Identität

Oswald Bayer: Über Selbsteinschätzung und Eingeschätztwerden

Wer bin ich? Obwohl die es im Hier und Jetzt keine erschöpfende Antwort auf diese Frage gib, darf ich doch wissen, dass meine Identität in guten und starken Händen von Ewigkeit zu Ewigkeit aufbewahrt ist. Oswald Bayer schreibt (Leibliches Wort, 1992, S. 33–34):

Angesichts der unentrinnbaren Selbstbelastung durch das Gesetz und die von ihm geforderte Gerechtigkeit wird verständlich, welche Entlastung und Befreiung das Wort vom Glauben als Werk Gottes ist: Weil für den Glauben – das heißt: für mich selbst – Gott allein verantwortlich ist, habe ich von mir selber Distanz und bin so frei, aus mir herauszugehen – auf Gott, den anderen und alle Kreaturen zu.

Die Selbsteinschätzung und das Eingeschätztwerden, das Beurteiltwerden von anderen bleibt zwar die Realität des alltäglichen Rechtfertigungszusammenhanges: Ich muß mit dem Bild, das ich von mir selber, von meinen Fähigkeiten und Schwächen habe, umgehen; ich muß berücksichtigen, wie andere mich sehen und beurteilen.

Das Entscheidende und das Befreiende des Glaubens ist nun aber, daß diese tägliche – bis zum Tod notwendige – Balance zwischen Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung nicht das Erste und nicht das Letzte ist. Wir sind nicht dazu verdammt, sondern dazu befreit, in dieser Balance zu leben, die durchdrungen und umgriffen ist von Gottes rechtfertigendem Wort.

Unübertrefflich hat davon Dietrich Bonhoeffer in seinem Gedicht „Wer bin ich?“ geredet. Bin ich das, was ich selbst von mir weiß? Oder bin ich das, was andere von mir sagen? Diese Fragen werden nicht weggeblasen; sie verschwinden nicht. Gleichwohl: „Wer ich auch bin“ – ich kann das dahingestellt sein lassen –, „Du kennst mich, dein bin ich, o Gott!“

Im Gebet ist die Frage „Wer bin ich?“ nicht beantwortet, aber in gute Hände weggegeben – in der Gewißheit, daß für mich selbst von Ewigkeit zu Ewigkeit gesorgt ist. Damit bin ich mir selber entzogen – in einer barmherzigen und gnädigen Weise entzogen. Die Freiheit, die sich daraus ergibt, besteht nicht zuletzt darin, daß ich über mich selber kein letztes Urteil sprechen muß und daß das, was andere über mich sagen, kein letztes Urteil ist, sondern immer nur ein vorletztes. Ich muß also keine definitive Bilanz ziehen, sondern darf hier alles das Vorletzte sein lassen und mit Unfertigem leben.

Alle werden diskriminiert

Dank reichlicher Sensibilisierung darf sich heute jeder diskriminiert fühlen und Genugtuung einfordern. Doch ist in einer Gesellschaft, in der sich alle diskriminiert fühlen, überhaupt noch jemand diskriminiert? Claudia Wirz zeigt in der NZZ die Grenzen der Identitätspolitik auf: Angewandte Identitätspolitik ist wiederbelebte Vetternwirtschaft. 

Sie schreibt: 

Das ist nichts anderes als angewandte Identitätspolitik. Dass diese Politik vor allem im satt gewordenen Umverteilungsstaat ihre Blüten treibt, zeigt, um was es hier wirklich geht. Um Gerechtigkeit jedenfalls geht es nicht, umso mehr aber um Geld und Pfründen. Wir erleben gerade eine Art Renaissance der voraufklärerischen Privilegienwirtschaft. Wie einst in der Ständegesellschaft werden Menschen nicht mehr aufgrund ihrer individuellen Leistungen beurteilt, sondern in Kasten und Gruppen sortiert und entsprechend mit Vorrechten ausgestattet – oder eben nicht.

