Intersexualität

Themenbereich Intersexualität

In der medialen Öffentlichkeit ist der Themenbereich „Sexuelle Vielfalt“ nahezu allgegenwärtig. Da ist von sexueller Orientierung oder von sexuellen Identitäten die Rede, wird über gendergerechte Sprache oder Unisex-Toiletten gestritten. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass diese Stichworte meist nur oberflächlich behandelt werden. Bei genauerem Hinsehen stellt sich vielfach heraus, dass das Bild, welches über die Skala der Geschlechter und die Intersexualität vermittelt wird, im Gegensatz zu den wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnissen steht.

Michael Kämpfer hat sich gründlicher mit dem Thema beschäftigt und seinen Diskussionsbeitrag hier publiziert: b-19-2_geschlechter.pdf.

VD: BH

Zahl der Menschen mit „drittem Geschlecht“ gering

Deutlich weniger Menschen als bisher angenommen definieren sich in Deutschland weder als Mann noch als Frau. Wie die Zeitschrift ZEIT jetzt berichtete, handelt es sich lediglich um einige hundert Personen in Deutschland. Das ÄRZTEBLATT schreibt:

Die Wochenzeitung beruft sich auf eine eigene Umfrage bei den Standesämtern der elf größten deutschen Städte. Diese habe ergeben, dass bislang lediglich 20 Personen bean­tragt haben, ihren Geschlechtseintrag auf „divers“ ändern zu lassen (Stand Mitte April 2019).  Rechne man die Zahlen, die von ähnlichen Umfragen der vergangenen Wochen bestätigt würden, auf ganz Deutschland hoch, seien es rund 150 Fälle, schreibt die Zeit. Eltern me­dizinisch intersexueller Neugeborener, die ihr Kind als „divers“ eintragen ließen, gibt es in den befragten Städten laut Umfrage bislang keine, heißt es weiter.

Das Bundesverfassungsgericht ging der Zeit zu­folge in seinem Inter­sexualität-Urteil 2017, bei dem die Richter einen dritten Geschlechts­eintrag im Behör­denregister gefordert hatten, noch von bis zu 160.000 Betroffenen aus.

Hier mehr: www.aerzteblatt.de.

Weder Mann noch Frau

Der sympathische Heinz-Jürgen Voß beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Dekonstruktion binärer Geschlechterdifferenz und möchte den postmodernen Gendertheorien eine biologische Verankerung zuschreiben. Kurz: Judith Butler geht mit ihrer Konstruktion des sozialen Geschlechts nicht weit genug. In einem Beitrag für die marxistisch–feministisch–linksradikale Zeitschrift ak – analyse & kritik, die Zeitung für linke Debatte und Praxis schreibt Voß (Nr. 547 vom 19.2.2010):

Die im folgenden dargelegte Kritik an Butlers Ansatz bezieht sich jedoch darauf, dass er nicht weitreichend genug ist. Butler verblieb auf der Ebene von „Erscheinungen“, auf der Ebene performativer Herstellung. Butler führte exzellent aus, dass Merkmale, dass Körper erst in Gesellschaft gelesen werden und dass damit geschlechtliche Deutungen auch gesellschaftliche sind. Diese These ist durch die historischen Arbeiten von Thomas Laqueur, Londa Schiebinger und Claudia Honegger gut belegt – so wandelten sich zeitlich die körperlichen (physiologischen und anatomischen) Merkmale, die als geschlechtlich gelesen wurden. Lange Zeit wurden weibliche und männliche Zeugungsstoffe gleichermaßen als „Samen“ beschrieben, z.T. mit Unterscheidung der Qualität; sie wurden allerdings nicht als binär und gegensätzlich wahrgenommen, wie es heute oftmals geschieht.

