John Stott schreibt (Es kommt auch auf den Verstand an, Hänssler, 1975, S 23–24):
Obwohl der menschliche Verstand verdunkelt und die menschlichen Augen blind sind, obwohl der Nichtwiedergeborene von sich aus die Dinge des Geistes nicht empfangen und verstehen kann, „weil sie geistlich begriffen sein wollen“, wendet sich das Evangelium doch an ihren Geist, ihren Verstand, weil das der von Gott gewählte Weg ist, ihre Augen zu öffnen, ihren Geist zu erleuchten und sie zu erretten. Zu diesem Punkt wird noch mehr zu sagen sein, wenn wir zum Thema Evangelisation kommen.
Die Erlösung des Menschen bringt die Erneuerung der Gottebenbildlichkeit, die durch den Sündenfall verzerrt wurde, mit sich. Dies schließt den Verstand ein. Paulus beschreibt aus dem Heidentum Bekehrte so: „Und zieht den neuen (Menschen) an, der da erneuert wird zu der Erkenntnis nach dem Ebenbilde des, der ihn geschaffen hat“ (Kolosser 3,10). Oder: „… die ihr erneuert seid im Geist eures Gemüts“ (Epheser 4, 2310). Er konnte noch weiter gehen: Ein geistlicher Mensch, ein Mensch, der unter der Leitung des Heiligen Geistes steht, hat eine neue Fähigkeit, geistlich zu differenzieren. Man kann sogar von ihm sagen, dass er den „Sinn Christi“ hat.
Diese Überzeugung, dass Christen einen neuen Geist haben, befähigte Paulus, sich voller Zuversicht an seine Leser zu wenden: „Als mit den Klugen rede ich; richtet ihr, was ich sage“ (1. Korinther 10, 15). Ich frage mich, wie der Apostel wohl reagieren würde, wenn er die westliche Christenheit heute besuchen würde. Ich glaube, er würde – genau wie Harry Blamires – den Mangel an Geist in der Christenheit beklagen [Harry Blamires, geb. 1916, ist ein anglikanischer Theologe und Literaturkritiker. Er war mit C.S. Lewis gut befreundet. Anm. R.K.]. Blamires beschreibt den Geist des Christen als „geschärft, informiert, fähig, Kontroversargumente aus dem säkularen Raum auf dem Hintergrund christlicher Gegebenheiten zu beantworten“. Christliche „Gegebenheiten“ wären zum Beispiel: die übernatürliche Wirklichkeit, die alles durchdringende Macht des Bösen, die Wahrheit, die Autorität und den Wert des Menschen. „Der christliche Denker“, so fährt er fort, „fordert die Vorurteile seiner Zeit heraus … stört die Selbstgefälligen … hindert die geschäftigen Pragmatiker … stellt alles um sich herum in Frage und … ist unbequem.“ Aber er sagt auch, dass christliche Denker mit einem christlichen Verstand heute nicht vorhanden zu sein scheinen. Im Gegenteil:
„Der Verstand der Christen hat sich dem Trend der Zeit gebeugt. Er ist so schwach und rückgratlos geworden wie nie zuvor in der Geschichte der Christenheit. Es ist schwer, den völligen Verlust intellektueller Standhaftigkeit in der Kirche des 20. Jahrhunderts in Worte zu fassen. Man kann das nicht beschreiben, ohne sich einer Sprache zu bedienen, die hysterisch und melodramatisch erscheinen würde. Es gibt keinen christlichen Geist mehr. Natürlich gibt es noch eine christliche Ethik, eine christliche Praxis und eine christliche Frömmigkeit … aber als denkendes Wesen hat sich der moderne Christ dem Säkularismus gebeugt.“
Dies ist eine traurige Verleugnung unserer Erlösung durch Christus, von dem es heißt, dass er uns „von Gott gemacht ist zur Weisheit“.
„… die ihr erneuert seid im Geist eures Gemüts“
Bei diesem Thema νοος/νους mit Gemüt wiederzugeben,
(vermutlich eine Schwäche der deutschen Übersetzung)
halte ich für kontraproduktiv.
Vielleicht: Denkart, Denkweise. Auch „Sinn“ finde ich problematisch.
