Religionssoziologie

Glaube schrumpft auch in Amerika

Lange waren die Amerikaner deutlich frommer als die Europäer. Inzwischen gibt es auch in den Kirchen Nordamerikas immer mehr leere Plätze. Weniger als die Hälfte der Amerikaner ist noch Mitglied einer Kirche. Die NZZ schreibt: 

Die Religiosität der Amerikaner nimmt rasant ab. Die Säkularisierung, die in Europa schon viel früher einsetzte, holt nun auch die USA ein. Nach einer Gallup-Umfrage sind nur noch 47 Prozent der Bürger Mitglied einer Kirche, einer Synagoge oder einer Moschee. Das ist der tiefste Wert, seit das Meinungsforschungsinstitut vor 80 Jahren mit diesen Erhebungen begann. 1999 gehörten noch 70 Prozent einer Kirche oder einem anderen Gotteshaus an.

Der Niedergang beschränkt sich allerdings nicht auf die institutionalisierte Religion, sondern er betrifft auch den Glauben generell. So beten heute nur noch 45 Prozent der erwachsenen Amerikaner täglich. 2007 waren es noch 58 Prozent.

Es ist auch nicht so, dass die Ungläubigkeit lediglich unter der nachwachsenden Generation verbreitet ist. Es gibt rund 40 Millionen erwachsene Amerikaner, die zur Kirche gingen, jedoch damit aufgehört haben. Der Trend geht durch alle Bevölkerungsschichten hindurch: Junge, Alte, Männer, Frauen, Weisse, Schwarze – fast alle Glaubensrichtungen sind von der Schrumpfung betroffen, wenn auch in verschiedenem Masse.

Die üblichen Verdächtigen, die im Artikel „Auch die Amerikaner glauben immer weniger an Gott“ gennannt werden – etwa Missbrauchsfälle und Heuchelei, haben meines Erachtens ursächlich weniger mit der Säkularisierung zu tun als behauptet. Das soziale Vorstellungsschema, um mal den Begriff von Charles Taylor zu verwenden, wird auch von anderen Entwicklungen massiv beeinflusst – denken wir nur an die Musik- und Filmindustrie. Aber das ist ein anderes Thema. 

Mehr: www.nzz.ch.

 

Religionsmonitor 2023

Christian Geyer hat für die FAZ den Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann Stiftung bissig kommentiert. Die große Einsicht, dass es die Religion auch ohne Kirche gebe, ist ja wirklich nicht neu: Der Glaubenssatz ist ein alter Hut: „‚Jesus ja, Kirche nein‘  hat schon in den Siebzigern die Kirchentage in Erregung versetzt. Walter Kasper legte unter diesem Titel seinerzeit zusammen mit Jürgen Moltmann eine theologische Meditation vor, die Maßstäbe der Unterscheidung entwickelt, welche dem Religionsmonitor leider nicht zu Gebote stehen, wenn er dieselbe Frage ein halbes Jahrhundert später als topaktuell verkauft.“ 

Nicht immer möchte ich Geyer folgen. Aber dieser Abschnitt ist grandios (FAZ, 19.12.2022, Nr. 295, S. 9): 

„Man kann auch ohne Kirche Christ sein“: Im Religionsmonitor bleibt diese Aussage ein diffuser Glaubenssatz, me­thodisch nicht weiter befragt. Damit entfällt die Frage nach der Wahrheit der Religionen, wie um ein Partygespräch nicht rechthaberisch stören zu wollen. In seinem Buch „Religion und Pluralität“ schreibt der Münchner Religionsphilosoph Sebastian Gäb: „Die Re­geln guten Benehmens auf einer Party sind nicht die des richtigen Denkens. Die Frage nach der Wahrheit der Religionen ist zu wichtig – es hängt zu viel von ihr ab, als dass man sie aus Taktgefühl unter den Tisch kehren sollte.“ Als Nachtrag für das Forschungsprogramm der Bertelsmann Stiftung kein verkehrter Hinweis.

Wir feiern heute den „Tag der Erde“: Zeit, Buße zu tun

Hugh Roberts hat einen bemerkenswerten Artikel zum „Tag der Erde“, der am 22. April begangen wird, in der NYT veröffentlicht. In „Dieser Tag der Erde, wir sollten Buße tun“, plädiert er dafür, dass die Völker der Erde die Natur um Vergebung bitten.

