Wilhelm Niesel

„Jeder Ansatz zum Selbstdenken fehlt oft“

Wilhelm Niesel beschwerte sich 1931 in einem Brief an Karl Barth über die fehlende Denkbereitschaft seiner Studenten (Brief vom 19.01.1931, in: Karl Barth und Wilhelm Niesel: Briefwechsel 1924-1968, Vandenhoeck & Ruprecht, 2015, S. 91).

Im Seminar hier muß ich immer wieder die böse Erfahrung machen, daß die Leute heute z.T. überhaupt nicht mehr wissenschaftlich arbeiten können. Jeder Ansatz zum Selbstdenken fehlt oft. Man bekommt Referate, die einfach nur aus Exzerpten bestehen (Calvin sagt, Meyer sagt, Weiß sagt, usw. … folglich: …), so daß man sich fragt, was hat für diese Leute überhaupt das Studium bedeutet. Bei den Juristen und Medizinern ist diese Art ja schon längst eingerissen, daß man nicht mehr studiert, sondern nur Stoff einpaukt. Das scheint jetzt auch bei uns so zu werden. Da ist es besonders verheerend, nicht nur wegen des Prinzipiellen, daß bei uns doch wirkliche Aneignung nötig ist, sondern weil wir ja keine feste Lehre haben, die einfach eingepaukt werden könnte. Bei den vielen Stimmen, die auf sie einstürmen (etwa bei der Exegese), wissen die Leute sich dann überhaupt nicht zu helfen.

Was würde er wohl heute sagen?

 

„Man hat nicht auf den Herrn der Kirche gehört“

Der reformierte Theologe Wilhelm Niesel schrieb während des Kirchenkampfes im Dritten Reich an Karl Barth (Brief vom 21.07.1933, in: Karl Barth und Wilhelm Niesel: Briefwechsel 1924-1968, Vandenhoeck & Ruprecht, 2015, S. 113; es ging um Verhandlung mit dem Reichsbischof Ludwig Müller, der eine führende Rolle bei den mit den Nationalsozialisten kooperierenden Deutschen Christen einnahm):

Was wir heute erleben, ist die Katastrophe einer kirchengeschichtlichen Epoche, in der man in der Kirche die Wahrheitsfrage nicht ernst genommen hat. Der Ruf, die Kirche vom Bekenntnis her, vom verantwortungsvollen Verständnis des Wortes her zu gestalten, ist wirkungslos verhallt, nachdem es anfangs schien, als wollte man auf ihn hören. Man hat in Berlin im Lärm und in Loccum in der Stille auf alles Mögliche gehört, auf die Stimme seiner eigenen Überzeugung und auf die Forderung von allen möglichen Gruppen; aber man hat nicht auf den Herrn der Kirche gehört, …

 

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