Mit der Betonung performativer Akte erscheinen Deutungen als gesellschaftlich, allerdings bleiben Körper und Organe – vermeintlich vorhandene Materialität, die anfassbar sei – unangetastet. Auch mit Butlers Ausführungen bleiben in der öffentlichen – populären und wissenschaftlichen – Debatte „Gebärmutter“, „Vagina“, „Klitoris“, „Eierstock“, „Penis“, „Hodensack“, „Hoden“ Bezeichnungen für scheinbar sichere, tatsächlich vorhandene Organe, die zur gut begründeten Einteilung von Menschen in „Frauen“ und „Männer“ bei wenigen „Abweichungen“ herangezogen werden könnten. Die derzeitige gesellschaftliche Deutungsweise von körperlichen Merkmalen als binär-geschlechtliche erscheint als selbstverständliche, die sich beim Lesen der „natürlichen Vorgegebenheiten“ aufdränge.

Die Entwicklung der Geschlechterdifferenz wird von Voß marxistisch als ein „gesellschaftliches Produkt“ interpretiert. Die binäre Unterscheidung von männlich und weiblich dient der Verfestigung von kapitalistischen Unterdrückungsstrukturen. Sie gaukeln uns Menschen Sicherheit und Eindeutigkeit vor, stehen jedoch tatsächlich der Wahrnehmung ureigenster Bedürfnisse im Weg. Also (Heinz-Jürgen Voß: „Biologisches Geschlecht ist ein Produkt von Gesellschaft!“, Soziologie Magazin, 1/2013, Jg. 6, S. 87–91, hier S. 88–89):

Produkte, Institutionen, Kategorien führen bereits von eigentlichen Bedürfnissen von Menschen weg – und führen letztlich dazu, dass wir als Menschen gar nicht (mehr) in der Lage sind, unsere Bedürfnisse außerhalb von Produkten, Institutionen und Kategorien zu formulieren. Bezogen auf Geschlecht heißt dies, dass wir gar nicht in der Lage sind, unsere Begehrensweisen, unsere vielfältigen Bedürfnisse auf Menschen zu richten, ohne diese Menschen zuvor in ein Korsett „weiblich“ oder „männlich“ zu zwängen.

Für die Befreiung des Menschen ist die Entkategorisierung des Geschlechts damit ein Politikum (Heinz-Jürgen Voß: „Biologisches Geschlecht ist ein Produkt von Gesellschaft!“, S. 91):

„Geschlecht“, auch „biologisches Geschlecht“ wird damit einmal mehr als gesellschaftliches Produkt augenscheinlich. „Geschlecht“, auch „biologisches Geschlecht“ ist wandelbar und es rückt so auch die Möglichkeit einer Gesellschaft ohne „Geschlecht“ in den Bereich des Denkbaren. Zumindest gibt es keinen, aber auch gar keinen Grund an „Geschlecht“, dieser gesellschaftlichen Kategorie/Institution, mit der historisch so viel Diskriminierung, Benachteiligung, Bevorteilung, Leid verknüpft war, weiterhin festzuhalten! Und ein Abgehen von „Geschlecht“ ermöglicht uns, Wahrnehmungen und Begehren vielfältiger auszurichten …

Der Sozialwissenschaftler ist inzwischen auch in der Evangelischen Kirche angekommen. In der aktuellen Ausgabe von Chrismon ist zu lesen, dass die Theorie der biologischen Zweiteilung auf die Nazis zurückgeht und unsere Welt viel schöner wäre, gäben wir diese Unterscheidung auf. Voß: „Das Geschlecht hätte einen Stellenwert wie heute das Sternzeichen oder ob ich Tiere mag. Man kann danach fragen, aber es ist nicht wirklich von Bedeutung“ (Chrismon, September 2013, S. 7).

Da wir nun schon mal bei dem Thema „Geschlechterkonstruktion“ sind, empfehle ich den Beitrag „Das Tabu der Gender-Theorie – Geisteswissenschaftliche Geschlechterforschung und die Biologie“ von Ferdinand Knauß (aus: Helmut Fink und Rainer Rosenzweig (Hg.): Mann, Frau, Gehirn: Geschlechterdifferenz und Neurowissenschaft, 2011, S. 115–132). Der Aufsatz, der online einsehbar ist und übrigens auch kurz das Voß-Argument kritisiert, zitiert im Epilog eine renommierte Philosophin mit folgenden Worten:

„’Naturalismus’, ‚Ontologisierung’, ‚Essentialismus’ und ‚Biologismus’ … fungieren inzwischen geradezu als Denkverbote. Jeder Versuch, anthropologische Konstanten auch nur als Grenzwerte für Transformationsprozesse zu bestimmen, jeder Versuch zu reflektieren, was es für Menschen bedeutet, sich ebenso wie Tiere fortpflanzen zu müssen (wenn sie sich denn überhaupt fortpflanzen wollen), und jeder Versuch, die Geschlechterdifferenz philosophisch zu reflektieren, ohne sie vorab als reines Konstrukt zu setzen, kann damit bereits unter Ideologieverdacht gestellt werden.“

VD: JS

Das dritte Geschlecht

„Weiblich“, „männlich“, „anderes“: Nach den Empfehlungen des Deutschen Ethikrates soll für Menschen mit uneindeutigem Geschlecht die Kategorie „anderes“ im Personenstandsrecht vorgesehen werden. Im Vorwort der aktuellen APuZ-Ausgabe (20–21/2012), die dem Thema Geschlechtsidentität gewidmet ist, heißt es:

Ob sich jemand als Frau, als Mann, als zwischen den Gechlechtern oder als ein drittes Geschlecht fühlt, geht nicht immer mit den biologischen Prädispositionen einher. Lange Zeit ging die Medizin von der heute höchst umstrittenen Annahme aus, eine stabile Geschlechtsidentität könne bei intersexuell Neugeborenen durch operative Geschlechtszuordnung (manchmal auch ohne Wissen der Eltern) und durch Erziehung im zu- gewiesenen Geschlecht erreicht werden. Viele Betroffene, die – wenn überhaupt – größtenteils erst im Erwachsenenalter davon erfuhren, sind tief traumatisiert.

Die meisten Beiträge setzen den sozialen Konstruktivismus „als von der Natur gegeben“ voraus. Demnach wird durch Menschen, die von gesellschaftlichen Konventionen geprägt sind, das Geschlecht sprachlich zugeschrieben. Interessant ist eine Beobachtung von Carolin Küppers. Da die von den Feministinnen in den 60er Jahren eingeführte Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht (sex und gender) eine Rest Biologismus konserviere, werde diese Unterscheidung inzwischen mehrheitlich fallengelassen. Küppers schreibt (S. 4):

In der aktuellen Geschlechtersoziologie wird die Unterscheidung in sex und gender jedoch kaum noch verwendet. Das, was zunächst einen argumentativen Vorteil darstellte, erwies sich recht schnell als zu undifferenziert und damit als Nachteil. Durch den Rückbezug auf sex konnten Geschlechterunterschiede nach wie vor auf den biologischen Unterschied reduziert werden. Dies ist unter anderem aus zwei Gründen problematisch. Zum einen zeigt sich schon die Biologie selbst als uneindeutiger und komplexer, als in der Lesart des Alltagsverständnisses. Zum anderen gerät damit aus dem Blick, dass es sich auch bei Naturwissenschaften um gesellschaftliche Unternehmungen handelt.

Es lebe die Mehrdimensionalität von Geschlecht! Die Auflösung der Pole scheint für einige Soziologen traumatisierend langsam voranzuschreiten. „Die zweigeschlechtliche Ordnung hat ein erstaunliches Beharrungspotenzial und bestimmt nicht nur die gesellschaftliche Struktur, sondern auch unseren Handlungsrahmen (doing gender) und die Möglichkeiten sprachlicher Bezeichnung“ (S. 8). Da wird wohl eine dritte Kategorie langfristig nicht ausreichen.

Hier die APuZ-Ausgabe als PDF: APuZ_2012-20-21_online_0.pdf.

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