Heiligung

Quervain: Heiligung (Teil 6 – Schluss)

Alfred de Quervain: Die Heiligung: Ethik, Zollinkon-Zürich: Evangelischer Verlag, 1946, S. 101–102:

Es gilt zugleich zu bedenken, dass das christliche Leben auf Erden — das Kreuzigen des Fleisches mit seinen Begierden, wörtlich: das Gekreuzigthaben des Fleisches — nicht etwa des Menschen Beitrag am Werk der Erlösung, des Menschen Antwort auf die Tat Gottes, sondern Gottes Werk ist. Es besteht im Glauben, dass wir in Christus frei geworden sind. Dieser Glaube heißt Gehorsam. Er kann niemals mit einer bestimmten kirchlichen, christlichen Haltung, mit einer bestimmten Sittlichkeit verwechselt werden. Das bedeutet nicht Entscheidungslosigkeit, die Rechtfertigung des Relativismus im Handeln des Christen. Im Blick auf unser Freigewordensein gibt es gegenseitige Ermahnung. Diese Ermahnungen sind unter Umständen sehr viel konkreter als die ins Einzelne gehenden Ausführungen einer systematischen Ethik, als die Programme einer Weltanschauungsgruppe. Der Lehrer auf diesem Wege des Gehorsams ist und bleibt der Heilige Geist, der Zeuge des Gekreuzigten und Auferstandenen. Führer auf diesem Wege ist also niemals der gute, tapfere, opferbereite, gläubige Mensch. Es sei schon hier — wir werden sehr bald ausführlich darauf zurückkommen — mit den Worten Kohlbrügges gesagt, wie konkret dieses Kreuzigen ist. »Es darf freilich wohl ein ›Kreuzigen‹ genannt werden, denn, wenn David sich von einem Simei fluchen und mit Steinen werfen ließ, da er doch die Macht hatte, ihn zu töten, und die Vorwürfe, welche Simei machte, höchst ungerecht waren, so war dieses für David wohl in Wahrheit ein Kreuzigen des Fleisches; sowie es auch ein Kreuzigen des Fleisches ist, Verzicht getan zu haben auf allerlei Frömmigkeit, Macht und Vermögen; und es ist auch ein Kreuzigen des Fleisches, zwei Meilen zu gehen mit einem, der uns zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, unsere Feinde und, die uns allerlei in den Weg legen, zu lieben, sie zu segnen und für sie zu beten; wie es auch ein Kreuzigen des Fleisches ist, auf alle Selbstbehauptung zu verzichten, wenn man das höchste Recht von der Welt hat, oder wenn einem sonst manches erlaubt sein möchte — nur auf dass der Nächste auferbaut werde, mit uns Gott zu loben und Christum zu verherrlichen in Einigkeit des Geistes, in dem Bande der Liebe. Es ist aber dieses ›Gekreuzigthaben des Fleisches‹ in keinerlei Hinsicht etwas Eigenwilliges, sondern es ist die Liebe Christi, welche die, welche Christi sind, treibt, so daß sie vollkommen sind, wie ihr Vater im Himmel vollkommen ist.« — (Schriftauslegungen, 11. Heft, S. 96.) Es würde offensichtlich dem Sinn dieser Worte widersprechen, wollte man daraus die Anweisung zu einer sittlichen Haltung heraushören. Menschen, die es ernst meinen, berufen sich gerne auf den Grundsatz: Man muss eben als Christ den untersten Weg gehen; man muss das Schwerere wählen und auf sich nehmen. Das tut auch der Mönch; das tut unter Umständen auch der heidnische Weise, wer so urteilt, ärgert sich darüber, dass Christus den Diener des Hohenpriesters fragt: »Was schlägst du mich?« (Joh 18,23), dass Paulus vor den Juden und vor den römischen Beamten sich verteidigt, gegen ein ungerechtes Urteil und gegen Misshandlungen sich zu schützen versucht, dass er in den Korintherbriefen seine angegriffene Apostel- und Predigerehre wahrt. Das Kreuzigen des Fleisches ist keine Methode, als Christ zu leben. Der Weg des Kreuzes ist nicht der Weg des Menschen, der sich selbst heiligt, der sich selbst und andern hilft, sondern der Weg, den wir als Geheiligte, im Lobpreis der göttlichen Hilfe in Christus gehen.

