Ich bin etwas überrascht, dass mein kurzer Beitrag zu Matthew Barrett so viel Aufmerksamkeit erhält. Zugleich bin ich erfreut, dass sich so viele Leute mit dem Thema „Kontinuität der Reformation“ beschäftigen.
Ergänzend zu meinen vorsichtig kritischen Anmerkungen zu Barretts Sicht auf die Reformation möchte ich daher noch auf einen Vortrag von Peter Opitz hinweisen, in dem er Barretts The Reformation as Renewal: Retrieving the One, Holy, Catholic, and Apostolic Church beleuchtet.
Opitz, einer der besten Kenner der Schweizerischen Reformation, ist davon überzeugt, dass Barrett im Umgang mit den historischen Quellen sehr interessengeleitet gearbeitet hat.
Hier der Vortrag: “Reformation As Renewal:” Recatholicizing The Reformers By Manipulating Their Message? von Peter Opitz.
Ich habe das Buch von Barrett nicht gelesen und die Rezension von Opitz nur kursorisch. Aber mir fällt spontan ein, dass Bullinger dem 2. Helvetischen Bekenntnis einen Auszug aus dem Codex Iustiniani Imperatoris und das Bekenntnis des Damasus voranstellt, um so die Katholizität der Schweizer Kirche zu erweisen.
Es heißt dann im Anschluss: „Da wir aber alle diesem Glauben und dieser Religion zustimmen, hoffen wir, daß wir von allen nicht für Irrlehrer, sondern für Katholische und Christen gehalten werden.“ Und schon auf dem Deckblatt steht, das 2. Helvetische Bekenntnis sei verfasst, um „allen Gläubigen zu bezeugen, daß sie in der Einheit der wahren und alten Kirche Christi stehen“. Freilich geht es dabei um altkirchliche Katholizität im Sinne trinitarischer und christologischer Rechtgläubigkeit, nicht um Zustimmung zu den späteren römischen Neuerungen und Irrlehren. Aber das passt ja durchaus zum „Retrieval“-Ansatz. Oder irre ich mich da?
@T.C. Danke für den Hinweis. Mir liegt es fern, zu sagen, der „Retrieval“-Ansatz liegt völlig falsch. Ich denke allerdings, dass für die Stärkung dieses Ansatzes eine sorgfältige historische und exegetische Arbeit nötig ist und die Gefahr der selektiven Projektion (ich sehe, was ich sehen will) groß ist.
Liebe Grüße, Ron
Wenn seine Ansichten und Forschung offensichtlich interessengleitet sind, wie kommt es, dass bspw. Gavin Ortlund dies als das beste Buch der Reformation betitelt?
@Denni
Weil Gavin Ortlund ein Buch mit dem Titel „Theological Retrieval for Evangelicals“ geschrieben hat. 😉 Deshalb ist das eben so eine Sache mit den „endorsements“. Natürlich wird ein Swain, Allen oder Carter das Buch in den höchsten Tönen loben. Und das sind alles intelligentere Leute, als ich es war, bin oder jemals sein werde. Sie haben eben ein bestimmtes Vorverständnis, nämlich, dass ihre Sicht wahr ist und neigen dann dazu, alles in Einklang damit zu bringen.
Danke übrigens Ron, für den Artikel on Opitz. Du kommst auf Artikel, die ich wohl nie finden würde. Sehr erhellend.
Liebe Grüße
Schlotti
@Schlotti
das ist aus meiner Sicht eine anmaßende Vermutung.
@D. W. Was bitte schön ist an meiner Aussage anmaßend? Die Leute, die von „theological retrieval“ überzeugt sind, schreiben Empfehlungen für Bücher von Autoren, die genau diese Position vertreten. Diejenigen, die einen anderen Ansatz vertreten, werden solche Bücher kaum empfehlen, empfehlen aber ihrerseits Bücher, die aus ihrer Richtung kommen. Das ist nicht anmaßend, sondern schlicht eine Tatsache. Im Buch von Barrett wirst du keine „endorsements“ von Frame oder Poythress finden. In dem Buch the „The Mystery of the Trinity“ von Poythress, findest du endorsements von ewa Carson, Grudem usw. Aber keine von Ortlund, Trueman, Swain, Allen oder Carter. So scheinen nun einmal die Empfehlungen zu funktionieren. Die Leute empfehlen Bücher, die mit ihren Anschauungen übereinstimmen. Auf beiden Seiten. Nochmal: Was soll an so einer Feststellung anmaßend sein? Das bedeutet dann ja nicht, dass man von der „Gegenseite“ nichts lernen kann oder alles was sie schreiben falsch ist. Obwohl ich dem Ansatz des Retrieval kritisch gegenüberstehe, sage ich nochmal, dass es… Weiterlesen »
@D. W.
Kleiner Nachtrag: Wahrscheinlich müssen wir alle bereit sein zuzugeben, dass wir mit Vorverständnissen an Themen herangehen. Vorverständnisse, die dann dazu führen können, dass wir Bibeltexte oder historische Ereignisse so auslegen, dass sie zu unserem Verständnis passen. Das darf dann aber nicht zum Relativismus führen.
Der Artikel, den Ron von Opitz verlinkt hat, scheint zu bestätigen, dass es zumindest unter Forschern die Meinung gibt, dass Barrett die Daten seinem Verständnis gemäß interpretiert. In diesem Fall zumindest, wenn es um Zwingli geht. Auch hier würde ich jetzt Opitz nicht Anmaßung unterstellen. Funktioniert so nicht ein wirklicher Austausch? Eine These wird aufgestellt (Barrett), dieser wird in Teilen widersprochen (Opitz), der Barrett „vorwirft“, Zwingli häufig (nicht immer!) durch seine Brille zu lesen und zu verstehen.
Ich mag übrigens Gavin Ortlund und seine hilfreichen Videos, von denen ich schon sehr viel gelernt habe. Sein Buch über theologische Triage finde ich sehr gut und hilfreich.
Liebe Grüße
Schlotti
@Schlotti
Tut mir leid. Ich dachte, du wolltest sagen, dass alle von denen interessengeleitet sind.
Aber einen anderen Ansatz zu verfolgen oder eine andere Interpretation von Dingen ist etwas anderes als zu sagen, dass er interessengeleitet ist. Aber wenn es bloß um verschiedene Deutungen geht, dann verstehe ich, wenn nur die mit gleicher Meinung Empfehlungen schreiben.
Ich habe das Buch von Barrett nicht gelesen, aber bin interessiert an dem Buch von Gavin Ortlund. Aber beschreibt „retrieval“ einen Ansatz, den andere Theologen (bspw. Carson usw.) ablehnen würden? Für mich wäre das auf dem ersten Blick in dieser Thematik ein normaler und passender Buchtitel.
In Verbindung dazu finde ich noch interessant, dass Ortlund überzeugter Protestant ist und Barrett in seinem Statement auch davon entfernt hat (wenn ich mich recht erinnere).
Ortlunds Buch und Videos finde ich auch gut. Finde nur seine Anwendungen, insbesondere bei Katholiken, nicht immer nachvollziehbar.
@ D.W. Die ganze Retrieval Geschichte ist unglaublich verzweigt und vielschichtig. Ron könnte das Anliegen sicherlich viel besser und ausgewogener darstellen, als ich. Das Anliegen besteht darin, die Schätze der Vergangenheit (Great Tradition) für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Mehr noch, sieht man darin die einzige Chance für das Christentum unserer Zeit. Dabei spielt das Verständnis Gottes (classical theism) eine besondere Rolle, wie es in den frühchristlichen Bekenntnissen formuliert wurde. Gottes Trinität, aber auch seine Eigenschaften, wie Einfachheit, Unwandelbarkeit usw. Es geht aber nicht nur um den Inhalt (der Bekenntnisse), sondern auch die Art und Vorgehensweise. D. h. wie sie formuliert wurden. Deshalb hegen viele Anhänger des Retrieval große Wertschätzung für Thomas von Aquin. Ihnen ist präzise Formulierung, auch philosophisch wichtig. Die Gefahr (jetzt kommt meine Interpretation) besteht darin, dass nicht nur der Inhalt der Bekenntnisse, sondern auch deren Ausdrucksweise absolut gesetzt wird. Sie bestimmt bzw. bestimmen was eine orthodoxe Sicht Gottes ist und ausmacht. Carson z. B. hegt auch… Weiterlesen »
Entschuldigung, nochmal ein Nachtrag, damit es zu keinen Missverständnissen kommt.
Poythress würde natürlich nie die Sohnschaft Jesu (weil er von der Angemessenheit alltäglicher Sprache ausgeht) so verstehen, dass Jesus Gottes Sohn in der Art ist, wie ich der Sohn meines Vaters! Erist durch und durch Trinitarier. Es geht ihm vor allem darum, dass die Bibel uns hilft zu verstehen, dass man auch in alltäglicher Sprache über Gott reden kann und vor allem sein Wesen so zuverlässig beschreiben kann. Nicht „nur“ durch philosophische Begriffe. Es ist halt nich einfach das Argument eines 700 Seiten Buches, in einem Kommentar angemessen darzustellen.
Allgemein bin ich der Meinung, dass es häufiger um unterschiedliche Ausdrucksformen bzw. Gewichtungen geht, anstatt dass die Vertreter völlig unterschiedliche Gottesbilder haben und vertreten. Das sehen einige Retrieval Vertreter allerdings anders. Für sie ist es eine Frage der Orthodoxie.
Nochmals liebe Grüße
Schlotti
„Das Anliegen besteht darin, die Schätze der Vergangenheit (Great Tradition) für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Mehr noch, sieht man darin die einzige Chance für das Christentum unserer Zeit.“ Da bin ich gerade selbst „betroffen“ – anders gesagt, unser engagierter Jungpfarrer ist Lutheraner durch und durch. Das betrifft Gottesdienstformen, Sakramentsverständnis (da mögen wir in Details nicht kompatibel sein, aber die trennen uns auch nicht), Bibelverständnis (soweit es keine besseren Erkenntnisse als zu Zeiten Luthers gibt), … Er kann auch recht überzeugend argumentieren, warum die Lutherische Kirche die wahre katholische = allgemeine Kirche sei. Soviel zur Überschrift „Die Reformatoren durch Manipulation ihrer Botschaft rekatholisieren?“ – nein, darum geht es nicht, das Selbstverständnis ist schon „Wir sind die allgemeine Kirche, wir sind katholisch, aber nicht römisch-katholisch“. Das Christentum unserer Zeit (ich lamentiere leider oft darüber) sieht so aus, dass von den evangelischen Kirchensteuerzahlern ungefähr knapp 2% noch aktiv sind, die übrigen 98% haben ein wie auch immer geartetes Jesus-Bild, oder bleiben Kirchenmitglied,… Weiterlesen »