Es ist ein interessanter Text aus mindestens zwei Gründen. Zum einen stemmt sich Roberts, der früher bei den Vereinten Nationen gearbeitete hat, gegen die postmoderne Vorstellung, Natur sei nur ein soziales Konstrukt. Nein! Wenn wir gewisse Grundsätze missachten, führt das zu echten und nicht nur zu scheinbaren Problemen. Wir können also nicht einfach so leben wie wir das wollen. Zum anderen illustriert der Essay sehr schön, dass der Kampf für den Umweltschutz so etwas wie eine säkularisierte christliche Erzählung aufnimmt. Hugh Roberts spiegelt das nicht nur indirekt, sondern geht direkt darauf ein, wenn er schreibt:

Natürlich wird es Einwände geben. Zum Beispiel: Alles, was auch nur im Entferntesten der Buße ähnelt, muss ein bedrückendes Relikt des Christentums sein und sollte daher disqualifiziert werden. Dies wäre ein folgenschweres Argument. Erstens würde es uns daran hindern, jemals wirklich etwas zu bereuen. Zweitens würde es viele der Hauptgrundsätze der säkularen westlichen Gesellschaft disqualifizieren, die eindeutig dem Christentum entlehnt sind oder wiederverwendet werden. Die Idee einer universellen, linearen Bewegung zur Erlösung ist einzigartig jüdisch-christlich.

VD: WH

Nur noch 38 Prozent der Briten bezeichnet sich als Christen

Der Anteil der Briten, die sich als Christen identifizieren, hat – seit dem Umfragen dieser Art vorgenommen werden – einen Tiefpunkt erreicht. Das National Centre for Social Research, das vorgibt, Großbritanniens größte unabhängige Sozialforschungsagentur zu sein, veröffentlichte diese Woche seinen 36. „British Social Attitudes Report“, der auf einer Umfrage unter 3.879 Personen basiert. Der Bericht bestätigte den anhaltenden Trend in Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika, demzufolge immer mehr Menschen keiner Religion angehören. Laut Studie  identifizieren sich nur noch 38 Prozent der Befragten mit dem christlichen Glauben, im Jahr 2008 waren es noch rund 50 Prozent.

Hier der Bericht: 1_bsa36_religion.pdf.

Zur Theologie der Gegenwart

Anne Koch, Professorin für Religious Studies an der Universität Salzburg, bekennt sich in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Christ in der Gegenwart (Ausgabe 18, 1. Mai 2016, S. 200) zu einer gegenwartsfähigen Theologie. Man findet Antworten, wie man sie von Kulturwissenschaftlern mit einem Hang zu Michel Foucault gewöhnt ist und deshalb auch erwartet.

Drei Beispiele:

Die Frage zur aufregendsten Bibelstelle beantwortet Professorin Koch mit einem Verweis auf den Gehorsam von Jesus Christus gegenüber dem Willen des Vaters am Kreuz und dem Ansatz eines Psychogramms:

In diesem Augenblick nach Gründonnerstag: die Szene im Garten Getsemani und der Gehorsam Jesu gegenüber dem „Willen“ des „Vaters“ bis hin zur Lebensaufgabe. Parallel dazu lese ich Ahmad Mansours Psychogramm der „Generation Allah“ mit ihren charakteristischen Elementen von autoritärer Erziehung, fehlendem Urvertrauen und der Sehnsucht nach Liebe, Verschmelzung und einem heilen Zustand. So keimt in mir die Frage auf, wie radikal dieser galiläische Wanderprediger war beziehungsweise wie psychisch bekannt und daher wichtig den Überliefernden diese Seite war.

Was ist für das drängendste theologische Problem der Gegenwart? Natürlich das fehlende theologische Modell für die Vielstimmigkeit. Denn:

Aus diesem Grund nimmt man dann meistens eher Rücksicht auf den Konservatismus anstatt auf den Liberalismus, auf das Christentum außerhalb Europas anstatt in Mitteleuropa. Das fehlende theologische Modell für Vielstimmigkeit wird so zu einem Grund des Unrechts gegenüber Gesellschaften, die – um beim obigen Beispiel zu bleiben – sexuelle Orientierungen gleichstellen, Männer und Frauen gleichstellen, psychologisch-therapeutisch arbeiten anstatt mit Droh- und Austreibungsszenarien.

Was hindert Frau Koch dann, schnell zum evangelischen Glauben zu konvertieren und einer modernen Ev. Landeskirche beizutreten? Dort ist die theologische Vielstimmigkeit doch längst Pflicht!

Aber kommen wir zum Höhepunkt. Was ist das schönste Gottesdiensterlebnis von Frau Prof. Koch? Die Frage – da sind wir ganz kantianisch – ist eigentlich zu privat. Jedoch:

Beruflich haben mich verschiedene Ritualerlebnisse bewegt, die ich feldforschend begleitet habe: eine schamanische Krafttierreise, Mantrensingen und mehrtägige Atemübungen beim Pranayama-Yoga.

Na, dann müssen wir uns um die Theologie der Gegenwart ja keine Sorgen machen.