Quervain: Heiligung (Teil 5)

Alfred de Quervain: Die Heiligung: Ethik, Zollinkon-Zürich: Evangelischer Verlag, 1946, S. 99–101:

Und nun der Leib des Geheiligten, zu Christus Gehörigen? »Es soll die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, seinen Begierden zu gehorchen«, oder, wie Kohlbrügge treffend übersetzt: »Es sei also die Sünde nicht König in eurem sterblichen Leib«. Die Begierden lehren uns, den Leib nehmen als eine Macht, die sich austoben muss, die eigenen Gesetzen folgt. Sie fordern uns aber auch auf, den Kampf mit diesem Leibe aufzunehmen und ihn durch allerlei Übungen, durch unsere Zucht zu meistern, ihn den höheren Zwecken, dem »Geiste« dienstbar zu machen. Es ist nicht Antinomismus, Gesetzesfeindschaft, Ablehnung jeglicher Zucht, wenn Luther vor der Überschätzung dieser Übungen warnt, wenn er der mönchischen Askese vorwirft, dass sie die Macht des Bösen nur stärke, so wie ein falsch behandeltes Geschwür sich nach innen kehrt und den ganzen Leib verdirbt. Auch dem Leibe gegenüber gilt um Christi Gehorsam willen: »Siehe, es war sehr gut«. An dieses göttliche Urteil sollen wir uns halten. Das bedeutet keine Verherrlichung oder gar Vergottung des Leibes. Diesen Leib des Christen nennt Paulus einen sterblichen Leib. Luther spricht etwa vom Madensack. Der Christ erkennt, dass die Sünde — des Menschen eigenwilliges Urteilen, Verbieten und Erlauben — keine Regierungsgewalt mehr über den Leib hat. Der, der im Glauben an Christi Tod, im wissen um sein Mitgestorbensein seinen Leib aus der Hand Gottes, als eine Gabe Gottes nimmt, der weiß um das Sterben dieses Leibes. Sehr eindrücklich hat Luther von dem Leben des Christen in der Erkenntnis dieses Sterbens, von dem Umgang des Christen mit diesem kläglichen Leib geredet. Seine Hoheit liegt nicht in ihm selbst, nicht in eigenen Zielsetzungen; Gott hat ihn zu einem Tempel des Heiligen Geistes bestimmt. Er stirbt dahin, um in der Auferstehung der Toten zu seinem Ziel zu gelangen.

Auch in den Kirchen der Reformation ist die Botschaft von Römer 6 nicht immer in ihrer ganzen Kraft vernommen worden. Es ist mehr vom Sterben als vom Gestorbensein, mehr vom Töten der Glieder als von ihrem Gekreuzigtsein die Rede. Die aktive Form liegt gerade den Schülern Calvins näher als die passive, sobald die Heiligung in Frage steht. Wir haben dies zu bedenken, auf dass wir nicht den und die Klarheit der Schrift abschwächen.

Ursmus legt die Fragen 88—90 mit besonderer Ausführlichkeit aus. Neben Römer 6,4—6 werden angeführt Eph 4,12—24; Kol. 3,5–30; Gal 5,24. Diese Stellen kennzeichnen das Sterben des alten Menschen. In der Kolosserstelle aber ist besonders deutlich der Zusammenhang zwischen dem, was in Jesus Christus für uns, an uns ein für allemal geschehen ist und dem, was an dem Christen in dieser Zeit sich ereignet, zwischen der Gabe Gottes und unserer Glaubensentscheidung, unserem Gehorsam. Nun wird es deutlich, dass die Rede vom Gestorbensein nicht im Sinne der quietistischen Mystik, sondern als Begründung für das gehorsame Tun des Christen auf Erden, für sein Freisein von der Herrschaft der Sünde verstanden werden muss. Kohlbrügge, im Gegensatz zu so manchen seiner Schüler, warnt auch vor dem feinsten und verborgensten Betrug durch mystische Gedanken. Er lässt einen solchen Christen im Blick auf Gal 5,24 »Welche aber Christo angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden« sagen: »Allerdings, das versteht sich; aber das muss man so nehmen, dass solches in Christo wahr ist; doch soll man das so in der Wirklichkeit nicht nachsuchen wollen, denn dann würde ja kein Mensch selig«. Und dann die Antwort Kohlbrügges: »Meine Geliebten! was geschrieben steht, steht geschrieben, und an dem Worte Gottes lässt sich nicht künsteln oder mäkeln« (Schriftauslegung, 11. Heft, S. 86).