Am besten finde ich „Denken“, also nicht das Denkvermögen,
sondern das Denken des Menschen.
Eine prophetische Aussage von Blamires, den ich bisher nicht kannte. Blinde Blindenführer! „Der Verstand der Christen hat sich dem Trend der Zeit gebeugt. Er ist so schwach und rückgratlos geworden wie nie zuvor in der Geschichte der Christenheit. … als denkendes Wesen hat sich der moderne Christ dem Säkularismus gebeugt.“ Warum ist das so? Ich weiß nicht, ob Blamires und Stott darauf eine Antwort geben. Es ist wieder an Wilder-Smith und Schaeffer zu erinnern: Wer aus den Erkenntnissen, die er als erneuerter Mensch mit erneuertem Verstand unter der Leitung des Heiligen Geistes gewinnt, keine praktischen Konsequenzen zieht, sondern „schwach und rückgratlos“ die Konfrontation scheut und faule Kompromisse macht, wie sie Schaeffer im „Großen evangelikalen Desaster“ beschrieben hat, und sich dafür Argumentationen zurecht legt, zerstört erneut den erneuerten Verstand. Über die „Standhaftigkeit“ im Wirbelsturm des Zeitgeistes entscheiden nicht gute Worte und Aktionen („Herr, Herr, wir haben in Deinem Namen …“), sondern praktische Konsequenzen aus der Bibel als Wort Gottes. Der neueste… Weiterlesen »
@Johannes Strehle
„Wer immer noch mit einer von Michael Diener und seinen Unterstützern und Anhängern geführten und dominierten Allianz gemeinsame Sache macht, hat keine Basis für die Auseinandersetzung mit dem Säkularismus. Wer auf beiden Seiten hinkt, ist kein ernst zu nehmender Gegner im Kampf zwischen Licht und Finsternis.“
So ist es, lieber Johannes Strehle – leider. Ich weiß auch nicht, was die (evangelikalen) Führungspersönlichkeiten von einem gesunden Schnitt abhält.
Und noch einmal zu Stott: Natürlich kommt es auch auf den Verstand an. Röm 7,25b ist für mich eine Schlüsselstelle, auch wenn sie von vielen liberalen Theologen für eine Glosse gehalten wird. Aus dem Dilemma in Röm 7,25b kann aber der menschliche Verstand (Geist) nicht herausführen, sondern nur Gottes/Christi Geist.
Liebe Grüße!
Leider ist das Zitat zutreffend. Wenn wir mit Verstand und unter Abhängigkeit von Jesus an das Wort Gottes herangehen wird als Resultat dabei herauskommen, dass vieles was heute gängige Praxis in den Kirchen oder Gemeinden ist mit Gottes Willen nicht übereinstimmt. z.B. Wir können auf der einen Seite nicht „Du sollst nicht töten“ sagen und auf der anderen Seite ein total liberales Abtreibungsrecht vertreten. Das passt einfach nicht.
Es hilft nur eines: Uns in die Kindschaft Gottes begeben, IHM in allem vertrauen und sein Wort ernst nehmen und damit anderen Vorbild, Wegweisung und Mahnung sein.
Das sind sehr scharfe, harte, drastische Worte von Harry Blamires. Aber ein Stückweit kann ich ihn verstehen. Ich diskutiere ja oft mit anderen Christen und das ist dann teilweise so oberflächlich und so schwach. Kaum Ahnung von Lehre. Zum aktuellen Geschehen gibt es kaum eine Meinung. Einge sagten mir, ich mache mir zuviele Gedanken, das ist doch alles nicht wichtig. Können wir uns nicht alle einfach nur lieb haben? Das muß doch reichen.
Situation beurteilen zu können, den eigenen Glauben erklären oder gar verteidigen, dazu sind nicht mehr viele in der Lage. Und bitte nicht zuviel Kritik! Das würde den Geschmack der Liebessoße verderben.
@ Strehle:
Wo macht das Netzwerk Bibel und Bekenntnis gemeinsame Sache mit Diener & Co? Ich bekomme nur mit, daß sie bei einigen Dingen heftig widersprechen.