Philosophie

Sind Rechte und Pflichten immer nur Verträge?

Der Geschichtsprofessor Yuval Harari hat einmal über die Menschenrechte gesagt: 

Mit den Menschenrechten verhält es sich wie mit dem Himmel und Gott: Sie sind nur eine fiktive Geschichte, die wir erfunden haben und verbreiten. Vielleicht eine sehr schöne Geschichte, das mag sein. Eine attraktive Geschichte, die wir gerne glauben würden. Aber es handelt sich eben doch nur um eine Geschichte, nicht um die Realität. Menschenrechte sind keine biologische Realität. So wie Quallen, Spechte und Strauße keine Rechte haben, hat auch der Homo sapiens keine Rechte. Nehmen Sie einen Menschen, schneiden sie ihn auf und schauen Sie hinein: Sie finden sein Blut, das Herz, die Lunge und die Nieren, aber Sie finden dort keine Rechte. Der einzige Ort, an dem man Rechte findet, ist in den fiktiven Geschichten, die Menschen erfunden und verbreitet haben. Und das Gleiche gilt auch im politischen Bereich. Staaten und Nationen sind – genau wie die Menschenrechte und Gott und der Himmel – auch nur Geschichten. Ein Berg ist eine Realität: Sie können ihn sehen, ihn anfassen und sogar riechen. Israel oder die Vereinigten Staaten sind nur Geschichten. Sehr mächtige Geschichten. Geschichten, die wir vielleicht sehr gerne glauben würden, aber trotzdem nur Geschichten. Die Vereinigten Staaten kann man nicht wirklich sehen – man kann sie nicht anfassen, man kann sie nicht riechen.

Sind also Dinge wie Himmel, Hölle, Nationen und sogar „Menschenrechte“ nur nette Geschichten, die wir uns erzählen, um mit der Welt zurechtzukommen? Derek Rishmawy, der sich mit den Sichtweisen von Jordan Peterson, Tom Holland und Yuval Harari auseinandergesetzt hat, ist da anderer Meinung. 

Mehr hier: www.evangelium21.net.

Keith A. Mathisons Kritik an Cornelius Van Til

Im reformierten Kreisen wird derzeit intensiv über die Kritik an der „voraussetzungsbewussten Apologetik“ nachgedacht. Die „Presuppositional Apologetics“ ist ein Ansatz in der christlichen Apologetik, der darauf basiert, dass jeder Mensch mit bestimmten weltanschaulichen Voraussetzungen (Präsuppositionen) denkt und argumentiert. Dieser Ansatz wurde besonders durch Cornelius Van Til entwickelt und geprägt. Keith A. Mathison hat nun mit dem Buch Toward a Reformed Apologetics eine Kritik des Denkens von Cornelius Van Til vorgelegt. Das Buch von Mathison ist in mancherlei Hinsicht hilfreich. Aber es enthält auch gravierend Schwächen, die bei der Darstellung von Van Tils Ansatz beginnen und besonders dort deutlich werden, wo er einen „präpositionale Einfluss des Idealismus“ bei Van Til behauptet.

Ein sehr hilfreiche Besprechung gibt es beim Reformed Forum durch Carlton Wynne, Lane Tipton und Camden Bucey. Zur inhaltlichen Orientierung die Themen: 

00:00:07 Introduction
00:07:17 Points of Appreciation for Mathison’s Book
00:13:04 Must Man Know All Things to Knowing Anything about Anything?
00:33:14 The Covenantal-Ethical Nature of Knowledge
00:51:11 The Influence of Idealism upon Van Til
01:01:54 Propositional Jenga
01:12:25 Borrowed Capital
01:18:42 Correlativism or One-Circle Thinking
01:23:10 The Coherence Theory of Truth
01:34:09 Conclusion

Das andere Geschlecht

Simone de Beauvoir schrieb 1949 (Das andere Geschlecht [#ad], 2018, S. 484–485):

