Postmoderne

Wissenschaft als Abenteuer

Die Öffentlichkeitsarbeit der Hochschulen nähert sich dem Marketing an. Innovatoren und Experten sind gefragt, Intellektuelle stören nur – meint Markus Steinmayer in seinem Beitrag für die FAZ:

Ein Blick in den Pressespiegel einer beliebigen Universität zeigt allerdings das Gegenteil. Die Forschung an der Universität verspricht jederzeit, das Leben leichter und die Lage erträglicher zu machen. Wir haben, frivol formuliert, unsere „Erklärbären“ an den Instituten. So bietet die Leibniz-Gemeinschaft eine Art Speeddating für das interessierte Publikum an: „Bei ‚Book a Scientist‘ haben alle Neugierigen und Wissensdurstigen die Chance, sich 25 Minuten lang mit einer Expertin oder einem Experten der Leibniz-Gemeinschaft auszutauschen und alles zu fragen, was sie schon immer zu ihrem Lieblingsthema wissen wollten.“

Man kann in dieser Anpassung an die Marketingkommunikation eine Form des akademischen Kapitalismus sehen. Julika Griem schreibt: „Aber es kann nicht nur darum gehen, Personen, Drittmittelrekorde oder ganze Hochschulen zu verkaufen wie Schokoriegel oder Kleinwagen.“

Die Anpassung an ökonomische Formate bleibt nicht folgenlos. Es verschwindet der streitbare Intellektuelle aus der Universitätskommunikation. Er wird durch den Experten ersetzt. Der Experte fungiert als das personifizierte Spezialgebiet, als inkarnierte gesellschaftliche Herausforderung. Der Intellektuelle als Antagonist des Experten wie des Aktivisten stellt zwar möglicherweise die richtigen, aber eben auch schwierige oder heikle Fragen. Er wird als Störfaktor wirkungsorientierter Kommunikation inkriminiert. Wo es ihn wider Erwarten neben all den Experten für Stauforschung, Künstliche Intelligenz, Viren und Politikmanagement immer noch gibt, wird er als „regressiver Gegner des sozialen Wandels“ betrachtet. Für populäre Wissenschaftskommunikation im beschriebenen Sinne ist er nicht geeignet. Er ist ein Relikt, bisweilen noch anzutreffen, aber funktionslos geworden.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.faz.net.

Tara Isabella Burton: Self-Made

Tara Isabella Burton hat ein interessantes Buch mit dem Titel Self-Made: Creating Our Identities from Da Vinci to the Kardashians geschrieben (Hodder & Stoughton 2023). Sie folgt in gewisser Weise den Spuren, die Charles Taylor oder auch Carl Trueman gelegt haben. Und doch unterscheidet sich ihr Urteil über unser Zeitalter von dem dieser beiden Autoren.

Taylor stimmt sie darin zu, dass inzwischen der expressive Individualismus „die Art und Weise dominiert, wie wir im modernen Leben über uns selbst denken“ (S. 16). Allerdings glaubt Burton nicht, dass wir in ein säkulares Zeitalter eingetreten sind. Sie meint, dass sich der religiöse Glaube nur verschoben habe. Die Menschen glauben nicht mehr an einen allmächtigen Gott, der sie geschaffen hat und vor dem sie verantwortlich sind. Sie haben diesen Glauben ersetzt durch den Glauben daran, dass sie selbst Götter seien.

Sie schreibt (S. 16):

Ich bin jedoch nicht der Meinung [von Taylor, Anm. R.K.], dass diese Verschiebung einen Übergang von einer religiösen zu einer säkularen Weltanschauung darstellt. Vielmehr glaube ich, dass wir den Glauben an das Göttliche nicht so sehr abgeschafft, sondern vielmehr verlagert haben. Wir haben uns von der Vorstellung eines Schöpfergottes da draußen abgewandt und Gott stattdessen in uns selbst verortet – genauer gesagt, in der numinosen Kraft unserer eigenen Wünsche. Unsere Besessenheit von der Selbsterschaffung ist auch eine Besessenheit von der Vorstellung, dass wir die Macht haben, von der wir einst glaubten, dass Gott sie hat: uns selbst und unsere Realitäten neu zu gestalten, nicht nach dem Bild Gottes, sondern nach dem unserer eigenen Wünsche.