Quervain: Heiligung (Teil 4)

Alfed de Quervain: Die Heiligung: Ethik, Zollinkon-Zürich: Evangelischer Verlag, 1946, S. 99:

Wir stellten schon fest, dass in der Vergangenheit kein Theologe diesen apostolischen Trost so klar erfasst und verkündigt hat wie Kohlbrügge. Darum darf er hier ausgiebiger zitiert werden. »Um es uns deshalb deutlich zu machen, dass wir weder auf der Sünde sitzen bleiben, noch in der Sunde fortfahren oder beharren werden, wenn wir es dafür halten, dass wir der Sünde gegenüber wie Leichen sind, Gott aber leben in Christo Jesu, unserem Herrn; und wenn wir das glauben, wie es denn auch wahr ist, dass wir nicht mehr unter der Herrschaft des Gesetzes stehen, sondern der Gnade ergeben sind, welche die Sorge für uns auf sich genommen, so bedient er sich eines Beispiels aus dem Leben der Sklaven. Ein Sklave ist seinem Herrn nicht halb verkauft, sondern ganz; er hat die Glieder seines Leibes bereit zu halten und zum Dienste herzugeben nach dem Willen seines Gebieters. Sowie er Sklave ist, so sind auch alle Glieder seines Leibes Sklaven seines Herrn; Herz, Verstand und Überlegungen, Augen, Hände und Füße, Rücken und Nacken, alles muss dem Gebieter, dem er verkauft ist, dienen. Nun sagt der Apostel: Ihr seid Sklaven der Sünde gewesen; da habt ihr eure Glieder der Unreinigkeit hingegeben und der Gesetzlosigkeit zur Gesetzlosigkeit. Der Apostel sagt nicht, wann wir solche Sklaven gewesen: wir können es in diesem Augenblicke sein. Das sagt aber das Wort: Ihr seid es gewesen, weil das Wort lediglich will, dass wir das Wort zu unserer Errettung willig aufnehmen; und da predigt das Wort zu gleicher Zeit Erlass und Befreiung von der Sklaverei der Sünde und hält demjenigen, der mitten in solcher Sklaverei sitzt, nicht vor: ›Du hast dich von der Sünde loszumachen‹, sondern ›Du bist davon los‹. Deshalb sage ich, dass die Vorstellung des Apostels rein evangelisch ist» (Licht und Recht, Heft 12, S. 62–63).

Quervain: Heiligung (Teil 3)

Alfred de Quervain: Die Heiligung: Ethik, Zollinkon-Zürich: Evangelischer Verlag, 1946, S. 98–99:

Der Trost, den Paulus Römer 6 der Gemeinde verkündigt, kann nicht verallgemeinert, verweltlicht, im Sinne einer Weltspekulation — als kosmische Erlösung — missverstanden werden. Der Apostel redet von der Erlösung derer, die in Christi Tod getauft sind (Vers 4). Er redet von der Erlösung derer, die glauben. Die Aufforderung »haltet euch dafür, dass ihr der Sünde tot seid« (Vers 11), ist der Ruf zum Glauben. Christi Tod und Christi Begrabenwerden ist das Ende seines Leidensweges, seines Weges im Gehorsam. Über die Dynamik des Unglaubens, der Sünde, die durch das Gesetz erst recht aufflammt, siegt der Glaube, der sich unter das Gericht Gottes beugt. Christi Sterben ist die Vollendung seines Gehorsams und damit auch das Ende der Sündenherrschaft. Denn das Gesetz ist durch ihn nicht im Himmel, sondern auf Erden, in unserem Leibe erfüllt, das Gesetz, das allein die Dynamis, die Kraft der Sünde ist. Der Christ lebt noch in seinem Leibe, wartend auf die Erlösung, auf die endgültige Verherrlichung; er ist noch in dieser Welt. Aber dies sein Leben steht nicht mehr im Zeichen der Herrschaft der Sünde. Zu Ende ist jene trügerische Lebendigkeit, die in immer neuen Aktionen besteht, in Reaktionen auf die Anklagen des Gesetzes. Das Kreuz Christi ist der Ort, da wir sterben dürfen und diese unsere trügerische Lebendigkeit abgetan ist, aber zugleich auch der Ort, da wir das neue Leben des Gehorsams empfangen. Der Apostel fordert vom Christen die Anerkennung, dass wir der Sünde gegenüber in der Rolle eines Leichnams uns befinden. Er kann wohl noch misshandelt werden, aber er steht nicht mehr im Dienst und zur Verfügung derer, die ihn misshandeln. Er ist ihren Drohungen und Lockungen entzogen. Das ist ein Bild, gewiss, aber nicht eine Übertreibung, nicht eine einseitige Erkenntnis, die sofort der Korrektur bedarf. Paulus stellt keine Sätze über das Wesen des Menschen auf, Sätze, die auf Grund der Erfahrung, mit Berufung auf die Macht der Triebe und die Schwachheit unseres Willens widerlegt werden. Er lehrt, dass der sittliche Rampf nicht neben dem Glauben, als Ergänzung oder Frucht des Glaubens feinen Platz behält. Es gibt diesen Kampf nur im Glauben an Christi siegreichen Gehorsam. Die Sünde kann dem Christen nichts mehr versprechen; sie kann ihn auch nicht mehr erschrecken, nicht mehr sein Tun und Lassen ihm vorschreiben.