Es ist nicht schwer, sich eine Welt vorzustellen, in der Männer und Frauen gleich wären, denn genau diese Welt hatte die russische Revolution versprochen: Die Frauen, in der gleichen Weise erzogen und ausgebildet wie die Männer, würden bei gleichem Lohn unter den gleichen Bedingungen arbeiten. Die erotische Freiheit wäre sittlich zugelassen, aber der Geschlechtsakt würde nicht mehr als ein „Dienst“ betrachtet, der sich auszahlt. Die Frau wäre gezwungen, sich einen anderen Broterwerb zu sichern. Die Ehe wäre ein freier Zusammenschluß, den beide Partner zu jedem beliebigen Zeitpunkt aufkündigen könnten. Auch die Mutterschaft wäre frei, daß heißt, Geburtenkontrolle und Abtreibung wären erlaubt, und umgekehrt würden allen Müttern – ob ledig oder verheiratet – und ihren Kindern unterschiedslos die gleichen Rechte zuerkannt. Der Schwangerschaftsurlaub würde von der Kollektivität bezahlt, und dieser fiele auch die Sorge für die Kinder zu, was nicht heißt, daß die Kinder den Eltern entzogen würden, sondern daß man sie ihnen nicht überließe.

Aber genügt es, die Gesetze, die Institutionen, die Sitten, die öffentliche Meinung und den ganzen gesellschaftlichen Kontext zu verändern, damit Frauen und Männer wirklich Gleiche unter Gleichen werden? „Frauen bleiben immer Frauen“, sagen die Skeptiker, und andere Hellseher prophezeien, daß es den Frauen, wenn sie ihre Weiblichkeit ablegen, nicht gelingen wird, sich in Männer zu verwandeln, und daß sie dann zu Ungeheuern werden. Das wiederum setzt die Annahme voraus, die Frau von heute sei eine Schöpfung der Natur. Es mus noch einmal wiederholt werden, dais es in der menschlichen Kollektivität nichts gibt, was natürlich wäre, und daß auch die Frau ein Produkt der Zivilisation ist. Das Eingreifen anderer in ihr Schicksal war von Anfang an da, und es würde, anders gelenkt, zu einem ganz anderen Ergebnis führen. Die Frau wird weder durch ihre Hormone noch durch geheimnisvolle Instinkte bestimmt, sondern durch die Art und Weise, wie sie ihren Körper und ihre Beziehung zur Welt über das fremde Bewußtsein der anderen wiedererfaßt. Der Abgrund, der zwischen dem jungen Mädchen und dem jungen Mann liegt, ist seit der frühesten Kindheit im allseitigen Einvernehmen gegraben worden. Später ist dann nicht mehr zu verhindern, daß die Frau das ist, wozu man sie gemacht hat. Ihr Leben lang wird sie diese Vergangenheit hinter sich her schleppen, und wenn man deren Gewicht ermißt, wird endgültig klar, daß das Schicksal der Frau nicht in Ewigkeit geschrieben stehen kann.

Gewiß, man darf nicht glauben, es reiche aus, die ökonomischen Bedingungen des Frauseins zu verändern, um eine Umwandlung der Frau herbeizuführen. Dieser Faktor war und bleibt zwar der wichtigste Motor ihrer Evolution, doch solange er nicht die ethischen, gesellschaftlichen, kulturellen und sonstigen Konsequenzen nach sich gezogen hat, auf die er verweist und die er verlangt, kann die neue Frau nicht in Erscheinung treten. Bis zum heutigen Tag sind diese Voraussetzungen nirgendwo verwirklicht, weder in der Sowjetunion noch in Frankreich, noch in den USA. Und darum ist die heutige Frau zwischen der Vergangenheit und der Zukunft hinund hergerissen. Meistens erscheint sie als eine „wahre Frau“ in Männerkleidung, und sie fühlt sich in ihrem weiblichen Fleisch ebenso unwohl wie in ihrer männlichen Aufmachung. Sie muß sich häuten und sich ihre eigenen Kleider schneidern. Dahin aber kann sie nur dank einer kollektiven Evolution gelangen. Kein einzelner Erzieher vermag heute einen „weiblichen Menschen“ zu formen, der eine genaue Entsprechung des „männlichen Menschen“ wäre.

