Philosophie

Das „Gadamer-Forum“

Mit einer Festveranstaltung wurde am 24. Oktober 2024 das Hans-Georg Gadamer-Forum für Philosophische Hermeneutik an der Bergischen Universität Wuppertal eröffnet. Das Gadamer-Forum soll der internationalen Forschung zu Gadamers Werk und zur philosophischen Hermeneutik einen institutionellen Ort geben. 

Die FAZ schreibt (06.11.2024, Nr. 259, S. N5): 

Es verging ein Jahrzehnt, bis 1960 sein Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ die Summe seiner philosophischen Hermeneutik vorstellte. Als vornehmliche Aufgabe verstand Gadamer nicht nur, Fragen der philosophischen Überlieferung aufzugreifen, sondern sich über menschliche Erfahrungen klar zu werden, die nicht im rationalistischen Sinne nachprüfbar sind. Maßgebliches Medium ist ihm die Sprache und hierbei der Dialog als grundsätzliches Element: ein sprachliches Miteinander, das gemeinsam zu entwickeln sei. Hierbei bietet im Horizont der unaufhaltsamen Wandelbarkeit der Welt das Gespräch mit der reichen Überlieferung stabile Bezugspunkte des philosophischen Verstehens.

Im Gegensatz zu Heidegger, der eine „Destruktion“ und einen „Abbau“ der Traditionen anstrebte, um eigentliche Grundstrukturen der Philosophie freizulegen, verfolgte Gadamer deren Rehabilitation: Ein gegenwärtiges Philosophieren könne sich nur in bisher eröffneten Möglichkeiten entfalten und habe insofern den Charakter einer stets neu zu leistenden Verschmelzung der Horizonte von Gegenwart und Vergangenheit des Denkens. Wer verstehen will, müsse „mit der Sache, die mit der Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden“ sein. So sei das philosophische Gespräch stets von der Geschichte getragen.

Diese philosophische Hermeneutik neu zur Sprache zu bringen hat sich das Hans-Georg Gadamer-Forum für philosophische Hermeneutik an der Bergischen Universität Wuppertal zum Ziel gesetzt. Mit dem Beginn einer digitalen Edition der Korrespondenzen des Philosophen, die in Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) und der Hans-Georg Gadamer-Gesellschaft in Heidelberg entsteht, wurden in diesem Jahr schon erste Schritte getan.

Postmoderne Machtambitionen

Leander Scholz geht davon aus, dass die Postmoderne, die einst auf Pluralität setzte, an ihr Ende gekommen ist. Aus ihr sei eine ambitionierte Identitätspolitik hervorgegangen, die aus jedem Sprechakt ein Bekenntnis zur Gruppenidentität mache. Die Differenz sei zur Identität umgeschlagen.

Zitat: 

Mit dem enormen Erfolg des postmodernen Programms änderte sich jedoch auch sein politischer Einsatz. Wurde bis dahin von den postmodernen Denkern jede Verfestigung und Verstetigung von Macht als ein grundsätzliches Problem angesehen, das durch den Plural der Postmoderne gelöst werden sollte, fand die Ausübung politischer Macht nun ausgerechnet im Namen dieses Plurals statt. Die Losung der Vielfalt hatte die Seiten gewechselt. Von den Gegenkulturen ausgehend, war sie inzwischen zum Mainstream geworden. Zahlreiche Institutionen und Unternehmen bekannten sich zur gesellschaftlichen Vielfalt und ergriffen entsprechende Maßnahmen. Die Vielfalt der Geschlechter, der Familien und der Kulturen wurde begrüßt und gefördert. Schließlich wurde der Plural der Postmoderne zur regierungsamtlichen Position. Ein größerer Triumph lässt sich kaum vorstellen. Aber das bedeutete auch, dass das postmoderne Programm bürokratisiert werden musste. Es musste definiert werden, was Vielfalt ist und welche Vielfalt gewünscht wird und welche nicht.

Seitdem wird klassifiziert und identifiziert wie nie zuvor. Es wird über Hautfarben gestritten, über sexuelle, kulturelle und ethnische Zugehörigkeiten, wer zur Mehrheit und wer zur Minderheit zählt, wer reden darf oder lieber schweigen sollte. Längst steht das postmoderne Programm nicht mehr auf der Seite der Nonkonformisten und Individualisten, sondern produziert immer neue Gruppenidentitäten. Aus der postmodernen Annahme, dass nur die Opfer zur Wahrheit fähig sind, da alle anderen durch die Macht korrumpiert werden, ist ein Konkurrenzkampf um die Benachteiligung und ihre Wahrnehmung geworden.

Entscheidend ist weniger, was gesagt wird, sondern vielmehr, von wem es gesagt wird. War die postmoderne Linke einst angetreten, um dem Konformismus der Kadersozialisten zu entkommen, hat sie sich inzwischen selbst im Mikromanagement der Differenzen verfangen. Das Gegenteil ihres Ziels ist eingetreten. Der gesellschaftliche Zwang zur Ausbildung von Gruppenidentitäten ist nicht schwächer, sondern stärker geworden.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Pascal ist schlauer

Blaise Pascal, der berühmte französische Philosoph und Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts, ist vielleicht am besten für seine „Wette“ bekannt. Pascal argumentiert, dass es immer die bessere „Wette“ ist, an Gott zu glauben, weil der Erwartungswert des Gewinns, der durch den Glauben an Gott erzielt werden kann, in jedem Fall größer ist als der Erwartungswert des Unglaubens. Doch Pascal und seine Brillanz haben  viel mehr zu bieten als diese Wette. Douglas Groothuis, ein ausgewiesener Pascal-Experte, der ein wichtiges Buch (#ad) über den Janseiten geschrieben hat, nimmt uns in diesem Gespräch mit hinein in das Denken Pascals.

Interviewt wird er unter anderem von Carl Trueman: 

 

[#ad]

Nietzsche – kein guter politischer Lehrmeister

Pete Nicholas warnt vor einer Politik, die einzig auf Macht ausgerichtet ist – und stellt dieser ein augustinisches Konzept gegenüber:

Nietzsche lehrte eine Hermeneutik (Weltanschauung), die von der Macht ausgeht: „Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper darnach strebt, über den ganze Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen (— sein Wille zur Macht:) und Alles das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt“ (eKGWB/NF-1888,14[186] —Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888).

Die politische Linke sieht die Welt zunehmend auf diese Weise. Sie ist sehr darauf bedacht, Machtungleichgewichte auszugleichen und die Freiheit zu fördern, indem sie gesellschaftliche Gruppen, denen es an Macht mangelt, von entsprechenden Hindernissen befreit. Diese Ziele mögen bewundernswert sein, aber daneben sind Theorien entstanden, die in der Philosophie von Nietzsche und Marx verankert sind und die Menschen durch die Schnittpunkte der Macht betrachten und für eine Umkehrung der gesellschaftlichen Machtdynamik eintreten.

Die politische Rechte mag sich zwar in Opposition zu einem solchen Ansatz sehen, doch der Aufstieg des Populismus spricht dagegen. Für Nietzsche war die Verkörperung des Willens zur Macht der Übermensch, der die Ideale verkörperte, die wir heute in populistischen Führern wiederfinden.

Der Populismus stellt „das Volk“ (Populus) als geschwächt durch korrupte Mächte – „Eliten“ an der Spitze der Gesellschaft – und durch diejenigen dar, die von außen in das Volk eindringen. Komplexe gesellschaftliche Probleme werden in der Regel auf dieses Narrativ von Korruption und Schwächung reduziert, wobei der Übermensch die einzige Person ist, die „sagt, wie es ist“, und anbietet, die Dinge zu bereinigen und die Stärke des Volkes wiederherzustellen. Wenn Dir das bekannt vorkommt, dann ist das der Punkt.

Selbst wenn es einen gewissen Erklärungswert hat, kann die Betrachtung der Dinge durch die Brille der Macht keinen konstruktiven Weg nach vorne aufzeigen. Macht reduziert alles auf ein Nullsummenspiel. Wir täten gut daran, über die blutigen Regime des 20. Jahrhunderts nachzudenken, die, ob sie nun von Nietzsche oder Marx gestützt wurden, die Welt auf diese Weise sahen.

Wir täten gut daran, Augustins Warnung und Ermahnung zu beherzigen (ich zitiere ohne Auslasssungen aus De Civitate Dei, XII,1):

„Denn die einen verharren standhaft bei dem allen gemeinsamen Gut, das für sie Gott selber ist, und bei seiner Ewigkeit, Wahrheit und Liebe; die andern, von ihrer eigenen Macht berauscht, fielen, als könnten sie ihr eigenes Gut sein, von dem höheren, allen gemeinsamen, beseligenden Gute auf sich selbst zurück, tauschten dünkelhafte Selbstüberhebung ein für die hoch erhabene Ewigkeit, nichtsnutzige Schlauheit für gewisseste Wahrheit, parteiische für allgemeine Liebe und wurden hochmütig, trügerisch, neidisch. Gott anhangen, das ist für die einen Grund der Seligkeit, so ergibt sich als Grund der Unseligkeit der anderen das Gegenteil: Gott nicht anhangen.“

Mehr: www.thegospelcoalition.org.

Postkolonialismus an Universitäten

Eine angesehene Londoner Hochschule will die Philosophie „dekolonisieren“. Die Deutsche Gesellschaft für Philosophie springt auf den Zug auf und möchte den Kanon von weißen, männlichen Denkern säubern.

Was sich als bloße Empfehlung tarnt, dürfte bald zur Waffe gegen Andersdenkende werden. Hier ein CICERO-Beitrag von Wissenschaftsphilosophen zu dieser Entwicklung:

So was kommt von so was: An der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS, London), das zum Hochschulverbund der University of London gehört, wurde vor einigen Tagen ein „Decolonising Philosophy Toolkit“ (DPT) veröffentlicht. Es ist eine Anleitung zu dem Projekt, philosophisches Forschen und Lehren und insbesondere auch philosophische Curricula zu „dekolonisieren“, also von den behaupteten Vorurteilen und kolonialistisch-rassistischen Strukturen westlich-weißer Philosophie zu befreien. 

In dieser Anleitung wird exemplarisch einem „Traditional-cum-Colonial“-Modul zur Erkenntnistheorie ein dekolonisiertes Modul gegenübergestellt. Während der klassische Semesterplan ganz herkömmlich etwa Platon, Russell, Hume, Descartes und neuere analytische Personen und Positionen enthält (z.B. Internalismus vs. Externalismus), sind im dekolonisierten Semesterplan diese, wie es heißt, „westlichen“, „weißen“, „bourgeoisen“, „heteronormativen“ und „eurozentrischen“ Personen und Positionen fast komplett getilgt; stattdessen geht es fast ausschließlich um Philosophie afrikanischer, asiatischer oder auch indigener Herkunft und spezifisch etwa um „Decolonising the Mind“, „Constructing the Epistemologies of the Global South“, um „Conceptualising Epistemic Oppression“, um „On Being White“ oder auch um „Children of the Palms: Growing Plants and Growing People in a Papuan Plantationocene“. Fast könnte man bei der Lektüre meinen, es wäre eine Satire.

Zwar heißt es in dem Toolkit, es gehe um ein dialogisches Model, in dem keine Kultur eine privilegierte Position habe; aber die reale Ausführung beweist die tatsächliche Absicht. Sie wollen nicht die Macht teilen, wie sie sagen, sie wollen sie haben. Umso grotesker ist, dass der Toolkit die Annahme, Postkolonialisten wollen doch nur Platon & Co. aus den Curricula verbannen, als Zerrbild darstellen; denn der vorgeschlagene dekolonisierte Semesterplan straft sie Lügen. Selbst wenn man nun einräumen würde, dass Philosophien dieser Herkunft und dieses Typs die Bezeichnung als „Philosophie“ wirklich verdienen und methodischen Ansprüchen wirklich genügen, kann die Vorgehensweise offenkundig nicht darin bestehen, die westliche Philosophie (von den Vorsokratikern bis zur Gegenwart) einfach komplett zu tilgen. 

Mehr: www.cicero.de.

Die Leugnung der menschlichen Natur

Der Schweizer Wissenschaftsjournalist Reto U. Schneider geht in der NZZ der Frage nach, warum natürliche Vorgaben für die menschliche Natur heute unter Generalverdach stehen. Die Kernfrage lautet: 

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der unterschiedlichen Anatomie der Geschlechter und ihren Neigungen, ihrem Verhalten, ihrem Wesen? Wie die Antwort darauf ausfällt, war selten wichtiger als heute. Falls es diesen Zusammenhang nicht gibt, falls sich das Denken, Fühlen und Handeln von Männern und Frauen also in ihrem Kern durch nichts systematisch unterscheidet, würden die Bezeichnungen Mann und Frau in einer gleichberechtigten Gesellschaft an Bedeutung verlieren. Es blieben bloss noch einige anatomische Differenzen im Körperbau und der Reproduktion.

Falls aber die meisten Menschen mit einer typisch männlichen oder weiblichen Innenwelt geboren werden, müssen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik dem Rechnung tragen. Genauso wie die Medizin heute bei Prävention, Diagnose und Behandlung berücksichtigt, dass ein Frauenkörper sich von einem Männerkörper durch vieles mehr unterscheidet als bloss durch die äusseren Geschlechtsorgane.

Diejenigen, die wie Judith Butler ganz auf die soziale Konstruktion setzen, haben meines Erachtens eine enorme Bringschuld, da bisher vorgetragene Argumente nicht überzeugen. Vertreter der Position, nach der es essenzielle Unterschiede (nicht Unterschiede im Wert) zwischen Mann und Frau gibt, haben hingegen gute Gründe, aus der Defensive herauszutreten. 

Mehr: www.nzz.ch.

Der Diskurs der Philosophie

Guido Kalberer hat das frisch erschienene Der Diskurs der Philosophie (#ad) von Michel Foucault gelesen und zieht ein nüchternes Fazit:

Heute müsse der Philosoph, so Foucault, die Gegenwart im Sinne Nietzsches diagnostizieren. Er muss quasi ein Arzt der Kultur sein, allerdings befreit von der Pflicht, sie heilen zu müssen. «Er ist ein Vorübergehender, der dem Vorübergehen näher ist als jeder andere.» Der Philosoph sage, was ist und geschieht. Er mache sichtbar, was eigentlich wahrnehmbar sein müsste, aber so eng mit uns verbunden sei, dass wir es übersähen. Philosophie holt laut Foucault das Ungesagte in die Sprache und richtet ihr Augenmerk auf das Ereignis, nicht das Ewige.

Mit seiner Kritik an der normierenden Kraft der herrschenden Machtdiskurse, etwa in «Überwachen und Strafen», und seiner Neugier an dem, was an den Rändern der etablierten Disziplinen geschieht, findet Michel Foucault heute wieder Gehör. Vor allem in Kreisen, die sich als divers verstehen und Zuschreibungen von eindeutigen Identitäten ablehnen.

Davon abgesehen muss man allerdings feststellen, dass seine Diskursphilosophie an Bedeutung und Einfluss verloren hat. Auch an den Akademien ist es ruhig geworden um sie: In den Sozial- und Geisteswissenschaften, zumindest hierzulande, wird sein Werk weniger rezipiert und diskutiert als etwa jenes von Niklas Luhmann oder Jürgen Habermas, aber auch als jenes von Pierre Bourdieu, der Foucaults Auffassung von Geschichte und Kultur einmal als «abstrakt und idealistisch» kritisierte. Daran wird auch «Der Diskurs der Philosophie» nichts ändern.

Sehe ich auch so. Es ist wirklich an der Zeit, Foucaults Wahnsinn zu überwinden. 

Die Entweihung des Menschen

Soziologen und Philosophen haben versucht, mit markanten Begriffen charakteristische Eigenschaften der Moderne bzw. Spätmoderne zu beschreiben. Sehr bekannt geworden sind „Entzauberung“ (Max Weber -> Moderne) und „Verflüssigung“ oder „Liquidität“ (Zygmunt Bauman -> Spätmoderne). Carl Trueman, Redner auf der E21-Hauptkonferenz im Juni (vgl. hier), fügt diesen beiden Kategorien noch eine dritte hinzu: die „Entweihung“.

Trueman schreibt:

Die Abschaffung des Menschen, wie Lewis sie beschreibt, findet vor dem Hintergrund zweier Aspekte der Moderne statt: der Entzauberung und der sich beschleunigenden Liquidität. Allerdings, so meine ich, ist für ein angemessenes Verständnis unserer Zeit eine dritte Kategorie hinzuzufügen: die der Entweihung. Der Mensch ist erschaffen nach dem Bild Gottes. Das macht die Abschaffung des Menschen zu einem theologischen Akt mit theologischen Konsequenzen. Für sich genommen bringen weder Entzauberung noch Liquidität diesen Aspekt des Problems angemessen zum Ausdruck, das theologische Konzept der Entweihung hingegen schon.

Das wird uns klarer, wenn wir über die erklärungsschematischen Grenzen von Entzauberung und Liquidität nachdenken. Die erste besteht darin, dass diese Konzepte nur auf den Verlust von etwas hinweisen, was einmal war. Entzauberung verweist auf den Verlust von Verzauberung. Während einst das Übernatürliche das Natürliche durchdrang und das Transzendente die Bedingungen für das Immanente festlegte, bleiben heute nur noch das Natürliche und das Immanente übrig. Ähnlich verhält es sich mit der Liquidität: Wir haben nicht mehr, wie Marx es ausdrückt, ständische und stehende Verhältnisse. Alles richtig – aber der Zustand der Moderne beschränkt sich nicht, wie wir sehen werden, auf diese Verluste.

Das zweite Problem ist, dass Entzauberung und Liquidität einen Mangel an menschlichem Handlungsvermögen suggerieren. Beide sind das Ergebnis unpersönlicher sozialer Prozesse: Industrialisierung, Bürokratisierung, Technologisierung, Globalisierung. Verbunden mit diesen Prozessen ist die Verdinglichung der Phänomene, auf die sie sich beziehen, im allgemeinen Sprachgebrauch: Industrie, Bürokratie, Technologie, die globale Wirtschaft. Jedes dieser Phänomene nimmt in unserem Denken ein Eigenleben an; in diesen Prozessen treten wir Menschen als austauschbare Objekte auf, nicht als aktive Subjekte oder Personen. Doch die Prozesse selbst sind das Ergebnis menschlichen Handelns. Wenn wir zu Rädchen in der Maschine geworden sind, dann deshalb, weil wir die Maschine gebaut haben.

Darüber hinaus dürfen wir den Einfluss und das Wirken kultureller Eliten – der Rechts-, Bildungs-, Technologie-, Kunst-, Manager- und politischen Klassen – nicht außer Acht lassen. In der Vergangenheit sahen sich diese Eliten mit der Aufgabe betraut, Kontinuität zu garantieren; das geschah durch die Wertevermittlung von Generation zu Generation und die sorgfältige Pflege der für diese Aufgabe notwendigen Institutionen und sozialen Praktiken. Heute ist der vorherrschende Impuls unserer Eliten Zerrüttung, Zerstörung und Zerstückelung. Die Abschaffung des Menschen ist ein bewusstes Projekt der Offiziersklasse unserer Kultur, nicht einfach nur das Ergebnis unpersönlicher sozialer und technologischer Kräfte. Für sich genommen, reichen die Kategorien der Entzauberung und Liquidität nicht aus, um dieses Projekt angemessen zu verstehen.

Das dritte Problem besteht darin, dass weder Entzauberung noch Liquidität die theologische Signifikanz der Veränderungen berücksichtigt, die die Moderne in Bezug auf das Verständnis des Menschseins mit sich gebracht hat. Man muss kein Christ (und nicht einmal Theist) sein, um zu begreifen, dass diese Transformationen theologisch bedeutsam sind. Sowohl bei Marx als auch bei Nietzsche ist „Entweihung“ ein Teil ihres Verständnisses der modernen Welt. In derselben Passage des Kommunistischen Manifests, in der verkündet wird, dass alles Stehende verdampft, wird erklärt, dass alles Heilige entweiht wird. Und Nietzsches „toller Mensch“ macht sehr deutlich, dass Gott nicht nur in der moralischen Vorstellung aufgehört hat zu existieren, sondern tot ist – mehr noch, dass wir ihn getötet haben. Diese Tötung Gottes ist sicherlich der ultimative Akt aktiver Entweihung.

Sowohl Nietzsche als auch Marx bewerten diese Entweihung positiv. Für Marx ist Religion ein Opiat, das das Proletariat daran hindert, den vollen Schmerz zu spüren, den der Kapitalismus verursacht. Religionskritik ist daher von zentraler Bedeutung für das revolutionäre Projekt. Entweihung ist eine Voraussetzung für die Verwirklichung der kommunistischen Utopie. Für Nietzsche ist der Tod Gottes, auch wenn er eine erschreckende Verantwortung auf die Schultern der Menschen legt, eine notwendige Voraussetzung für die Selbsttranszendenz des Menschen. Die Frage ist nur, ob wir dieser Aufgabe gewachsen sind.

Mehr: www.evangelium21.net.