Im modernen Wohlfahrtsstaat hat sich das Motiv der Diskriminierung damit zu einem lukrativen Geschäftsmodell entwickelt. Inmitten von Wohlstand, Rechtsstaat und sozialer Überversorgung fühlen sich heute so viele Leute diskriminiert wie nie zuvor. Frauen, Männer, Buben, Mädchen, Queere, Junge, Alte, Dicke, Dünne, Grosse, Kleine, Arme, Reiche, die mit Migrationshintergrund und die ohne, Raucher, Nichtraucher, Städter, Dörfler, Autofahrer, Velofahrer – sie alle dürfen sich heute benachteiligt fühlen und von Staat und Gesellschaft aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit Genugtuung einfordern.

Mehr: www.nzz.ch.

Die Moralismusfalle

31m+H7QPWsL SX303 BO1 204 203 200Christian Neuhäuser und Christian Seidel, die Herausgeber des Buches, Kritik des Moralismus, kritisieren die Kultur der Besserwisserei. Der DLF stellt das Buch vor und sagt:

Indem der Moralisierende die Gegenseite ins schlechte Licht stellt, erscheint sein eigenes moralisches Blitzeblanksein umso strahlender. Auch in öffentlichen Diskursen wird gerne der moralische Zeigefinger erhoben. Bewusst werden Konsumenten durch verschiedene Labels – Tierwohl, Bio etc. – beispielsweise daran erinnert, dass sie mit ihrer Kaufentscheidung auch eine moralische Entscheidung treffen. So könne man eine „zunehmende Moralisierung der Lebenswelt konstatieren“, schreiben die Herausgeber, „die moralische Bewertung dieser Entwicklungen“ sei ambivalent. „Einerseits kann man sich davon eine Verbesserung von Missständen und weniger Fehlverhalten erhoffen. Andererseits können der steigende gesellschaftliche Rechtfertigungsdruck und das Gefühl, zunehmend ‚unter moralischer Beobachtung‘ zu stehen, gerade als Freiheitseinschränkung von der Art empfunden werden, gegen die sich John Stuart Mill in On Liberty wandte.“

Die von Christian Neuhäuser und Christian Seidel herausgegebene „Kritik des Moralismus“ ist ein herausfordernder und anregender philosophischer Diskurs zum öffentlichen Moralisieren. Die Autorinnen und Autoren werfen darin einen reflektierten und historisch fundierten Blick auf Moralismusfallen in Zeiten von Identitätspolitik und digitalen Massenmedien. Sie bemühen sich um Differenzierungen in einer Debatte, in der es um das Schwingen der Moralkeule geht. So kritikwürdig Moralismus im Allgemeinen auch sein mag, er führt letztlich auch dazu, unser moralisches Urteilsvermögen zu schärfen. Dafür ist dieses Buch ein Beleg.

Hier die Buchkritik:


Die Linksidentitären

Justus Bender von der FAZ beobachtet eine Spaltung der linken Bewegung. Auf der einen Seite gibt es die Linksliberalen, die sich auf Leute wie Immanuel Kant, Martin Luther King, Mahatma Gandhi, John Rawls oder Jürgen Habermas berufen. Diese sehen sich als die Gleichstellungsbeauftragten der Weltgeschichte: Alle Menschen waren gleich und sollten gleich behandelt werden. „Ihr Liberalismus war eine solche Selbstverständlichkeit, dass links und linksliberal wie Synonyme verwendet wurden, es sei denn, es ging um Maoisten einer K-Gruppe, aber selbst von denen redeten manche über Freiheit und Gleichheit, wenn es ihnen in den Kram passte.“

Dann kamen die jungen Linken, die anfingen, die Identität von Menschen in das Zentrum der Diskurse zu rücken.

Identität stand in der antiken Philosophie immer für Gleichheit. Platon und Aristoteles fragten, ob ein Kind, das zum Greis altere, noch derselbe Mensch sei. Für die neuen Linken stand Identität nun für Ungleichheit. Ein Schwarzer ist kein Weißer, ein Mann keine Frau, ein Schwuler kein Hetero. Es ging darum, den Opfern von Diskriminierung nicht ihre Erfahrung abzusprechen. Sie sollten berichten, ihnen sollte geglaubt werden und sie sollten ihr Recht bekommen. Kein Weißer sollte sie einschüchtern, kein Mann und erst recht kein weißer Mann.