Ein junges Mädchen, das wie ein Knabe aufgewachsen ist, empfindet sich als ungewöhnlich und erfährt dadurch eine neue Art der Spezifizierung. Stendhal hat dies sehr gut verstanden, als er sagte: „Man muß gleich einen ganzen Wald pflanzen.“ Wenn man aber umgekehrt eine Gesellschaft unterstellt, in der die Gleichheit der Geschlechter konkret realisiert wäre, müßte diese Gleichheit sich in jedem Individuum neu bestätigen.

Wenn man das heute liest, gewinnt man schnell den Eindruck, dass sich ihre Wünsche durchgesetzt haben. Die Ehe wird als Vertrag auf Zeit verstanden. Geburtenkontrolle und Abtreibung sind normal geworden. Den staatlich verbürgten Schwangerschaftsurlaub gibt es. Der Essentialismus, die Vorstellung also, dass Mann und Frau ein jeweils in bestimmten Bereichen unterschiedliches, inhärentes Wesen (o. Essenz) besitzten, ist eine Außenseiterposition.

Abigail Favale, deren Buch Die geleugnete Natur [#ad] ich hier vorgestellt habe, erläutert in einem Interview mit Public Discurs auf faire und interessante Weise die Anliegen von Das andere Geschlecht. So sagt sie: 

Man kann „Das andere Geschlecht“ nicht verstehen, ohne de Beauvoirs existenzialistisches Framework zu verstehen. Dieser Bezugsrahmen postuliert einen starken Kontrast zwischen Transzendenz und Immanenz. Für sie haben wir nicht wirklich eine Natur. Wir sind nicht von Natur aus Menschen. Wir müssen Menschen werden. Wir müssen uns aus unserem ursprünglichen Zustand erheben. Wir müssen unsere tierische Natur – unsere Immanenz, unsere Faktizität – transzendieren, indem wir unsere Freiheit in der Welt durch kreatives Handeln ausüben.

Für sie bedeutet das, zu transzendieren. Sie spielt hier nicht auf irgendeine Art von Gott an. Es geht nur darum, unsere Immanenz und unseren Status als Objekt zu transzendieren, um ein selbstverwirklichtes Subjekt in der Welt zu werden. In ihrem Rahmen verbindet sie Transzendenz mit dem, was wir als Männlichkeit betrachten. Sie verbindet Frauen mit Immanenz, weil sie biologische Prozesse nicht als fähig ansieht, Transzendenz zu erreichen.

Deshalb lehnt sie Mutterschaft so ab. Für sie bedeutet Mutterschaft einfach nur die Wiederholung der menschlichen Existenz. Sie zählt nicht als Transzendenz, weil die menschliche Existenz an sich nicht bedeutungsvoll ist. Sie muss bedeutungsvoll gemacht werden. Ein Baby zu bekommen, ist also nicht wirklich wichtig, denn so verwirklicht man nicht seine eigene Transzendenz. Und dieses Baby ist auch noch nicht wirklich menschlich. Er oder sie muss später im Leben die Initiative ergreifen, um menschlich zu werden. Für sie ist Fortpflanzung dieser sich wiederholende, fast vegetative Prozess.

Mehr hier: www.thepublicdiscourse.com.

Das „Gadamer-Forum“

Mit einer Festveranstaltung wurde am 24. Oktober 2024 das Hans-Georg Gadamer-Forum für Philosophische Hermeneutik an der Bergischen Universität Wuppertal eröffnet. Das Gadamer-Forum soll der internationalen Forschung zu Gadamers Werk und zur philosophischen Hermeneutik einen institutionellen Ort geben. 