Quervain: Heiligung (Teil 2)

Alfred de Quervain: Die Heiligung: Ethik, Zollinkon-Zürich: Evangelischer Verlag, 1946, S. 97–98:

Die Siege derer, die als sittlich Begeisterte den Kampf führen, sind nie entscheidender Art. Die Rede vom Kampf gegen die Sünde und vom Sieg über sie setzt voraus eine gewisse Anerkennung ihrer Herrschaft über die Glieder Christi. Denn, wer unter diesen Begeisterten wagte zu behaupten, dass diese Herrschaft in seinem Leben zerstört ist? Wer wagte zu hoffen, dass sein Nächster, sein Bruder, die Versuchungen besiegen wird? Der Apostel ist nicht weniger als die Kämpfer für die Heiligung des Lebens vom Gedanken erfüllt, dass der Christ ein Diener Gottes, ein Diener der Gerechtigkeit ist, nicht ein Diener der Sünde. Eben um diesen Dienst geht es ihm in seiner Ablehnung jeder Werkgerechtigkeit, in der Ablehnung eines selbstherrlichen Kämpfertums. Selbstherrlich ist der Kampf, auch wenn er von Menschen geführt wird, die an der Glaubensgerechtigkeit festzuhalten behaupten, die nur daneben an die Notwendigkeit eines christlichen Kampfens erinnern wollen.

Christus stirbt nicht nur als der Erfüller aller Gerechtigkeit, als der, der an unserer Stelle den Zorn Gottes trägt, der in der Versöhnung, in diesem Tausch, den er zu unserem Heile eingeht, die Liebe des Vaters zu seinem eingeborenen Sohn uns bringt. Er stirbt — und das ist in diesem Tausch mit eingeschlossen —, um die Seinen der Herrschaft der Sünde zu entziehen. Das ist nicht eine mythologische, für unser heutiges Geschlecht überwundene Auffassung der Sünde. Mythologisch, dramatisch ist vielmehr das Verständnis derer, die gegen die Sünde zum Kampfe aufrufen und ihre Herrschaft langsam meinen abbauen zu können. Sünde ist bei Paulus, in der Lehre der Reformation der Unglaube, die Verachtung des Wortes Gottes, das Leben zur Ehre des Menschen, zur Ehre des Gottesbildes, das wir verbotenerweise uns machen. Als Christus stellvertretend für die Seinen, für viele starb, da war nicht etwa eine Schlacht, eine überaus wichtige, zur Befreiung der Menschen aus der Knechtschaft der Sünde geschlagen. Es war die gänzliche Zerstörung dieser Herrschaft. Dieser völlige Sieg wurde gewonnen nicht durch Aktionen und Reaktionen gegen allerlei Äußerungen der Sünde; es war ein Sieg durch Christi Gehorsam bis in den Tod hinein. Am Kreuz ist durch den Gehorsam dieses Einen die Ehre Gottes auf Erden wieder aufgerichtet worden, weil Jesus Christus das Haupt der Herausgerufenen, der Geheiligten ist, weil er der eine Mensch ist, auf dessen Tun es ankommt, darum ist es wahr, das die Sünde nicht mehr unter den Seinen regiert. Sie hat keine Gewalt mehr über den Leib dessen, für den Christus gehorsam gewesen ist.

Quervain: Heiligung (Teil 1)

Alfred de Quervain: Die Heiligung: Ethik, Zollinkon-Zürich: Evangelischer Verlag, 1946, S. 95–96:

Mitten unter den Fragen, die das Leiden und Sterben Christi verkündigen, steht jene 43. Frage des Heidelberger Katechismus, die vom Leben und Handeln des Christen redet. Sie lehrt uns unseren Wandel vom Kreuze Christi her verstehen. »Welchen weiteren Nutzen haben wir aus Opfer und Tod Christi am Kreuz? Durch die Kraft Christi wird unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt, getötet und begraben (Röm 6,6–8.11f.; Kol 2,12), damit die Sünde uns nicht mehr beherrscht (Röm 6,12), sondern wir uns ihm zu einem lebendigen Dankopfer hingeben (Röm 12,1).«

Der Heidelberger Katechismus nimmt mit dieser Begründung des christlichen Lebens im Kreuz Christi eine besondere Stellung unter den Bekenntnis-Katechismen ein. Wir fragen nicht danach, ob diese 43. Frage in ihrer Tragweite in der reformierten Kirche wirklich verstanden worden ist. Vielleicht waren sich die Verfasser des Buches nicht ganz im klaren darüber, was sie damit aussagten. Uns geht es aber darum, für unsere Arbeit die nötige Klarheit zu bekommen, wir lassen uns sagen, dass das sechste Kapitel des Römerbriefes — Frage 43 ist nichts anderes als ein kräftiger Hinweis auf jenes Kapitel — eine jener Stellen ist, die für die theologische Ethik, für die Lehre von der Heiligung entscheidend sind.

Wir werden freilich auf der Hut sein, dass wir nicht den Fehler anderer Systematiker, anderer Dogmatiker begehen, deren Ergebnisse wir rügen. Es ist uns nicht erlaubt, dieses einzelne Kapitel, Römer 6, aus dem Zusammenhang des Römerbriefes herauszulösen, wir sollen uns ebenfalls hüten, die Lehre von der Heiligung auf zu schmaler Grundlage aufzubauen. Römer 6 ist nicht das System der christlichen Ethik, die Lehre von der Heiligung; es ist ein Zeugnis von der einen Gabe Christus, ein Zeugnis von dem Sieg des Gekreuzigten, von der Herrschaft Christi. Mit der Zurückweisung des Vorwurfes, dass libertinistische Folgerungen aus der Predigt vom Glauben gezogen werden können, beginnt das Kapitel. Christen in Rom sind besorgt, es könnte bei jener Predigt des Paulus zu einem Friedensschluss des Christen mit dem Reich der Sünde, mit der Gesetzlosigkeit, mit der Ungerechtigkeit kommen. Sooft in der Kirche die Gerechtigkeit Christi als des Christen Rechtfertigung, die Heiligkeit Christi als des Christen Heiligung verkündigt wird, erhebt sich dieser Vorwurf, dass die Sünde unangefochten ihre Herrschaft über ihn geltend machen könne, dass der Christ den Kampf aufgegeben habe. So klagten die vermeintlichen Verteidiger der Heiligung in den ersten Gemeinden. So protestierte der römische Katholizismus gegen die Predigt vom Glauben bei den Reformatoren. So lautet auch heute die Anklage. Wo aber Christus als der einzige Hohepriester und als der ewige König verkündigt wird, wo er bekannt, wo an ihn geglaubt wird, da hat die Sünde ihr Recht und ihre Macht verloren. Niemals wird da der Sünder im Blick auf seine Sünde beruhigt. Es wird nichts entschuldigt, nichts verharmlost. Die Sünde hat alle Herrscherrechte über die eingebüßt, die zu Jesus Christus gehören. Das ist die Antwort des Paulus an seine Kritiker, an die, die um die Herrschaft des Willens Gottes sich sorgen.

Alfred de Quervain (1896–1968)

Alfred de Quervain (1896–1968) war ein Schweizer Theologe mit reformiertem Bekenntnis. Nach seinem Theologie- und Philosophiestudium wurde er Pfarrer in mehreren Kirchengemeinden, unter anderem auch in der Niederländisch-reformierten Kirche von Elberfeld, der Gemeinde, in der Mitte des 19. Jahrhunderts Kohlbrügge wirkte.

Während des Kirchenkampfes stand Quervain klar auf der Seite der Bekennenden Kirche. 1944 wurde er als ausserordentlicher Professor für Ethik an die Universität Bern berufen. Ab 1948 lehrte er dort als ordentlicher Professor Ethik, Soziologie, praktische Exegese sowie französische Theologie.