Demografische Übermacht der Muslime unaufhaltbar

Um das Jahr 2070 herum wird es erstmals in der Geschichte mehr Muslime als Christen geben, prophezeien US-Forscher. Die Gesellschaften verändern sich. Auch die deutsche. Hier wird jeder zehnte Bürger Muslim sein.

Alexander Dietrich schreibt für DIE WELT:

Sie wächst stärker als jede andere Religion, sogar im Verhältnis stärker als die Weltbevölkerung insgesamt. Das liegt dem Pew-Direktor für Religionsforschung, Alan Cooperman, zufolge zwar vor allem an der höheren Geburtenrate in muslimischen Gesellschaften von derzeit durchschnittlich 3,1 Kindern pro Frau. In Deutschland etwa sind es im Schnitt nur 1,3 Kinder pro Frau – 2,1 Kinder pro Frau wären zum Erhalt der Bevölkerungszahl erforderlich. Aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle.

Konversion etwa: Das Forschungsinstitut erwartet deutlich mehr christliche Konvertiten in Richtung Islam und eine vermehrte Abkehr der Christen von ihrem Glauben in den Atheismus. Rund 106 Millionen Christen werden der Projektion zufolge bis zum Jahr 2050 ihren christlichen Glauben aufgeben und nur 40 Millionen durch Konversion hinzukommen – das macht ein Minus von 66 Millionen Gläubigen. Das Gros (61 Millionen) werde bis zur Mitte des Jahrhunderts keiner Religion mehr angehören, prophezeien die Wissenschaftler.

Ein Trend zum Atheismus sei vor allem in jenen Ländern mit niedriger Geburtenrate und hoher Gentrifizierung festzustellen, also etwa in Europa, den USA und Japan. In vielen islamischen Ländern steht der Abfall vom Glauben unter Strafe, teilweise der Todesstrafe, weshalb die Religionsforscher hier nicht mit „Verlusten“, sondern mit einem Zuwachs der Konvertiten von rund drei Millionen Menschen rechnen.

Der Islam werde den demografischen Wettlauf Cooperman zufolge aber auch deshalb gewinnen, weil die Muslime heute mehrheitlich in Regionen leben, die sehr dynamisch sind – Subsahara-Afrika etwa oder Südostasien. Und: Die arabisch-islamischen Gesellschaften sind durchweg viel jünger als die christlichen. Beispiel: Im Iran sind 70 Prozent der rund 75 Millionen Einwohner unter 25 Jahre alt, das Gesamtdurchschnittsalter beträgt 27 Jahre. Zum Vergleich: Das durchschnittliche Alter der Deutschen liegt bei 43,7 Jahren, das der Japaner sogar bei 46,5 Jahren.

Mehr: www.welt.de.

Islam ist die am stärksten wachsende Religion

Der Islam ist die am stärksten wachsende Religion weltweit. Laut einer Studie wird der Anteil der Muslime an der Weltbevölkerung bis 2050 um 6,5 Prozent steigen. Der Christen-Anteil bleibe konstant.

Laut der amerikanischen Studie „The Future of World Religions“ (Die Zukunft der Weltreligionen) werden in 35 Jahren in Europa 10,2 Prozent der Bevölkerung muslimisch sein; Zum Vergleich: 2010 waren es 5,9 Prozent.

Die Türkei und Russland ausgenommen, besitzt Großbritannien dann die größte muslimische Gemeinschaft mit 7,76 Millionen, gefolgt von Frankreich mit 7,54 Millionen und Deutschland mit 7 Millionen. Nach Angaben der Statistiker werden im Jahr 2050 nur noch 74,7 Millionen Menschen in Deutschland leben – zur Zeit sind es noch 80,7 Millionen. Der Anteil der Muslime an der gesamten Bevölkerung in Deutschland läge damit bei knapp zehn Prozent.

Mehr: www.welt.de.

Insider-Bewegungen

In den Gemeinden wird noch nicht so viel über die „Insider-Bewegungen“ (engl. Insider Movements) gesprochen. Ja nur wenige werden wissen, was sich hinter dem Namen verbirgt. In der Missionswissenschaft sieht das anders aus. Verschiedene Organisationen wie z.B. OM, Frontiers oder Gruppen von Wycliffe diskutieren seit Jahren kontrovers über den Wert von Insider-Bewegungen.

Was ist nun das Besondere der Insider-Bewegungen? Dazu ein Beispiel. Brian McLaren, eine Leitfigur der „Emergenten Bewegung“, ringt sich nach einer mehrseitigen Erörterung der Frage, ob Christen evangelisieren sollen, zu der erfreulichen Stellungnahme durch, dass das Gespräch mit anderen Religionen „die Evangelisation nicht ausschließt, sondern erst möglich macht“. Wenige Zeilen später lesen wir dann (McLaren, A Generous Orthodoxy, 2006: S. 293, siehe auch hier):

Ich muss hinzufügen, dass ich nicht der Auffassung bin, Jünger machen sei gleichbedeutend damit, jemanden an die christliche Religion zu binden. Es mag unter vielen (nicht allen!) Umständen ratsam sein, Menschen zu helfen, Nachfolger Jesu zu werden und sie dabei in ihrem buddhistischen, hinduistischen oder jüdischen Kontext zu belassen.