Die FAZ schreibt (06.11.2024, Nr. 259, S. N5): 

Es verging ein Jahrzehnt, bis 1960 sein Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ die Summe seiner philosophischen Hermeneutik vorstellte. Als vornehmliche Aufgabe verstand Gadamer nicht nur, Fragen der philosophischen Überlieferung aufzugreifen, sondern sich über menschliche Erfahrungen klar zu werden, die nicht im rationalistischen Sinne nachprüfbar sind. Maßgebliches Medium ist ihm die Sprache und hierbei der Dialog als grundsätzliches Element: ein sprachliches Miteinander, das gemeinsam zu entwickeln sei. Hierbei bietet im Horizont der unaufhaltsamen Wandelbarkeit der Welt das Gespräch mit der reichen Überlieferung stabile Bezugspunkte des philosophischen Verstehens.

Im Gegensatz zu Heidegger, der eine „Destruktion“ und einen „Abbau“ der Traditionen anstrebte, um eigentliche Grundstrukturen der Philosophie freizulegen, verfolgte Gadamer deren Rehabilitation: Ein gegenwärtiges Philosophieren könne sich nur in bisher eröffneten Möglichkeiten entfalten und habe insofern den Charakter einer stets neu zu leistenden Verschmelzung der Horizonte von Gegenwart und Vergangenheit des Denkens. Wer verstehen will, müsse „mit der Sache, die mit der Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden“ sein. So sei das philosophische Gespräch stets von der Geschichte getragen.

Diese philosophische Hermeneutik neu zur Sprache zu bringen hat sich das Hans-Georg Gadamer-Forum für philosophische Hermeneutik an der Bergischen Universität Wuppertal zum Ziel gesetzt. Mit dem Beginn einer digitalen Edition der Korrespondenzen des Philosophen, die in Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) und der Hans-Georg Gadamer-Gesellschaft in Heidelberg entsteht, wurden in diesem Jahr schon erste Schritte getan.

Postmoderne Machtambitionen

Leander Scholz geht davon aus, dass die Postmoderne, die einst auf Pluralität setzte, an ihr Ende gekommen ist. Aus ihr sei eine ambitionierte Identitätspolitik hervorgegangen, die aus jedem Sprechakt ein Bekenntnis zur Gruppenidentität mache. Die Differenz sei zur Identität umgeschlagen.

Zitat: 

Mit dem enormen Erfolg des postmodernen Programms änderte sich jedoch auch sein politischer Einsatz. Wurde bis dahin von den postmodernen Denkern jede Verfestigung und Verstetigung von Macht als ein grundsätzliches Problem angesehen, das durch den Plural der Postmoderne gelöst werden sollte, fand die Ausübung politischer Macht nun ausgerechnet im Namen dieses Plurals statt. Die Losung der Vielfalt hatte die Seiten gewechselt. Von den Gegenkulturen ausgehend, war sie inzwischen zum Mainstream geworden. Zahlreiche Institutionen und Unternehmen bekannten sich zur gesellschaftlichen Vielfalt und ergriffen entsprechende Maßnahmen. Die Vielfalt der Geschlechter, der Familien und der Kulturen wurde begrüßt und gefördert. Schließlich wurde der Plural der Postmoderne zur regierungsamtlichen Position. Ein größerer Triumph lässt sich kaum vorstellen. Aber das bedeutete auch, dass das postmoderne Programm bürokratisiert werden musste. Es musste definiert werden, was Vielfalt ist und welche Vielfalt gewünscht wird und welche nicht.

Seitdem wird klassifiziert und identifiziert wie nie zuvor. Es wird über Hautfarben gestritten, über sexuelle, kulturelle und ethnische Zugehörigkeiten, wer zur Mehrheit und wer zur Minderheit zählt, wer reden darf oder lieber schweigen sollte. Längst steht das postmoderne Programm nicht mehr auf der Seite der Nonkonformisten und Individualisten, sondern produziert immer neue Gruppenidentitäten. Aus der postmodernen Annahme, dass nur die Opfer zur Wahrheit fähig sind, da alle anderen durch die Macht korrumpiert werden, ist ein Konkurrenzkampf um die Benachteiligung und ihre Wahrnehmung geworden.

