sich einer Sprache zu bedienen, die hysterisch und melodramatisch erscheinen würde. Es gibt keinen christlichen Geist mehr. Natürlich gibt es noch eine christliche Ethik, eine christliche Praxis und eine christliche Frömmigkeit … aber als denkendes Wesen hat sich der moderne Christ dem Säkularismus gebeugt.“

Dies ist eine traurige Verleugnung unserer Erlösung durch Christus, von dem es heißt, dass er uns „von Gott gemacht ist zur Weisheit“.

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