Karl Barth forderte im Rahmen seiner theologischen Wende ein neues Hören auf das Wort Gottes. Die von ihm angestoßene Wort-Gottes-Theologie sah den eigentlichen Auftrag des Theologen darin, Gottes Wort zu hören und es zu verkündigen. In der ersten Auflage seines „Römerbriefs“ bekannte er eindrücklich, dass es ihm darauf ankommt, durch das Historische hindurch den Geist der Bibel zu erkennen (Vorwort zu ersten Auflage, Der Römerbrief 1922, 1984, S. V):
Die historisch-kritische Methode der Bibelforschung hat ihr Recht: sie weist auf eine Vorbereitung des Verständnisses, die nirgends überflüssig ist. Aber wenn ich wählen müßte zwischen ihr und der alten Inspirationslehre, ich würde entschlossen zu der letzten greifen: sie hat das größere, tiefere, wichtigere Recht, weil sie auf die Arbeit des Verstehens selbst hinweist, ohne die alle Zurüstung wertlos ist. Ich bin froh nicht wählen zu müssen zwischen beiden. Aber meine ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, durch das Historische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist ist.
Vierzig Jahre später schrieb Barth über seine Abkehr von der liberalen Theologie: „Irre geworden an ihrem Ethos [gemeint ist die sittliche Gesinnung seiner Lehrer, R. K.], bemerkte ich, daß ich auch ihrer Ethik und Dogmatik, ihrer Bibelauslegung und Geschichtsdarstellung nicht mehr werde folgen können, daß die Theologie des 19. Jahrhunderts jedenfalls für mich keine Zukunft mehr hatte.“
Barth brach mit der Tradition seiner Lehrer. Der Ehrfurcht vor der Geschichte, charakteristisch für die Theologie des 19. Jahrhunderts, stellte er die Ehrfurcht vor dem Wort Gottes gegenüber. Das religiöse Bewusstsein wurde ersetzt durch die göttliche Offenbarung. Statt beim Menschen und seinem Reden und Denken über Gott anzuknüpfen, setzt Barth bei Gott und seinem Reden und Denken über die Menschen an. Er schrieb (Das Wort Gottes und die Theologie, 1925, S. 18):
Den Inhalt der Bibel bilden gar nicht Menschengedanken über Gott, sondern die rechten Gottesgedanken über den Menschen. Nicht wie wir von Gott reden sollen, steht in der Bibel, sondern was er zu uns sagt, nicht wie wir den Weg zu ihm finden, sondern wie er den Weg zu uns gesucht und gefunden hat … Das steht in der Bibel. Das Wort Gottes steht in der Bibel.
Hat diese Rückkehr zum Wort Gottes zu einer nachhaltigen Erneuerung der Theologie geführt? Wurde die kirchliche Verkündigung durch das Vertrauen auf die Offenbarung zu neuem Leben erweckt?
Für Karl Barth oder Emil Brunner war es ausgeschlossen, hinter die Einsichten der historischen Geschichtsauffassung zurückzugehen. Für sie ist die Bibel nicht die uns von Gott anvertraute Offenbarung, sondern lediglich das Zeugnis der Offenbarung. Zeugen sind wichtig. Zeugen irren aber auch. Und so wurde der Graben zwischen kritischer Bibelauslegung und Dogmatik sowie Dogmatik und Verkündigung nicht überbrückt.
Pastor Wilhelm Jannasch (1888–1966) hat in seinem Aufsatz „Karl Barth und die Praktische Theologie“ (Theologische Literaturzeitschrift, 75. Jg., Nr. 1, Januar 1951, S. 2–16, hier S. 4–5) sehr gut herausgearbeitet, wie die Entkoppelung von Geschichte und Offenbarung die damals junge Theologengeneration massiv belastet hat. Jannasch schrieb über eine ihm zugegangene Barthsche Auslegung von Matthäus 28,16–20.
Es sieht zunächst so aus, als ob Barth tatsächlich dem kritisch erzogenen Theologen weit entgegenkäme. Gehört der behandelte Matthäustext auch in das neutestamentliche Zeugnis „vom Geschehen der vierzig Tage nach Ostern“ (S. 5), so ist nach Barth doch dieses Zeugnis so lückenhaft und widerspruchsvoll, daß es unmöglich ist, „eine Historie in unserem Sinne des Begriffs herauszuschälen“. Auch Matthäus redet nach Barth, „im Stil geschichtlicher Sage“, „ähnlich wie etwa die Schöpfungsgeschichte“ (S. 7). – „Ungefähr sagt das“ in diesem Falle der Neutestamentler auch; und der Student oder angehende Vikar, der solches bei dem Dogmatiker B. liest, wird vielleicht zunächst beglückt aufatmen und hoffen, daß die böse Kluft zwischen kritischer Auslegung und systematischer Besinnung hier überbrückt sei. Aber bei näherem Zusehen zeigt sich, daß Barths kritische Voraussetzungen einem negativen Vorzeichen vor einer eingeklammerten komplexen Größe gleichen, auf das wider alle Regeln bei der Rechnung keine Rücksicht genommen wird. Die so unwidersprechliche Feststellung, daß die österlichen Texte sich nicht harmonisieren lassen, bleibt im Grunde unbeachtet; es entsteht doch eine Art Geschichte der vierzig Tage nach Ostern, die nach Barths vorausgegangenen Erklärungen nicht entstehen dürfte, kurz, der Dogmatiker treibt schließlich lediglich seine eigene Exegese, statt dem Manne der kirchlichen Praxis wenigstens durch ein wirkliches Ernstnehmen der fachlichen Exegese von heut, die in Barths Meditation wohl zitiert, aber nicht eigentlich diskutiert wird, über den fatalen Eindruck hinwegzuhelfen, daß Dogmatiker und Neutestamentler zweierlei Neues Testament vor sich haben.
Dieser Eindruck aber bedeutet nach meiner Erkenntnis eine der schwersten Belastungen unserer jungen Theologengeneration, die entweder unter Ablehnung jeder Dogmatik, bewaffnet lediglich mit einer mehr oder minder einseitigen und kritischen Exegese, an ihre praktischen Aufgaben herangeht, oder die umgekehrt nach ihrer Dogmatik die Exegese reguliert. Das, was die Theologie und die jungen Theologen insonderheit brauchen, ist eine unermüdliche Erörterung dessen, was Barth in unserer Schrift auf den Seiten 6 und besonders 7 (unter 2) gegenüber einer bestimmten Form der neutestamentlichen Exegese in verhältnismäßiger Kürze und sehr viel eingehender in seiner Kirchl. Dogmatik (III, 2, Seite 531 ff.) gegen Bultmann speziell über den biblischen Sinn des Osterereignisses ausgeführt hat. Ich möchte es fast für glücklich halten, daß es an unserer Stelle ohne das Stichwort „Entmythologisierung“ geschieht; so wird deutlich, daß es sich letztlich bei dem heutigen Dissensus in Sachen der neutestamentliehen Exegese um die Frage dreht, ob das Geschehen, das im neutestamentlichen Kerygma vorausgesetzt ist, für uns mehr oder minder belanglos bleibt, weil die Deutung der alten Gemeinde im Vordergründe steht, oder ob vielmehr dies Geschehen selber so entscheidend ist, daß auch der Glaube der späteren Gemeinde von ihm begründet und geformt wird, so daß die Einmaligkeit dieses wirklichen Geschehens (S. 6) auch für die heutige Verkündigung in der Gemeinde gar nicht stark genug betont werden kann.