Wenn er dann noch schreibt: „… , JA, du kannst Jesus nachfolgen, ohne dich selbst als Christ zu verstehen“ (S. 20, Fn 20), ruft das beim Leser diffuse Assoziationen hervor. Was heißt das denn? Sollen Christen im Kontext anderer Religionen leben und sich den dortigen Riten anpassen? Genau! McLaren wirbt für den Ansatz von Insider-Bewegungen. Insider sind Menschen, die sich zum Glauben zu Christus bekennen, jedoch Mitglieder ihrer ursprünglichen Religionsgemeinschaften bleiben. Muslime bleiben Muslime, Hindus bleiben Hindus und Buddhisten bleiben Buddhisten. So bleiben Jesusnachfolger beispielsweise Mitglieder der Moschee, halten sich an die fünf Säulen des Islam, leben in ihren Kulturen offen als Muslime, nehmen an muslimischen Opfern und Festen teil.

Geht das? Wie steht es denn mit dem gerade in den emergenten Kreisen so oft betonten Anspruch auf Authentizität? Wird hier nicht einem Dualismus von innerem Glauben und äußeren Handlungen das Wort geredet? Wie steht es mit dem Missionsverständnis des Neuen Testaments? Forderten Jesus und die Apostel nicht auch die Abkehr von der falschen Religion?

Nun ist es ziemlich einfach, Stellung zu beziehen, wenn man in einem Land lebt, in dem Glaubende nicht diffamiert oder verfolgt werden. Interessanter Weise haben aber gerade „Einheimische“ Probleme mit dem missionswissenschaftlichen „Import“.

Hier zwei Ausarbeitungen zum Thema:

Bastelreligionen

In seinem Artikel „Grenzauflösend und ganzheitlich: Die Bastelreligionen als Forschungsgegenstand der Soziologie“ schreibt Alexander Grau unter Berufung auf Thesen von Annette Wilke für die FAZ (vom 31.07.3013, Nr. 175, S. N4):

Die wichtigsten, auf Deutschland bezogenen empirischen Befunde des Monitors lauten zusammengefasst [Anmerkung: gemeint ist der Religionsmonitor 2008 von der Bertelsmann-Stiftung]: Etwa jeweils dreißig Prozent der Deutschen gehören einer der beiden großen christlichen Konfessionen an oder sind konfessionslos. Von den Konfessionslosen bezeichnen sich gleichwohl 32 Prozent als religiös. Neun Prozent bekennen sich zu einer „freischwebenden Religiosität“, einer „Spiritualität“. Insbesondere unter den in den traditionellen Kirchen Aktiven gibt es eine hohe Affinität zu allen Formen von Spiritualität und Esoterik, zu Alternativmedizin, Yoga oder Ayurveda – auch wenn deren Lehren den Glaubengrundsätzen der jeweiligen Konfession widersprechen. Sowohl unter Konfessionsangehörigen wie unter Religionslosen sind pantheistische und „ganzheitliche“ Weltbilder verbreitet. Dies gilt auch für den Glauben an Telepathie oder an Wiedergeburt.

Diese Daten relativieren laut Wilke die Säkularisierungsthese nicht, können sie aber auch nicht belegen. Unübersehbar sei allerdings ein Trend zur Individualisierung des Religiösen. Grau: „Der Markt der Religionen und Sinnstiftungen ist in Bewegung, theologische Lehrmeinungen spielen kaum eine Rolle, das autonome Subjekt bedient sich aus den unterschiedlichsten Traditionen und bastelt sich ein individuelles religiöses Weltbild. Da theistische Lehren kaum noch überzeugen, bedienen sich selbst kirchennahe Menschen bei Motiven fernöstlicher atheistischer Spiritualität.“

Rudolf Otto und das „Heilige“

RudolfOtto.jpgNur wenige Werke haben das Verständnis von Religion im 20. Jahrhundert so nachhaltig geprägt wie Das Heilige von Rudolf Otto (1869–1937), der die Erfahrung des „Numinosen“ zum Zentrum aller Religionen erklärt. Das Buch ist bis heute ein Klassiker und spielt in den Diskussionen über das Verhältnis von Religion und Moderne eine Schlüsselrolle.

Der DLF hat Leben und Ansatz von Otto auf akkurate Weise vorgestellt:

Nach oben scrollen
DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner