Jonathan Rauch: Die Kultur der Denunziation

Jonathan Rauch schreibt in Die Verteidigung der Wahrheit über die Verdampfung der Meinungsfreiheit und die gewollte Kultur der Denunziation (2022, S. 23–24): 

Als Angehöriger einer sexuellen Minderheit und langjähriger Verfechter von Schwulenrechten (und der Redefreiheit) hat es mich ganz besonders deprimiert zu sehen, dass sich eine zwar nicht repräsentative, aber lautstarke Minderheit von Transgenderaktivisten die Methoden der sozialen Einschüchterung zu eigen macht. Wie der britische Economist im August 2019 berichtete, „ist jede Diskussion von Transgenderfragen hochexplosiv“. Und wie Robby Soave in seinem Buch Panic Attack: Young Radicals in the Age of Trump aus demselben Jahr schrieb, „verurteilen viele der lautesten Trans-Stimmen, besonders in den Medien, jegliche Kritik an ihren Aktivitäten routinemäßig nicht nur als falsch, sondern als eine Art Übergriff“. Soave zitiert dort einen Professor mit den Worten: „Sie schaffen es, die Leute so zu verängstigen, dass sie lieber schweigen.“ Die Zielpersonen solcher Kampagnen können gesellschaftlich zu Aussätzigen werden – sie können ihren Ruf ebenso verlieren wie ihre Jobs oder ihre Unternehmen, ganz abgesehen von vielen ihrer Freundschaften und sozialen Kontakte. In zwischenmenschlicher und beruflicher Hinsicht laufen sie Gefahr, gecancelt zu werden, wie der neue Ausdruck dafür lautet.

Natürlich gehört es zum Zusammenleben dazu, sich selbst zu zensieren (wir nennen das „Höflichkeit“) – aber nicht, wenn dies den offenen Austausch und die offene Kritik im intellektuellen Leben der Universitäten beeinträchtigt. Denn gerade ein solcher Austausch und eine solche Art von Kritik sind ja die eigentlichen Gründe dafür, sich überhaupt dorthin zu begeben. In den 2010er-Jahren hatte sich ein unverkennbarer Wandel in diese Richtung vollzogen. Jonathan Haidt, ein prominenter Sozialpsychologe an der New York University (dessen Arbeit auch eine Inspirationsquelle für dieses Buch darstellt), sagte 2018 in einem Interview mit dem Radiomoderator Bob Zadek: „2015 breitete sich die Kultur der Denunziation im ganzen Land noch viel schneller aus. Ich würde sagen, dass sie in einem bestimmten Maße überall anzutreffen ist. Die Studierenden sind viel defensiver und fürchten sich viel stärker davor, mit der herrschenden Meinung nicht übereinzustimmen. Das Wesen des College als eines freien Ortes mit frei sich entfaltenden Diskussionen, wo man provokativ sein und die herrschenden Personen oder Ideen herausfordern kann, ist schwächer ausgeprägt, als es noch vor vier oder fünf Jahren der Fall war.“

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20 Tage zuvor

Rauch ist ein typischer liberaler Atheist: Er genießt die typischen Freiheiten einer ehemals christlichen Werteordnung, ohne ihr selbst angehören zu wollen. Irgendwann ist das Erbe dann aufgebraucht, und die Fratze kommt zu Vorschein. Wer die Antike nicht kennt, ist verdammt sie zu wiederholen. In seinem neuesten Buch „Cross Purposes: Christianity’s Broken Bargain with Democracy“ fordert er die anderen (!) Amerikaner auf, sich wie die Mormonen zu verhalten – einem Kult, der die US-Verfassung für „göttlich inspiriert“ hält – weil er das persönlich für nützlich hält. Er selbst möchte natürlich NICHT nach deren rigiden Vorschriften leben. Damit haben wir den typischen Liberalen: Er erwartet von den anderen, sich pietistisch und wertkonservativ zu verhalten, damit er selbst weiter seine „Freiheiten“ genießen kann. Diese Art Intellektuelle sind das typische Zeichen des Niederganges der westlichen Zivilisation. In seinem älteren nun ins Deutsche übersetzten Buch arbeitet er sich noch an seinem säkularen Wahrheitsbegriff ab. Dabei beobachtete er schlichtweg, wie andere Glaubenssysteme das vom Christentum hinterlassene… Weiterlesen »

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