Entscheidend ist weniger, was gesagt wird, sondern vielmehr, von wem es gesagt wird. War die postmoderne Linke einst angetreten, um dem Konformismus der Kadersozialisten zu entkommen, hat sie sich inzwischen selbst im Mikromanagement der Differenzen verfangen. Das Gegenteil ihres Ziels ist eingetreten. Der gesellschaftliche Zwang zur Ausbildung von Gruppenidentitäten ist nicht schwächer, sondern stärker geworden.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Pascal ist schlauer

Blaise Pascal, der berühmte französische Philosoph und Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts, ist vielleicht am besten für seine „Wette“ bekannt. Pascal argumentiert, dass es immer die bessere „Wette“ ist, an Gott zu glauben, weil der Erwartungswert des Gewinns, der durch den Glauben an Gott erzielt werden kann, in jedem Fall größer ist als der Erwartungswert des Unglaubens. Doch Pascal und seine Brillanz haben  viel mehr zu bieten als diese Wette. Douglas Groothuis, ein ausgewiesener Pascal-Experte, der ein wichtiges Buch (#ad) über den Janseiten geschrieben hat, nimmt uns in diesem Gespräch mit hinein in das Denken Pascals.

Interviewt wird er unter anderem von Carl Trueman: 

 

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Nietzsche – kein guter politischer Lehrmeister

Pete Nicholas warnt vor einer Politik, die einzig auf Macht ausgerichtet ist – und stellt dieser ein augustinisches Konzept gegenüber:

Nietzsche lehrte eine Hermeneutik (Weltanschauung), die von der Macht ausgeht: „Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper darnach strebt, über den ganze Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen (— sein Wille zur Macht:) und Alles das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt“ (eKGWB/NF-1888,14[186] —Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888).

Die politische Linke sieht die Welt zunehmend auf diese Weise. Sie ist sehr darauf bedacht, Machtungleichgewichte auszugleichen und die Freiheit zu fördern, indem sie gesellschaftliche Gruppen, denen es an Macht mangelt, von entsprechenden Hindernissen befreit. Diese Ziele mögen bewundernswert sein, aber daneben sind Theorien entstanden, die in der Philosophie von Nietzsche und Marx verankert sind und die Menschen durch die Schnittpunkte der Macht betrachten und für eine Umkehrung der gesellschaftlichen Machtdynamik eintreten.

Die politische Rechte mag sich zwar in Opposition zu einem solchen Ansatz sehen, doch der Aufstieg des Populismus spricht dagegen. Für Nietzsche war die Verkörperung des Willens zur Macht der Übermensch, der die Ideale verkörperte, die wir heute in populistischen Führern wiederfinden.

Der Populismus stellt „das Volk“ (Populus) als geschwächt durch korrupte Mächte – „Eliten“ an der Spitze der Gesellschaft – und durch diejenigen dar, die von außen in das Volk eindringen. Komplexe gesellschaftliche Probleme werden in der Regel auf dieses Narrativ von Korruption und Schwächung reduziert, wobei der Übermensch die einzige Person ist, die „sagt, wie es ist“, und anbietet, die Dinge zu bereinigen und die Stärke des Volkes wiederherzustellen. Wenn Dir das bekannt vorkommt, dann ist das der Punkt.

Selbst wenn es einen gewissen Erklärungswert hat, kann die Betrachtung der Dinge durch die Brille der Macht keinen konstruktiven Weg nach vorne aufzeigen. Macht reduziert alles auf ein Nullsummenspiel. Wir täten gut daran, über die blutigen Regime des 20. Jahrhunderts nachzudenken, die, ob sie nun von Nietzsche oder Marx gestützt wurden, die Welt auf diese Weise sahen.