Philip Rieff oder Carl Trueman kann sie nicht darin folgen, dass die moderne oder spätmoderne Pflicht zur Selbsterschaffung des Menschen eine Erzählung des kulturellen Niedergangs sei. Sie sieht im Narrativ der Selbsterschaffung zwar keine erfolgreiche Geschichte des Fortschritts, aber eben auch keine der problematischen Regression. Die Menschen versuchen laut Burton einfach „das Rätsel zu lösen, wie wir als Wesen leben können, die sowohl überwältigend mächtig als auch erschreckend verletzlich sind und ohne unser Einverständnis in eine Welt gedrängt werden, deren Zweck und Bedeutung wir vielleicht nie wirklich erkennen können“ (S. 19).

Alexandra Davis hat kürzlich für Public Discourse ein Interview mit Tara Isabella Burton geführt. Ich kann es allen empfehlen, die sich für das Thema interessieren und zugleich die Zeit fehlt, das gesamte Buch zu lesen.

Burton betreibt alles in allem eine solide Kulturhermeneutik. Und sie wird Recht damit haben, dass dieses Narrativ der erfolgreichen Selbsterschaffung inzwischen auch über die Kirchenkanzeln in das kulturelle Bewusstsein eindringt. Dort, wo nicht mehr Gott selbst im Mittelpunkt steht und angebetet wird, werden ursprünlich christliche Ideen für die Selbstoptimierung verzweckt.

Sie sagt:

In der Pop-Psychologie gibt es diese Erzählung, dass sich die Menschheit verbessert, dass wir alle zu unserem besten Selbst werden, und dass diejenigen von uns, die nicht zu unserem besten Selbst werden, irgendwann aussterben, und das ist gut so, denn es gibt eine Art grundlegendes Wachstum. Das Universum will, dass wir erfolgreich sind; das Universum will, dass wir reich sind. Und das ist nicht nur eine Randsportart der Selbsthilfe-Industrie, sondern wird auf den Kirchenkanzeln der reichen Leute an der gesamten Ostküste gepredigt. Es gibt Leute wie William Ellery Channing oder Henry Ward Beecher, diese christlichen Prediger, die diese Ideologie in das kulturelle Bewusstsein der Amerikaner einbringen.

Hier geht es zum Interview: www.thepublicdiscourse.com.

Operation „DEI“

Die Woke-Ideologie hat ganz Amerika erobert, von den Unis bis zu den Konzernen. Ihre Kader lehren eine bizarre Opferhierarchie: Muslime sind benachteiligter als Schwule, Schwarze mehr als Frauen. Leistung und Fleiß gelten als verdächtig. Es geht um DEI: „Diversity, Equity and Inclusion“ (dt. Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion).

Welche Auswüchse die Entwicklung an die Hochschulen zeigt und warum das extrem gefährlich ist, beschreibt Bari Weiss in einem Beitrag für DIE WELT:

Seit einigen Jahren sehen wir, welchen Schaden diese Ideologie angerichtet hat. DEI und die Kader, die das Konzept durchsetzen, untergraben die zentralen Aufgaben der jeweiligen Institutionen. Und nichts hat die Gefahren hinter DEI deutlicher gemacht als das, was in diesen Tagen an unseren Hochschulen geschieht – also an den Orten, an denen unsere zukünftigen Führungskräfte heranwachsen.

Dort werden Professoren gezwungen, sich zu DEI zu bekennen, wenn sie eingestellt, befördert oder fest angestellt werden wollen. Und genau dort hat sich die Abscheulichkeit dieser Weltanschauung in den vergangenen Wochen deutlich gezeigt: Wir sehen Studenten und Professoren, die nicht in Fakten, Wissen und Geschichte eingetaucht sind, sondern in eine entmenschlichende Ideologie, die sie dazu gebracht hat, Terrorismus zu feiern oder zu rechtfertigen.

Juden, die wissen, dass jedes menschliche Leben als Ebenbild Gottes unantastbar ist, dürfen nicht tatenlos zusehen, wie dieses Prinzip, das für die Verheißung Amerikas und seiner hart erkämpften Freiheiten so zentral ist, ausgelöscht wird. Wir müssen diese Entwicklung rückgängig machen.

Die Antwort kann nicht darin liegen, dass die jüdische Gemeinschaft vor der intersektionalen Koalition für ihre Sache plädiert oder um einen höheren Rang auf der neuen Opferhierarchie bettelt. Das ist eine verlorene Strategie – nicht nur für die jüdische Würde, sondern auch für die Werte, die wir als Juden und als Amerikaner vertreten.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Repressiven Toleranz in der Praxis

Die postmodernen Aktivisten hoffen, durch zwei Strategien ihren „Wahrheiten“ zum Durchbruch zu verhelfen. Einmal wiederholen sie ihre Thesen und Lügen möglichst oft, verbunden mit der Hoffnung, dass sie so irgendwann geglaubt werden und möglichst Eingang in die Gesetzgebung finden (vgl. auch hier). Zum anderen nutzen sie den Ansatz der „repressiven Toleranz“ (entwickelt von Marcuse, siehe hier), um Kritikern der eigenen Sichtweise die Teilhabe am Diskus zu verweigern. Sie setzten also die Kritik an ihren Thesen auf den Verbotsindex.

Ein aktuellens Beispiel dafür: Der Grünenpolitiker und Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, hat gefordert, dass eine transkritische Broschüre der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zur Prüfung vorgelegt wird. Die Prüfstelle ist dem grünen Bundesfamilienministerium unterstellt und Lehmann arbeitet dort als Staatssekretär. Seit September 2023 gilt die Broschüre Wegweiser aus dem Transgenderkult tatsächlich als gefährlich für Kinder und Jugendliche. Als Begründung für den Verbot der Broschüre wurde laut NZZ angegeben:

Bemerkenswert ist die Begründung der Prüfstelle für ihre Entscheidung. Sie liegt der NZZ vor. Das zwölfköpfige Gremium stellt folgende Sätze als problematisch dar: „‚Frau‘ und ‚Mann‘ sind (. . .) biologische Fakten. Sie lassen sich an den Chromosomen und an der Rolle in der Reproduktion festlegen.” Auch der Satz: „Geschlecht ist binär und unveränderbar. Persönlichkeit ist fluide und vielfältig“, wird als bedenklich aufgelistet.

Beide Strategien lassen sich hier nachweisen: Erstens: Die Wahrheit wird als problematisch hingestellt, ohne dafür Begründungen zu liefern. Die Wahrheit wird einfach durch die eigene Sichtweise überschrieben (und immer wieder vorgetragen). Zweitens: Eine kritische Stimme wird zum Schweigen gebracht, indem sie zensiert wird. 

Ich kann nur hoffen, dass die Herausgeberinnen gegen die Willkür juristisch vorgehen und der Fall vor Gericht landet und die Richter ordentlich entscheiden.

Mehr: www.nzz.ch.

VD: BS

Das neue Credo: Fünf säkulare Glaubenssätze im Test

Mein Kollege in der Redaktion von Evangelium21, Samuel Wiebe, hat das Buch Das neue Credo: Fünf säkulare Glaubenssätze im Test (Dillenburg: CV, 2023) von  Rebecca McLaughlin gelesen. Ich zitiere:

Mit ihrem Buch Das neue Credo gibt Rebecca McLaughlin dem christlichen Leser, der im Dialog mit der umgebenden säkularen Kultur steht, ein wertvolles Hilfsmittel an die Hand. Ihre Analyse der säkularen Glaubenssätze zu Rassismus, Sexualität und Geschlechtlichkeit sowie ihre Einordnung in das biblisch-christliche Narrativ helfen – trotz kleinerer Mängel in der Struktur – sprachfähig zu sein und den christlichen Glauben und christliche Werte in einer post-christlichen Welt plausibel und schmackhaft zu machen. Insofern ist das Buch nicht nur für den Christen geschrieben, der auf der Suche nach apologetisch überzeugenden Argumenten ist, sondern auch für den säkularen Skeptiker, der das Christentum als rückständig oder gar gefährlich ansieht. McLaughlin lädt beide ein, sich auf einen Dialog über das christliche Weltbild einzulassen.

Vor allem aber lädt sie dazu ein, die christlichen Tugenden von Wahrheit und Liebe, von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wieder in Einklang miteinander zu bringen. Die Gemeinde Jesu ist dazu aufgefordert, den Mitmenschen, die unter den Sünden anderer oder der eigenen Sünde leiden, die in einem realen Kampf mit der eigenen Sexualität und Geschlechtlichkeit stehen, mit Liebe auf Grundlage von befreiender Wahrheit zu begegnen.

Mehr: www.evangelium21.net.

Silke Edelmann: „Lassen wir uns von dem Buch zum radikalen Weiterdenken herausfordern“

Silke Edelmann schreibt in ihrer ausführlichen Rezension des Buches Der Siegeszug des modernen Selbst von Carl Trueman (Bulletin, Nr. 27-28, 2023):

Das Verständnis von Sexualität und Sexualethik in der westlichen Welt, die man gemeinhin als christliche Zivilisation bezeichnet, hat sich in den letzten 60 Jahren rasant verändert. Wie es dazu kam, dem geht der englische Theologe und Kirchenhistoriker Carl R. Trueman nach. Die gesellschaftliche Debatte ist moralisch aufgeladen, doch die Ursachen des Wandels liegen tiefer. Wurde die Sexualität des Menschen seit jeher in einem spirituell-metaphysischen Rahmen gedeutet, wurde die metaphysische Rückbindung in der Neuzeit zunehmend aufgekündigt. Immer mehr verlagerte sich die maßgebliche moralische Instanz in das Innere des Subjekts, während äußere Maßgaben zunehmend hinterfragt wurden.

Anhand der Ideengeschichte arbeitet Trueman heraus, warum das Bekenntnis zu traditionellen Moralvorstellungen heute eine so heftige Gegenreaktion hervorruft. Gemäß den gängigen postmodernen Narrativen beruht die Rückbindung des Menschen an eine metaphysische Realität auf einer Fiktion. Im Rückgriff auf das marxsche Diktum, Religion sei Opium für das Volk, argumentieren vor allem linke Denker, dass jede metaphysische Weltanschauung das Instrument einer Elite zur Durchsetzung ihrer Interessen darstellt.

Christen, die ihre ethischen Erwägungen metaphysisch verankert wissen möchten, müssen ein Verständnis dafür entwickeln, wie der neuzeitliche Subjektivismus, der auch die Theologie geprägt hat, diese Verankerung erodiert, um Perspektiven aufzuzeigen, wie christliche Apologetik dem entgegenwirken könnte. 

Mehr: www.dijg.de.

„Sensitivity Reader“ stürzen sich auf Miss Marple

Jetzt fallen die „Sensitivity Reader“ der Verlage, also Leute, die Texte auf Diskriminierungen prüfen, auch noch über Miss Marple her. Welche Folgen aber hat der Eingriff? 

Natürlich ist das alles hochbedenklich. Warum kann man Lesern nicht die Originaltexte zumuten, im Vertrauen darauf, dass die sich ihre eigenen Gedanken über die Beschränktheiten einer vor 47 Jahren mit 85 gestorbenen Kriminalschriftstellerin machen? Ist es nicht Verfälschung, wenn Romanfiguren, durch deren innere Monologe Wahrnehmungen puckern, die sich heute niemand mehr gestatten würde, nun auftreten, als hätten sie ein Antidiskriminierungs-Training hinter sich?

Und wo soll das noch hinführen – wird man irgendwann nicht mehr feststellen können, dass Autoren wie Agatha Christie, Roald Dahl oder Ian Fleming rassistisch, antisemitisch oder sexistisch gedacht haben, weil man es nicht mehr mit ihrem um alle Irritationen bereinigten Werk belegen kann?

Das Ansinnen grenzt an Gehirnwäsche. Wir sollten nicht überrascht sein, wenn es irgendwann auch bereinigte Ausgaben der Bibel gibt. 

Mehr: www.welt.de.

Wie die Wissenschaft Vertrauen verspielt

Wenn die Wissenschaft im postmodernen Modus sich machtpolitischen Interessen verschreibt, geht – zurecht – das Vertrauen in die Brüche (vgl. hier). Jean François Lyotard hat das Phänomen in Das postmoderne Wissen so beschrieben (2. korrigierte Aufl., 1999, S. 135):

Die Erbringung des Beweises, im Prinzip nur Teil einer Argumentation, die selbst bestimmt ist, die Zustimmung der Empfänger der wissenschaftlichen Nachricht zu erreichen, gerät so unter die Kontrolle eines anderen Sprachspiels, wo der Einsatz nicht die Wahrheit, sondern die Performativität ist, das heißt das bessere Verhältnis von Input/Output. Der Staat und/oder das Unternehmen geben die Erzählung der idealistischen oder humanistischen Legitimierung auf, um den neuen Einsatz zu rechtfertigen: Im Diskurs der stillen Teilhaber von heute ist der einzig kreditwürdige Einsatz die Macht (puissance). Man kauft keine Gelehrten, Techniker und Apparate, um die Wahrheit zu erfahren, sondern um die Macht zu erweitern.

Ulf Poschardt beschreibt, was passiert, wenn eine laute Minderheit der Forscher-Community die Grenze zum politischen Aktivismus überschreitet – ob es nun um Verkehr, Migration oder Klima geht.

Derweil greift in der Wissenschaft die aktivistische Poetik weiter um sich. Seien es Armutsforscher, Verkehrswissenschaftler oder Migrationsforscher: Die Neigung, den eigenen Erkenntnisdrang frei von politischen Überlegungen zu reflektieren, nimmt auf breiter Front ab.

Die aktivistischen Wissenschaftler haben in der Öffentlichkeit die Wissenschaft in Verruf gebracht. Aber eben nicht die unzähligen fleißigen, unbestechlichen, unangepassten, präzisen, neugierigen, nicht zu instrumentalisierenden Wissenschaftler, sondern allein die laute Minderheit, die sich die Trends eines vermeintlich unproblematischen Technik-Positivismus zu eigen gemacht hat. Die Wissenschaft hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Freundlicher formuliert könnte man sagen: Der Zweifel an ihrer Unbestechlichkeit ist zurück, weil das blinde Vertrauen in sie immer schon falsch war.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Der große Bluff

Sind wir mal ehrlich: Pippi Langstrumpf mochten wir sehr, da ihre Lebensphilosophie neue Möglichkeiten eröffnet hat:

Zwei mal drei macht vier,
widewidewitt und drei macht neune,
ich mach mir die Welt,
widewide wie sie mir gefällt.

Inzwischen spüren wir mit allen Sinnen und dem Verstand, dass sich die Wirklichkeit nicht nach Belieben verbiegen lässt. Im Gegenteil: Wir müssen uns – zumindest langfristig – nach ihr richten.

David Signer schildert für die NZZ den Fall des Hochstaplers George Santos, der es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten weit gebracht hatte, aber dann – weil seine Lügen aufflogen – mit seinem Storytelling scheiterte.

Signer schreibt:

Vor allem aber vermischt sich die uramerikanisch-christliche Vorstellung, dass der Glaube Berge versetze, heutzutage mit einer postmodernen Relativierung der Wirklichkeit als blossem «Konstrukt» und «Diskurs». Dazu passt, dass selbst das Geschlecht fluid und eine Frage der Wahl wird. Wer wollte es dem «kreativen» Santos also verargen, wenn er noch einen Schritt weiter geht und auch die eigene Biografie zur Erfindung erklärt? Damit schafft er es zu allem anderen auch noch, das eher republikanische Mantra vom Selfmademan mit einem eher demokratischen und woken Touch von Diversität zu versehen. Mehr «American Dream» geht kaum.

Mehr: www.nzz.ch.

VD: LR

Die Tyrannei der Tugendhaften

Jürg Altwegg skizziert in seinem FAZ-Beitrag „Die Tyrannei der Tugendhaften“ die Kritik des französischen Philosophen Pierre-André Taguieff am Postmodernismus. Interessant dabei ist, dass sich auch der russische Nationalist Alexander Dugin bei der französischen Postmoderne bedient, um den Umsturz der Diktatur des Westens zu fördern. Jürg Altwegg schreibt:

Der Ideenhistoriker Pierre-André Taguieff deutet den „militanten und ideologisierten Hass auf die europäische Kultur“, den Woke predige, als „Diabolisierung des Westens“. Die „Dekonstruktion“ führt er auf den Einfluss von Heidegger und Nietzsche in Frankreich zurück. Taguieff kennt die philosophische und politische Wirkungsgeschichte der französischen Postmoderne in beiden Ländern. „Black Lives Matter wurde 2013 von drei militanten Marxistinnen begründet“, hält er in „Pourquoi décon­struire?“ fest. Aus dem Antirassismus wurde ein Rassismus. Die Umschreibung der Geschichte belegt er mit dem Hinweis auf Historiker, die den Anfang der Demokratie nicht in Athen, sondern in Afrika situieren. Woke versteht Taguieff als Wiedergeburt der „revolutionären Utopie“.

Nebenbei weitet er seine Darstellung auf den russischen Nationalisten und Ideologen Alexander Dugin aus. Dugin kennt die französische Postmoderne und zitiert ihre Autoren. Die Dekonstruktion der westlichen Hegemonie unterstützt er laut Taguieff „ohne Einschränkung“. Sie entspricht dem Willen „zum Umsturz der Diktatur des Westens“. Dugin benutzt das „Arsenal der postmodernen Kritik“. Verworfen aber wird das von Woke angerichtete „allgemeine Chaos“ mit der „Umkehrung der Hierarchie“ und der „Auflösung ihrer Komponenten“: Geschlecht, Wissen, Gesellschaft, Politik.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): https://www.faz.net.

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