Carl Trueman stellt in seinem Buch The Rise and Triumph of the Modern Self, das übrigens noch in diesem Jahr in deutscher Sprache erscheinen soll, die These auf, dass wir in einer Zeit leben, in der ein inneres Selbst, dass sich von äußerlichen Vorgaben – etwa durch den Leib – emanzipiert hat, darüber entscheidet, wer der Mensch ist. Der psychologische Mensch entdeckt nicht, wer er ist, er kann entscheiden, wer er ist. Ihm werden durch Geschlechtermerkmale, Gene oder kulturelle Eigenheiten keine Grenzen mehr gesetzt. Ein Sprechakt genügt.
Ein FAZ-Beitrag vom 19. April 2022 illustriert passend, wie sich dieses psychologische Selbst im realen Leben „so schlägt“ und wohin die Reise geht. Der Soziologe Stefan Hirschauer fragt in seinem Aufsatz „Geschlechter in Auflösung“, wie lange wir denn dieses innere wahre Geschlecht eigentlich noch brauchen. Kurz: Warum soll man Frauen und Männer, die man in fast allem Wesentlichen für gleich hält, ein Leben lang unterscheiden? Diese Mystifikation ist doch längst überholt.
Die Geschlechtszugehörigkeit war in Europa lange eine primär soziale Kategorie, eine Art Stand, der erst im neunzehnten Jahrhundert auf den Körper gegründet wurde. Diese Biologisierung wurde seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts schrittweise abgelöst von einer (heute hegemonialen) psychischen Essenzialisierung, die das Geschlecht wie eine Art religiöses Bekenntnis rahmt. Die vorgebliche Felsenhaftigkeit der geschlechtlichen Selbstverständnisse wuchs dabei in Konkurrenz zur ebenso unabweisbaren Faktizität des körperlichen Geschlechts. Geschlechtswechsler und Nicht-Binäre zogen sich vor der objektivierenden Geschlechtsbestimmungsautorität der Biologie in sich selbst zurück.
Offen ist, wie weit sich diese Subjektivierung treiben lässt. In der „taz“ äußerte sich 2016 ein Transmann, der nicht nur (wie die Abgeordnete Ganserer) auf Operationen und amtliche Umbenennung, sondern auch auf jede Darstellung des Mannseins verzichten wollte, dieses also allein aufgrund seines Selbsterlebens reklamierte. Einerseits gewönne die Geschlechterdifferenz so auf eine Weise Realität, die sich für vergleichbare Unterscheidungen wie die von „Rassen“ und Altersklassen bislang nicht durchsetzen ließ. Die Amerikanerin Rachel Dolezal scheiterte 2015 mit ihrem Anspruch auf eine „schwarze Seele“, der Niederländer Emile Ratelband 2018 damit, sich juristisch verjüngen zu lassen. Andererseits kann auch die geschlechtliche Selbstbestimmung in Sozialbeziehungen nicht ohne Weiteres als Anspruch darauf funktionieren, von anderen auch als Exemplar des Wunschgeschlechts erlebt zu werden. Geschlechtsgeltung lässt sich nicht erzwingen – etwa durch Verbote von sogenannten „Deadnames“ –, sie kann andere (mindestens temporär) überfordern, etwa Familienmitglieder, die der verlassenen Geschlechtszugehörigkeit einer Tochter, eines Bruders oder Ehemanns als Teil einer Geschlechterbeziehung angehörten. It takes two to gender.
Vermutlich ist die „Geschlechtsidentität“ die letzte Bastion des Glaubens an ein wahres Geschlecht. Ihr liegt die Vorstellung eines einzigen, eigentlichen, in den Tiefen der Psyche verborgenen Geschlechts zugrunde. Mit dieser Mystifikation wurde der skrupulösen Selbstbeforschung vereinzelter Subjekte die Sinnstiftung für eine Klassifikation aufgebürdet, die so fragwürdig geworden ist wie die von „Rassen“. Für die gesellschaftliche Mehrheit dagegen ist die Zweigeschlechtlichkeit in dem Maße, dass das körperliche Geschlecht keine sozialen Folgen mehr hat, keine große Einschränkung mehr.
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In einer kranken Gesellschaft muß es auch möglich sein, selbst über sein Geschlecht zu entscheiden.
Nein, muss es nicht. Warum sollte es das auch?!