Das Kirchenlexikon sagt über Quervains Ethik:

Als Ethiker lehnte er mit Karl Barth und anderen gesinnungsethische Entwürfe ab, weil diese unmöglich mit der Botschaft von der in Christus Wirklichkeit gewordenen Gnade zu vereinbaren sei. Ebenfalls der dialekt. Theologie verpflichtet ist seine Betonung der Humanität des Menschen als freie Setzung Gottes im Schöpfer- und Gnadenakt, durch die die menschliche Welt der Sittlichkeit radikal in Frage gestellt werde. Deshalb kann de Q. nicht von einem christlichen Humanismus reden, sondern nur von der Liebe Gottes zum Menschen. – Die wesentlichen Schwerpunke seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die politische Ethik und Grundsatzreflexionen über das menschliche Handeln angesichts des Willens Gottes.

Jan Rohl schreibt über Quervain in seiner Geschichte der Ethik (Tübingen: Mohr Siebeck, 1999, S. 687):

Ganz auf dem Boden ihrer christologischen Begründung bei Barth bewegt sich die Ethik Alfred Quervains, die grundsätzlich die Heiligung zum Gegenstand hat. Die Heiligung bestimmt de Quervain dabei als den Stand der in Christus von Gott Erwählten, die ihren Wandel als Glieder des Volkes Gottes im Dank für diese Gnade führen. Unser Tun ist also nur Dank für den Glauben und Gehorsam Christi, durch die er über die Welt gesiegt und sie geheiligt hat. Die Königsherrschaft Christi erstreckt sich daher über die ganze Welt. Wie nun die alttestamentlichen Gebote bereits Zeugnisse der Gnade Gottes sind, so ist auch Mose für de Quervain nicht der Überbringer eines vom Evangelium getrennten Gesetzes, sondern Verkündiger der Königsherrschaft Christi. Die Kirche hat dann die Aufgabe, der Welt als Zeichen dafür zu dienen, daß diese nicht dem Fürsten dieser Welt, sondern Christus als ihrem König unterstellt ist. Daher muß umgekehrt auch der Staat die Kirche als freie Kirche anerkennen. De Quervain entwickelt seine theologische Ethik so als schriftgebundene Ethik, für die das Tun des Guten ausschließlich das Tun des gnädigen Willens Gottes ist.

Bei Quervain fand ich das Kohlbrügge-Zitat, dass vor einigen Tage einen regen Austausch auslöste (siehe hier). Die nächsten Blog-Beiträge werden einige Zitate aus der Ethik von de Quervain enthalten. Ihr Thema ist »Das Freisein von der Herrschaft der Sünde«. Trotz aller kritischen Einflüsse bei de Quervain beeindruckt der Tiefgang, mit dem er das Thema Heiligung behandelt.

Kohlbrügge: Heiligung

201009092051.jpgHermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875) war ein niederländischer Theologe und Pastor an der Niederländisch reformierten Gemeinde in Elberfeld. In einer Predigt über Röm 7,14 wies er auf »die Radikalität der Sünde des Menschen auch und gerade in seinem Bemühen um Heiligung hin und betonte, daß Gott Gottlose und nicht Heilige gerecht macht« (Quelle hier). Über die Heiligung schrieb er einmal (Licht und Recht, Heft 12, S. 55)

Der Heilige Geist kann es nicht lieben, dass man sagt: »Ich bin heilig in Christo Jesu«, und dass man zu gleicher Zeit ein Sklave des Sichtbaren ist und der verborgenen Lust, wer Vater und Mutter, Rind oder Weib, die Welt und das Durchkommen durch die Welt und Ehre bei den Menschen lieber hat als den Herrn, von dem sagt der Herr selbst: »Er ist meiner nicht wert«, und wiederum: »Habe abgehauen, was dich ärgert«. Eben so wenig kann der Heilige Geist es lieben, daß man gleichsam zwischen Himmel und Erde schwebt, um eine Notwendigkeit der Heiligung als Lehrbegriff zu behaupten und dann wiederum solche Notwendigkeit für sich selbst wegzuwerfen und sich vor dem Richterstuhl Gottes hinter die Gerechtigkeit Christi zu verkriechen, als wäre die Heiligung für diese Erde da und die Gerechtigkeit Christi, um in den Himmel zu kommen.

Nun meine Frage: Was meint Kohlbrügge mit »als wäre die Heiligung für diese Erde da und die Gerechtigkeit Christi, um in den Himmel zu kommen«?

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