Wir täten gut daran, Augustins Warnung und Ermahnung zu beherzigen (ich zitiere ohne Auslasssungen aus De Civitate Dei, XII,1):

„Denn die einen verharren standhaft bei dem allen gemeinsamen Gut, das für sie Gott selber ist, und bei seiner Ewigkeit, Wahrheit und Liebe; die andern, von ihrer eigenen Macht berauscht, fielen, als könnten sie ihr eigenes Gut sein, von dem höheren, allen gemeinsamen, beseligenden Gute auf sich selbst zurück, tauschten dünkelhafte Selbstüberhebung ein für die hoch erhabene Ewigkeit, nichtsnutzige Schlauheit für gewisseste Wahrheit, parteiische für allgemeine Liebe und wurden hochmütig, trügerisch, neidisch. Gott anhangen, das ist für die einen Grund der Seligkeit, so ergibt sich als Grund der Unseligkeit der anderen das Gegenteil: Gott nicht anhangen.“

Mehr: www.thegospelcoalition.org.

Postkolonialismus an Universitäten

Eine angesehene Londoner Hochschule will die Philosophie „dekolonisieren“. Die Deutsche Gesellschaft für Philosophie springt auf den Zug auf und möchte den Kanon von weißen, männlichen Denkern säubern.

Was sich als bloße Empfehlung tarnt, dürfte bald zur Waffe gegen Andersdenkende werden. Hier ein CICERO-Beitrag von Wissenschaftsphilosophen zu dieser Entwicklung:

So was kommt von so was: An der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS, London), das zum Hochschulverbund der University of London gehört, wurde vor einigen Tagen ein „Decolonising Philosophy Toolkit“ (DPT) veröffentlicht. Es ist eine Anleitung zu dem Projekt, philosophisches Forschen und Lehren und insbesondere auch philosophische Curricula zu „dekolonisieren“, also von den behaupteten Vorurteilen und kolonialistisch-rassistischen Strukturen westlich-weißer Philosophie zu befreien. 

In dieser Anleitung wird exemplarisch einem „Traditional-cum-Colonial“-Modul zur Erkenntnistheorie ein dekolonisiertes Modul gegenübergestellt. Während der klassische Semesterplan ganz herkömmlich etwa Platon, Russell, Hume, Descartes und neuere analytische Personen und Positionen enthält (z.B. Internalismus vs. Externalismus), sind im dekolonisierten Semesterplan diese, wie es heißt, „westlichen“, „weißen“, „bourgeoisen“, „heteronormativen“ und „eurozentrischen“ Personen und Positionen fast komplett getilgt; stattdessen geht es fast ausschließlich um Philosophie afrikanischer, asiatischer oder auch indigener Herkunft und spezifisch etwa um „Decolonising the Mind“, „Constructing the Epistemologies of the Global South“, um „Conceptualising Epistemic Oppression“, um „On Being White“ oder auch um „Children of the Palms: Growing Plants and Growing People in a Papuan Plantationocene“. Fast könnte man bei der Lektüre meinen, es wäre eine Satire.

Zwar heißt es in dem Toolkit, es gehe um ein dialogisches Model, in dem keine Kultur eine privilegierte Position habe; aber die reale Ausführung beweist die tatsächliche Absicht. Sie wollen nicht die Macht teilen, wie sie sagen, sie wollen sie haben. Umso grotesker ist, dass der Toolkit die Annahme, Postkolonialisten wollen doch nur Platon & Co. aus den Curricula verbannen, als Zerrbild darstellen; denn der vorgeschlagene dekolonisierte Semesterplan straft sie Lügen. Selbst wenn man nun einräumen würde, dass Philosophien dieser Herkunft und dieses Typs die Bezeichnung als „Philosophie“ wirklich verdienen und methodischen Ansprüchen wirklich genügen, kann die Vorgehensweise offenkundig nicht darin bestehen, die westliche Philosophie (von den Vorsokratikern bis zur Gegenwart) einfach komplett zu tilgen. 

Mehr: www.cicero.de.

Die Leugnung der menschlichen Natur

Der Schweizer Wissenschaftsjournalist Reto U. Schneider geht in der NZZ der Frage nach, warum natürliche Vorgaben für die menschliche Natur heute unter Generalverdach stehen. Die Kernfrage lautet: 

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der unterschiedlichen Anatomie der Geschlechter und ihren Neigungen, ihrem Verhalten, ihrem Wesen? Wie die Antwort darauf ausfällt, war selten wichtiger als heute. Falls es diesen Zusammenhang nicht gibt, falls sich das Denken, Fühlen und Handeln von Männern und Frauen also in ihrem Kern durch nichts systematisch unterscheidet, würden die Bezeichnungen Mann und Frau in einer gleichberechtigten Gesellschaft an Bedeutung verlieren. Es blieben bloss noch einige anatomische Differenzen im Körperbau und der Reproduktion.

Falls aber die meisten Menschen mit einer typisch männlichen oder weiblichen Innenwelt geboren werden, müssen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik dem Rechnung tragen. Genauso wie die Medizin heute bei Prävention, Diagnose und Behandlung berücksichtigt, dass ein Frauenkörper sich von einem Männerkörper durch vieles mehr unterscheidet als bloss durch die äusseren Geschlechtsorgane.

Diejenigen, die wie Judith Butler ganz auf die soziale Konstruktion setzen, haben meines Erachtens eine enorme Bringschuld, da bisher vorgetragene Argumente nicht überzeugen. Vertreter der Position, nach der es essenzielle Unterschiede (nicht Unterschiede im Wert) zwischen Mann und Frau gibt, haben hingegen gute Gründe, aus der Defensive herauszutreten. 

Mehr: www.nzz.ch.

Der Diskurs der Philosophie

Guido Kalberer hat das frisch erschienene Der Diskurs der Philosophie (#ad) von Michel Foucault gelesen und zieht ein nüchternes Fazit:

Heute müsse der Philosoph, so Foucault, die Gegenwart im Sinne Nietzsches diagnostizieren. Er muss quasi ein Arzt der Kultur sein, allerdings befreit von der Pflicht, sie heilen zu müssen. «Er ist ein Vorübergehender, der dem Vorübergehen näher ist als jeder andere.» Der Philosoph sage, was ist und geschieht. Er mache sichtbar, was eigentlich wahrnehmbar sein müsste, aber so eng mit uns verbunden sei, dass wir es übersähen. Philosophie holt laut Foucault das Ungesagte in die Sprache und richtet ihr Augenmerk auf das Ereignis, nicht das Ewige.

Mit seiner Kritik an der normierenden Kraft der herrschenden Machtdiskurse, etwa in «Überwachen und Strafen», und seiner Neugier an dem, was an den Rändern der etablierten Disziplinen geschieht, findet Michel Foucault heute wieder Gehör. Vor allem in Kreisen, die sich als divers verstehen und Zuschreibungen von eindeutigen Identitäten ablehnen.

Davon abgesehen muss man allerdings feststellen, dass seine Diskursphilosophie an Bedeutung und Einfluss verloren hat. Auch an den Akademien ist es ruhig geworden um sie: In den Sozial- und Geisteswissenschaften, zumindest hierzulande, wird sein Werk weniger rezipiert und diskutiert als etwa jenes von Niklas Luhmann oder Jürgen Habermas, aber auch als jenes von Pierre Bourdieu, der Foucaults Auffassung von Geschichte und Kultur einmal als «abstrakt und idealistisch» kritisierte. Daran wird auch «Der Diskurs der Philosophie» nichts ändern.

Sehe ich auch so. Es ist wirklich an der Zeit, Foucaults Wahnsinn zu überwinden. 

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