Aus dem Wunsch, Opfer in den Vordergrund zu stellen, entstand eine Hierarchie. Wer als schwarze lesbische Frau sprach, stand ganz oben, der weiße Mann hingegen ganz unten. Wer als Weißer für Farbenblindheit argumentierte oder anmerkte, alle Menschen seien gleich, wurde unter Verdacht gestellt. Erkannte er die Opferperspektive nicht an? Verwei- gerte er die Auseinandersetzung mit der Hegemonie seiner Ethnie? „Heraus kommt die schleichende kulturelle Entwertung fast aller Werte der Aufklärung: alles von Universalismus, über Autonomie zu Freiheit. Sie werden alle zweitrangige Prinzipien“, sagt der Soziologe Frank Furedi.

Ein interessante Beobachtung, für die es sich lohnt, die FAS zu besorgen (FAS vom 02.08.20, Nr. 31, S. 4).

Identität und das Woher

Im Nachtcafé hat Michael Steinbrecher Menschen eingeladen, die nicht genau wissen, woher sie kommen. Neben Adoptivkindern war auch die Schauspielerin Christiane Grams-Dollmann eingeladen. Mit neun Jahren erfuhr sie, dass sie durch eine anonyme Samenspende in einem Kinderwunschzentrum gezeugt wurde. Die Ungewissheit über ihre wahre Identität quält die 33-Jährige. Warum? Weil eben Identitätsentwicklung auch etwas mit den eigenen Wurzeln zu tun hat.

Was sie darüber – ganz ohne Bitterkeit – zu erzählen hat, ist in diesem Video ab 01:01 (also ca. ab der 1. Stunde) zu hören. Es sollte uns im Blick auf die Vertechnisierung der Reproduktionsmedizin nachdenklich stimmen.

Identitätsfindung in der Postmoderne

41Il9gIBcQL SX311 BO1 204 203 200Jonas Erne hat das Buch Das komponierte „Ich“: Identitätsfindung in der Postmoderne rezensiert:

Der Untertitel lautet „Identitätsfindung in der Postmoderne und das christliche Menschenbild“. Der Inhalt basiert auf zwei Vorträgen, die Ron Kubsch 2010 und 2011 gehalten hat. In der Einleitung geht es um die Frage nach dem Subjekt. Wer bin ich? Diese Frage ist in unserer Zeit sehr wichtig geworden. Lange Zeit war die Identität keine so große Frage. Sie wurde durch die Einbettung in die Familie, den Ort und die Kirche von außen vorgegeben. Durch die Industrialisierung und später die Globalisierung wurde das Leben in immer mehr Teile aufgespalten, und an jedem dieser Teile, wie Beruf, Gemeinde, Familie, Vereine, und so weiter, wurde (und wird) erwartet, dass jeder eine bestimmte Rolle spielt. So stellt sich halt schon immer mehr diese Frage: Wer bin ich? Die Persönlichkeit wird plötzlich als etwas „Flüssiges“ gesehen, was sich ständig verändern kann, und der Gestalter dieser Persönlichkeit ist das einzelne Subjekt.

Im zweiten Teil beschreibt Ron Kubsch „Postmoderne Identitätserfahrungen“. Hier schreibt er von einer „Bastel-Mentalität“, also dass Menschen anfangen, ihre Identität zu basteln und im Laufe der Jahre ständig überarbeiten. Er zitiert den Leiter des Berliner Jugendkultur-Archivs, welcher schreibt, dass junge Menschen immer wieder zwischen den verschiedenen Subkulturen wechseln. Zygmunt Bauman, einer der wichtigsten Soziologen der Postmoderne, spricht von einem „Nomadentum“, also dem ständigen Umherreisen zwischen verschiedenen Subkulturen und Identitäten. Es werde jegliche Festlegung bewusst vermieden, so Bauman.

Mehr: jonaserne.blogspot.de.

Das komponierte „Ich“

41Il9gIBcQL SX311 BO1 204 203 200Die klassische Annahme einer stabilen und „naturgegebenen“ menschlichen Identität wird in unserer Kultur nachhaltig hinterfragt. Prozesse wie Fragmentierung, Relativierung und Durchmischung haben zur „Entbettung“ des Menschen geführt und lassen einheitliche Identitätserfahrungen kaum mehr zu. Angesagt sind kurzweilige identitätsstiftende Erlebnisse. Leute versuchen, durch den Konsum vorgefertigter Angebote, das Andocken an eine oder mehrere Subkulturen oder durch kreative Akte sich selbst einen Sinn zu geben. Allerdings erzeugt das „Regime der Kurzfristigkeit“ Bindungsarmut und Gefühle von Wurzellosigkeit, Zerrissenheit und Angst.

Diese Verlusterfahrung kann ein Anstoß dafür sein, (noch einmal) über Aspekte des christlichen Menschenbildes nachzudenken. Das bewährt sich nämlich auch unter den Herausforderungen, die die Identitätsfindung in der Spätmoderne mit sich bringt. Die christliche Lehre von Schöpfung und Erlösung hält Antworten auf Fragen bereit, die rastlose Vagabunden umtreiben.

Einige Anregungen dazu habe ich in dem kleinen Taschenbuch Das komponierte „Ich“: Identitätsfindung in der Postmoderne und das christliche Menschenbild veröffentlicht, das hier – auch als eBook – bestellt werden kann:

Was denken Studenten über „Identität“?

Joseph Backholm hat auf dem Campus der Universität Washington ein paar Leuten einfache Fragen gestellt. Die Studenten antworten so, wie sie es heutzutage im College erlernen und merken schließlich, dass es irgendwie nicht gut sein kann, wenn jeder denkt, was er fühlt. Lustig!

Das göttliche Ich

Michael Schumacher, Thomas Hitzlsperger, Christian Wulff: Das ganz Private der Promis ist maximal öffentlich geworden, Millionen nehmen Anteil daran. Das Internet ist die Vollendung des Menschenkults. Mathias Müller von Blumencron hat für die FAZ den mediengestützten Narzissmus, der zum Götzendienst werden kann, und das Phänomen der geliehenen Identitäten, treffend auf’s Korn genommen:

Das Privatfernsehen schuf neue Formen der irdischen Anbetung. Wie eine Prominentenmanufaktur machte es Menschen einfach nur deshalb berühmt, weil sie von den TV-Machern dazu erkoren wurden, berühmt zu werden. Einer ganzen Generation wurde vorgegaukelt, dass das Sosein genüge, um berühmt zu werden.

Nichts allerdings hat die Vergötterung des Ichs so befördert wie das Internet. Plötzlich hatte jeder Mensch ein multimediales Werkzeug an der Hand, das nicht etwa die Verbindung zur Transzendenz erleichtert, sondern eine fast göttliche Aura verschafft, wenn man nur die richtige Melodie trifft. Das Netz ist die Vollendung des Menschenkults, irdisch in seinen Schwächen, aber fast überirdisch kraftvoll. Das griechische Universum ist endgültig auf der Erde angekommen.

Interessant finde ich die Leserfrage von W. Klein:

Diese Art von Religion bewegt sich auf niederstem geistigen Niveau, weil es hier noch nicht einmal um metaphysische Fragestellungen geht sondern nur noch um primitive Projektionen der eigenen Psyche (möchte sein, möchte haben). Warum befasst sich die Kirche nicht mal mit dieser Art modernen Heidentums und arbeitet sich stattdessen am Kapitalismus ab?

Mehr: www.faz.net.

VD: RN

Identitätsfindung in der Postmoderne

An dem Abend, als die deutsche Nationalelf ihr erstes Europameisterschaftsspiel zu bewältigen hatte, durfte ich bei den netten Leuten des Forums „Argumente für Gott„ (München) über das anspruchsvolle Thema „Identitätsfindung in der Postmoderne“ sprechen. Es kamen mehr Hörer als ich erwartet hatte und wir genossen einen netten Gedankenaustausch.

Der Veranstalter hat einen Audiomitschnitt des Vortrags online gestellt.

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