[#ad]

Immanuel Kant wurde vor 300 Jahren geboren

Kant gemaelde 3.

Wie verhalten sich Glaube und Vernunft zueinander? Vor der so genannten Aufklärung wurden sie selten als Gegensätze gesehen. Seit Beginn dieser Bewegung im 17. Jahrhundert wurde der Glaube zunehmend durch die Vernunft in seine Schranken verwiesen. Einen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung unter dem Einfluss des Königsberger Philosophen Immanuel Kant, der vor 300 Jahren geboren wurde. Seine Philosophie hat die Theologie der Neuzeit entscheidend geprägt. Das Jubiläum bietet eine Gelegenheit, sich mit den Sichtweisen des vielleicht einflussreichsten Philosophen der Moderne vertraut zu machen.

Hier ein Auszug aus einem Artikel, der bei Evangelium21 erschienen ist:

Wie stand Kant nun zu Glaubensfragen und Religion? In seiner religionsphilosophischen Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, die als Buch 1793 erschien (2. Aufl. 1794), präsentiert Immanuel Kant seine Sicht auf eine auf Vernunft beruhende Religion. Er erteilt darin der mittelalterlichen Metaphysik und Theologie eine Absage, weil sie Dinge verhandelt, die jenseits unserer Erfahrung liegen und damit nicht Gegenstand des wirklichen Wissens sein können. Trotzdem wollte er die metaphysischen Fragen nicht einfach wegwischen, denn: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“ (KrV A VII).

Vernünftige Philosophie muss seiner Meinung nach die Idee eines Gottes zulassen, damit das Streben nach höchstem Glück und das moralische Handeln zusammengehalten werden. Diese Einheit lässt sich zwar nicht mehr unabhängig von der menschlichen Vernunft denken (wie früher in der Metaphysik angenommen), ist aber immer noch eine Idee, die uns vor aller Erfahrung in der Vernunft notwendig gegeben ist und die Einheit der Welt verbürgt. Kant verjagte also die Religion aus dem Bereich des Wissens in den Raum der praktischen Vernunft. Gott ist nur noch Gegenstand des vernünftigen Hoffens. Kant wollte „das Wissen aufheben, um zu Glauben Platz zu bekommen“ (KrV B XXX).

Seine Religionsschrift setzt seine drei kritischen Werke voraus. Allerdings wird er in einigen Punkten unmissverständlicher und setzt sich direkt mit dogmatischen und praktischen Fragen des christlichen Glaubens auseinander. Kant erörtert übernatürliche Offenbarungen, geht auf die Erbsünde ein, diskutiert Christologie, Rechtfertigungs- und Gnadenlehre sowie die letzten Dinge (auch Eschatologie genannt). Freilich interpretiert er all diese Themen aus der Perspektive seiner Vernunftreligion. Die Glaubensaussagen, die sich etwa in großen Bekenntnistexten oder Katechismen finden, werden neu ausgelegt. Jüdische Elemente, die in der Bibel enthalten sind, werden herausgefiltert. Die Trinitätslehre lehnt Kant ab. Jesus ist keine göttliche Person, sondern personifizierte Idee des guten Prinzips. Die Gnadentheologie und der Sühnegedanke bereiten ihm größte Schwierigkeiten. „Das Beten, als ein innerer förmlicher Gottesdienst und darum als Gnadenmittel gedacht, ist ein abergläubischer Wahn (ein Fetischmachen)“ (Religion B302). Das „Pfaffentum“ ist eine Form des Afterdienstes (Religion B270 ff.). Wenn es Wunder gäbe, führt Kant aus, wäre unsere Vernunft sowohl in praktischer wie in theoretischer Hinsicht unbrauchbar (vgl. KrV B 122–124). Die biblischen Geschichten werden von ihrer „mystischen Hülle entkleidet“, die den Vorstellungen alter Kulturen geschuldet ist, um schließlich ihren Vernunftsinn für alle Welt und alle Zeiten offenzulegen (Religion B 114). Das Reich Gottes ist irdisch gedacht als das Reich der Sinne und des Verstandes, – ein moralisches Reich, in dem Menschen ihre Pflichten erkennen (vgl. KrV, B 142).

Mehr: www.evangelium21.net. Etwas ausführlicher an dieser Stelle: mbstexte198_phil_anstoesse_deu.pdf.

Nach oben scrollen
DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner