Christoph Jung hat das Buch einer Ärztin gelesen, das sich fundiert mit den oft unklaren Grenzen zwischen Leben und Tod in der Intensivmedizin auseinandersetzt. Fazit:
Kathryn Butler gelingt mit dem Buch das, was sie sich vorgenommen hat. Sie stellt sich der Herausforderung, ein unangenehmes, aber zweifellos dringendes Thema klar und allgemeinverständlich zu erläutern. Inmitten eines medizinisch-technisch-ethischen Dickichts sorgt sie mit klaren, biblisch orientierten Prinzipien und ihrer intensivmedizinischen Erfahrung für notwendige Orientierung. Manche Situationen bleiben auch nach Lektüre des Buches ethisch schwierig und Betroffene werden in konkreten Fällen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Das ändert jedoch nichts daran, dass das Buch nicht nur für Seelsorger oder Pastoren, sondern letztlich für alle interessierten Christen eine wertvolle Entscheidungshilfe bietet.
Frankreichs Präsident Macron begrüßt die gestrige Abstimmung in der Nationalversammlung für die aktive Sterbehilfe als „wichtigen Schritt“. Die FAZ berichtet:
Die französische Nationalversammlung hat am Dienstag in erster Lesung ein Gesetz zum „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ gebilligt. 504 Abgeordnete gaben ihre Stimme ab, 305 sprachen sich für, 199 gegen die Reform aus. Kurz zuvor hatten die Abgeordneten bereits einstimmig ein Gesetz angenommen, mit dem die Palliativpflege gestärkt werden soll – wegen der Bedenken mancher Abgeordneter war das ursprünglich als Einheit geplante Gesetz in zwei unterteilt worden.
Beide Gesetze werden nun dem Senat zur Prüfung übergeben. Präsident Emmanuel Macron begrüßte die Beschlüsse der Nationalversammlung als „wichtigen Schritt“. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Haltungen zu dem Thema und der damit verbundenen Zweifel und Hoffnungen öffne sich „nach und nach der Weg der Brüderlichkeit, den ich mir gewünscht habe“, schrieb er auf der Plattform X.
Gegner der Sterbehilfe können sich in Zukunft strafbar machen, ähnlich wie bereits Abtreibungsgegner:
Die Abgeordneten haben sich zudem darauf verständigt, medizinische Einrichtungen zu schützen, an denen Sterbehilfe angeboten wird. So enthält das Gesetz einen neuen Straftatbestand, sollte es zu Drohungen oder Einschüchterungen gegenüber Patienten oder medizinischem Fachpersonal kommen. Derartige Behinderungen der Sterbehilfe sollen mit bis zu zwei Jahren Haft und Geldstrafen bis zu 30.000 Euro geahndet werden. Als Vorbild gilt das Recht auf Abtreibung. Abtreibungsgegner machen sich strafbar, wenn sie Ärzte und medizinische Einrichtungen daran hindern, Abtreibungen vorzunehmen.
Der spanische Starregisseur Pedro Almodóvar hat mit seinem Film „The Room Next Door“ den „Goldenen Löwen“ in Venedig gewonnen. In dem Drama spielt Tilda Swinton eine Kriegsreporterin, die ihrem Krebsleiden ein Ende setzen will. Julianne Moore spielt ihre Freundin, die ihr bei den Vorbereitungen hilft. Es geht also um ein emotionales Plädoyer für die aktive Sterbehilfe. Passend hat Almodóvar in seiner Dankesrede eindringlich für das Recht auf Sterbehilfe geworben
Die TAGESPOST schreibt:
Bei der Preisverleihung sagte der Regisseur: „Der Film handelt von einer Frau, die in einer sterbenden Welt stirbt, und von einer Person, die sich entscheidet, ihre letzten Tage mit ihr zu verbringen. Einen todkranken Menschen zu begleiten, für ihn da zu sein und ihn manchmal nur mit einem Wort zu trösten, gehört zu den großen menschlichen Qualitäten.“ Der Film erzähle nicht nur von Ingrids bedingungsloser Solidarität, sondern auch von Marthas Entschluss, „ihr Leben zu beenden, wenn es nur noch aus unerträglichem Schmerz besteht“.
Anschließend hielt Almodóvar ein leidenschaftliches Plädoyer für die aktive Sterbehilfe: „Sich von dieser Welt würdevoll und in Frieden zu verabschieden, ist meiner Meinung nach ein Grundrecht eines jeden Menschen. Es ist keine politische, sondern eine zutiefst menschliche Frage, die mit Mitgefühl behandelt werden muss – auch wenn es die Aufgabe der Regierungen ist, die notwendigen Gesetze zu schaffen, um dies zu ermöglichen.“
Ulrich Lilie hat sich in einem idea-Beitrag für eine „allgemeine Impfpflicht zum Schutz der Verletzlichsten in unserer Gesellschaft“ ausgesprochen. Schon am 23. November 2021 hatte der Diakonie-Präsident über seine Pressestelle mitteilen lassen:
Eine allgemeine Impfpflicht zum Schutz der Verletzlichsten in unserer Gesellschaft ist nun der richtige Weg. Angesichts der immer dramatischeren Situation muss der Staat jetzt seine Verpflichtung zum Schutz von Menschenleben einlösen und handeln. Die Impfstoffe stehen seit Monaten in ausreichender Menge bereit, es fehlt auch nicht an Aufklärung und Informationen. Die Argumente sind ausgetauscht, jetzt ist Handeln gefragt, wenn wir nicht den Tod und das Leiden sehr vieler Menschen in Kauf nehmen wollen. Ich unterstütze hier ausdrücklich die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Kurschus.
Wer geimpft werden kann – und es jetzt immer noch nicht tut – der schadet nicht nur sich selbst, sondern stellt sein Eigeninteresse über die Gesundheit aller anderen. Nun muss der Schutz von Leben den Vortritt bekommen. Wir dürfen das Sterben und Leiden nicht länger hinnehmen, erst recht nicht, wenn wir mit den Impfstoffen ein wirksames Mittel haben gegen schwere Krankheitsverläufe.
Das ist übrigens der gleiche Pfarrer, der sich an anderer Stelle für die konsequente Selbstbestimmung bis hin zum assistierten Suizid eingesetzt hat. Ich erinnere mich daran, dass er in einem FAZ-Beitrag vom 11. Januar 2021 zusammen mit Reiner Anselm und Isolde Karle für die „Möglichkeiten eines assistierten Suizids“ in den Häusern der Diakonie geworben hat (vgl. hier u. hier). Ich zitiere:
Die Rechtsordnung muss, so weit reicht die Selbstbestimmung des Einzelnen, den Weg offen lassen, für den eigenen Suizid auf freiwillige Unterstützer zurückzugreifen. Das gebiete der Respekt vor den Betroffenen, wenn sie sich selbstbestimmt, ohne äußeren Zwang und wohlüberlegt zur Selbsttötung entschlossen haben.
Weiter heißt es dort:
Anstatt durch eine Verweigerung Suizidwillige dazu zu zwingen, sich auf die Suche nach – möglicherweise durchaus eigennützig und nicht im Interesse des Lebensschutzes handelnden – Organisationen zu machen, dürfte es sehr viel eher Ausdruck verantwortlichen Handelns sein, entsprechende Möglichkeiten durch besonders qualifizierte interdisziplinäre Teams in den Einrichtungen zuzulassen und dabei das familiäre Umfeld einzubeziehen.
Sichere Orte wären in dieser Perspektive kirchliche Einrichtungen nicht deswegen, weil sie bestmögliche Palliativversorgung gewährleisten und Sterben zulassen, sich aber dem Suizid verweigern, sondern weil sie einem Sterbewilligen unter kontrollierten und verantworteten Rahmenbedingungen in einem aus dem christlichen Glauben entspringenden Respekt vor der Selbstbestimmung Beratung, Unterstützung und Begleitung anbieten.
Nun wird der kritische Leser vielleicht sagen: Immerhin schadet jemand, der seinem Leben ein Ende setzen möchte, nur sich allein. Das greift freilich zu kurz: Eine Entscheidung für eine Selbsttötung hat unmittelbare und schwere Konsequenzen für die Familienangehörigen und für die gesamte Gesellschaft.
Nach einer misslungenen Geschlechtsumwandlung lässt sich ein 44 Jahre alter transsexueller Belgier 2013 auf eigenen Wunsch von seinem Arzt mit einer Giftinjektion töten. Künftig könnten Mediziner in Belgien noch weitergehende Rechte erhalten, etwa die Erlaubnis, das Leben von Minderjährigen zu beenden.
Die SZ meldete:
Ein neues Leben beginnen, das war es, was er wollte. Jahrelang hatte sich Nathan Verhelst auf seinen Neuanfang vorbereitet. Er unterzog sich einer Hormontherapie, ließ sich die Brüste abnehmen. Schließlich sollten Chirurgen ihm in einer komplizierten Operation einen Penis formen. Drei Jahre lang, von 2009 bis 2012 zog sich seine Geschlechtsumwandlung hin. Doch was zur Neugeburt des Nathan Verhelst hätte werden sollen, endete in einer Tragödie.
Am Montag ist Verhelst gestorben – auf eigenen Wunsch, unter Zuhilfenahme der Sterbehilfe-Gesetzgebung in Belgien. 44 Jahre nachdem Nathan als Nancy zur Welt gekommen war, schied er in einem Brüsseler Krankenhaus freiwillig aus dem Leben. „Ich war bereit, meine Neugeburt zu feiern, aber als ich in den Spiegel blickte, ekelte ich mich vor mir selbst“, sagte Verhelst vor seinem Tod der Tageszeitung Het Laatse Nieuws. Keiner der Eingriffe habe zu dem gewünschten Ergebnis geführt. Da habe er nur noch die Möglichkeit gesehen, sich töten zu lassen.
Der Fall hat in Belgien abermals eine Diskussion über das liberale Sterbehilfegesetz angestoßen. Allerdings weist die öffentliche Meinung in eine andere Richtung als man erwarten könnte. Derzeit steht in dem Land eine Ausweitung der Sterbehilfe zur Debatte. In einer am Mittwoch veröffentlichten repräsentativen Umfrage sprachen sich rund Dreiviertel aller Teilnehmer für Sterbehilfe bei Minderjährigen aus.
Wer genau hinhört, wird wahrnehmen, dass die tiefe Unzufriedenheit mit dem eigenen Leib wohl nie hätte „wegoperiert“ werden können. Über die Reaktion der Mutter berichtet ntv:
Nathans Mutter Jenny trauerte ihrer Tochter Nancy nicht nach. „Sie war so hässlich, ich hatte ein Monster zur Welt gebracht“, sagte sie der Zeitung „Dernière Heure“. Dass Nancy von den Brüdern geschlagen worden sei, sei ihr eigener Fehler gewesen: „Sie hat mir nichts gesagt.“ Ob sie wisse, dass Nathan ihr einen Brief geschrieben habe, wurde sie da gefragt. „Ich werde ihn lesen, aber er wird voller Lügen sein. Ihr Tod bedeutet mir nichts.“
Vor etwa 20 Jahren habe ich mich ergiebig mit dem Verhältnis von Seelsorge und Psychologie o. Psychotherapie beschäftigt und bin dabei unter anderem bei der Feministin Isolde Karle gelandet. An der Seelsorgelehre in der Tradition Schleiermachschers hat mich immer abgeschreckt, dass die Theologie fast völlig für die Anthropologie verzweckt wurde. Alles, selbst Gott, dreht sich um den Menschen. Ein ähnliches Unbehagen empfand ich bei der Lektüre von Seelsorge in der Moderne, auch wenn ich dankbar war, dass Karle der Gemeinde in der Seelsorge wieder mehr Raum zugestehen wollte. Zitat (Seelsorge in der Moderne, 1996, S. 224):
Der Realitätsbezug der Parochie scheint manchen Pastoralpsychologen
aufgrund ihrer starken Orientierung an der psychotherapeutischen
Praxis verloren gegangen zu sein. Selbst Scharfenbergs Beispiele
erinnern eher an die therapeutische, denn an die parochial-seelsorgerliche
Praxis, obwohl er sich intensiv um die Vermittlung beider
Beratungsformen bemüht.
Als ich verstand, dass sie sich in postmoderner Manier für die Destabilisierung der Zweigeschlechtlichkeit stark macht, hatte sich mich dann allerdings völlig verloren (S. 191):
Eine Überwindung der Geschlechterbinarität ist nicht wahrscheinlich, solange unsere Kultur die Zuordnung zu einem Geschlecht so wichtig nimmt. Dennoch ist eine Destabilisierung der Geschlechterpolarität möglich und gesellschaftlich längst schon im Gange. Wie im ersten Kapitel dieser Studie ausführlich dargestellt, läßt sich eine Diversifizierung der Geschlechter: beobachten, die mit den Modernisierungsund sozialen Wandlungsprozessen der letzten Jahrzehnte einhergeht. Durch die „nachholende Individualisierung“ von Frauen, durch ihre Partizipation an den Funktionssystemen der Gesellschaft, durch die Selbstverständlichkeit der Berufstätigkeit von Frauen sind Entdifferenzierungsprozesse in Gang gekommen, die das zweigeschlechtliche Symbolsystem relativieren. Wenn Frauen die Tätigkeiten von Männern und Männer die Tätigkeiten von Frauen übernehmen, verlieren die geschlechtsdifferenzierenden Bedeutungen von Tätigkeiten ihren Sinn. Nehmen die Optionen, das eigene Leben individuell zu gestalten, zu, werden die Selbstkonzepte und damit die Identitäten auch und gerade im Hinblick auf das je eigene Geschlecht variabler und vielfältiger. Durch zunehmende Überlappungen und Grenzüberschreitungen schleift sich die Schärfe des Geschlechterdualismus ab und verliert dieser tendenziell seine Polarität.
Frau Prof. Karle gehört zu jenen evangelischen Theologen und Theologinnen, die diakonischen Einrichtungen in Ausnahmefällen den assistierten Suizid ermöglichen möchten (vgl. hier). Sie wurde kürzlich von Ute Welty für den DLF zu dem von ihr mitgetragenen Vorstoß interviewt. Frau Karle lehnt die Mithilfe bei einem affektiven Suizidwunsch strickt ab. Auch Beihilfe bei einem gefestigten Suizidwunsch muss die „absolute Ausnahme“ bleiben. Wenn sie jedoch angemessen scheint, sei das ein Akt christlicher Nächstenliebe.
Dieses Umdeuten ist nicht ganz neu. Ich habe es hier bereits vor 9 Jahren vorgestellt und kritisiert. Alan Mann und Steve Chalke hatten die aktive Sterbehilfe wie folgt „geframed“:
Der Christ kann in der Euthanasie – und das betrifft auch die aktive Sterbehilfe – keinen Akt der autonomen Selbstbestimmung sehen, denn das stellte die Usurpation göttlichen Rechts dar, Leben zu nehmen. Eine solche Entscheidung sollte von einer fürsorglichen und mitfühlenden Gemeinschaft im Glauben getroffen werden. Sie dem Einzelnen zu überlassen, wäre ein Akt höchstmöglicher Preisgabe und widerspräche diametral der ethischen Einstellung eines jeden, der behauptet, Nachfolger Jesu zu sein.
Wir nehmen kein Leben, sondern räumen dem Einzelnen das Recht ein, von sich aus auf ein Weiterleben zu verzichten und dem Gott, der das Leben gegeben hat zu vertrauen, dass nichts uns „kann scheiden von der Liebe Christi … weder Leiden noch Tod“ (Röm 8,35ff.).
Genau lesen. Der Einzelne hat nicht die Vollmacht, sich über von Gott gesetzte Grenzen hinwegzusetzen. Die Gemeinschaft der Glaubenden darf allerdings – so die beiden Emergenten – im Glauben die Gebote Gottes suspendieren. Und derjenige, der sein Leben gewollt beendet, stiehlt nicht etwa das Geschenk des Lebens. Nein, er verzichtet bescheiden auf das Leben.
Das ist die sanfte Umdeutung der christlichen Botschaft, die heutzutage fast überall aufblitzt und leider auch von vielen, die ihre Bibel lesen, nicht erkannt wird.
Professor Dietrich Korsch hat sich unzweideutig zur Sterbehilfedebatte innerhalb der Evangelische Kirche geäußert. Die Theologen Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie hatten sich in dem Beitrag „Evangelische Theologen für assistierten professionellen Suizid“ für die kirchliche Begleitung und Suizidbeihilfe von Sterbewilligen in kirchlichen Einrichtungen ausgesprochen (siehe auch hier).
Hier Auszüge aus seinem Leserbrief (FAZ vom 16.01.2020, Nr. 13, S. 8):
Das gedanklich fehlerhafte Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid, das Selbsttötung als Fall von Selbstbestimmung auffasst und nicht als deren Ende versteht, entlässt punktgenau die zu erwartenden Konsequenzen. Der vorgelegte Beitrag „Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen“ betreibt die erforderliche Entsorgung des Gewissens von Ärzten und Seelsorgern im Umgang mit Suizidanten im Namen einer abstrakt-normativen Selbstbestimmung. Bestürzend ist die Beobachtung, dass sich mit den vorgebrachten Wendungen auch eine Tötung auf Verlangen rechtfertigen ließe, wenn sie denn dem festen Willen, also der „Selbstbestimmung“, von Individuen entspringt – nur die geltende Rechtslage bewahrt einstweilen vor dieser Konsequenz. Ethisch kann jedoch mit den Vorbringungen der Autoren nichts dagegen eingewandt werden.
…
Dass es, wie es sogar im eigenen evangelischen Online-Portal hieß, „hochrangige Vertreter der evangelischen Kirche“ seien, die diesen Weg empfehlen und ihre eigene positionelle Auffassung als „Position der evangelischen Ethik“ ausgeben, kann über die Armseligkeit der Argumentation nicht hinwegtäuschen. Dass zu den Verfassern aber auch der Präsident der „Diakonie Deutschland“ gehört, den schon sein Amt an solchen Verlautbarungen hindern muss, erregt nicht nur tiefe Besorgnis über den Zustand dieses großen kirchlichen Arbeitszweiges; es erfüllt auch mit Zorn.
Ich bin ja froh, dass die Forderung führender evangelischer Theologen, in Deutschland einen assistierten professionellen Suizid zu ermöglichen, auf breite Kritik gestoßen ist. Besonders gefällt mir die Reaktion von Prof. Christoph Raedel, der darauf aufmerksam macht, dass der Verweis auf die Selbstbestimmung des Menschen theologische Begründungen ersetzt.
Der Professor für Systematische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule (FTH) in Gießen, Christoph Raedel, kritisierte gegenüber idea den Verzicht auf eine tragfähige theologische Begründung, an deren Stelle der Verweis auf die Selbstbestimmung des Menschen getreten sei. Verzweiflung, Angstzustände und der Wunsch, anderen nicht zur Last zu fallen, böten keine Grundlage für ein selbstbestimmtes Sterben.
Raedel befürchtet, dass langfristig der Druck auf Ärzte und Pflegepersonal zunehmen wird, an der Suizidbeihilfe mitwirken zu müssen. Darauf deute jedenfalls die Aussage hin, dass sich kirchliche Einrichtungen dem Wunsch einer Person nicht verweigern dürften, die ihrem Leben mit ärztliche Hilfe ein Ende setzen will. Im Selbstverständnis kirchlicher Einrichtungen rücke damit der Sterbewunsch von Menschen vor das Bekenntnis zu Gott als Schöpfer und Erhalter des Lebens.
Kirchlich-diakonische Einrichtungen sollen bestmögliche Palliativversorgung gewährleisten, sich aber dem Suizid nicht verweigern und Sterbewillige beraten, unterstützen und begleiten. Das fordern evangelische Theologen. Die FAZ meldet:
Namhafte Repräsentanten der evangelischen Kirche wie der hannoversche Landesbischof Ralf Meister und der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie, werben für die Möglichkeit eines assistierten professionellen Suizids in kirchlich-diakonischen Einrichtungen.
In einer Stellungnahme, die der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Montagsausgabe) exklusiv vorliegt, heißt es, kirchliche Einrichtungen sollten eine bestmögliche medizinische und pflegerische Palliativversorgung sicherstellen. Zugleich dürften sie sich dem freiverantwortlichen Wunsch einer Person nicht verweigern, ihrem Leben mit ärztlicher Hilfe ein Ende zu setzen. […] Kirchliche Einrichtungen müssten Orte sein, in denen Suizid auf „sichere und nicht qualvolle Weise“ vollzogen werden könne.
Edo Reents hat in der FAZ (06.08.2020, Nr. 181, S. 14) das Sterbehilfeurteil vom Februar 2020 als Konsequenz der Säkularisierung gedeutet.
Wenn das höchste deutsche Gericht Vorsorge dafür trifft, dass jedem Menschen, egal, welchen Alters und in welcher Lage, die Selbsttötung möglich sein muss, zur Not eben mit fremder Hilfe, dann kommt man vielleicht zu dem Schluss, dass dieses Urteil einerseits kühn, andererseits aber auch ernüchternd, ja, fast banal, flach wirkt, wie die Bestätigung anderer Selbstbestimmungsrechte auch, zum Beispiel des informationellen oder des sexuellen. Es ist die vielleicht letzte, auf jeden Fall aber gewichtigste Konsequenz, die aus dem Säkularitätsgebot gezogen wurde.
Reents zweifelt daran, dass sich diese von aller Metaphysik bereinigte Rechtssprechung bewährt und macht eine Verlustrechnung auf:
Ein Verfassungssystem, das auch in Gerichtssälen keine Kreuze mehr zulässt, kann sich um einen geistigen Überschuss, ob nun philosophischer oder religiöser Art, nicht mehr kümmern. Diese buchstäbliche Rücksichtslosigkeit, um von der gegenüber Hinterbliebenen oder an der Selbsttötung Beteiligten nicht zu reden, hat etwas (vielleicht ungut) Ernüchterndes. Ungerührt hat Karlsruhe die letzten Reste eines metaphysischen Schleiers entfernt, den die Menschen noch um Fragen des Lebens und des Sterbens gehüllt haben mögen.
Prof. Martin Teising aus Bad Hersfeld geht in seiner Kritik des Urteils noch weiter (FAZ vom 13.08.2020, Nr. 187, S. 25).
Aus der klinischen Forschung wissen wir, dass sich Suizidenten in der Regel verzweifelt und in großer seelischer Not nach Ruhe und Frieden sehnen. Sie wollen so nicht weiterleben. Das Urteil ist von dem Wunsch getragen, diesen Menschen helfen zu wollen, harte Suizidmethoden zu verhindern und ein „sanftes Einschlafen“ zu ermöglichen. Das Gericht blickt nicht der Tatsache ins Auge, dass mit der Selbsttötung, auch durch Medikamente, der Wunsch nach Ruhe und Frieden gerade nicht erfüllt werden kann. Die Empfindung von Ruhe und Frieden setzt Leben voraus.
Das Bundesverfassungsgericht folgt einem Autonomieverständnis, dass die Abhängigkeit von und das Angewiesensein des Einzelnen auf andere Menschen als basale Bedingung menschlicher Existenz verleugnet. Das spricht Reents indirekt an, wenn er die Rücksichtslosigkeit des Urteils gegenüber Hinterbliebenen benennt.
Wenn Bischof Meister von der hannoversche Landeskirche sogar davon spricht, dass der Mensch grundsätzlich ein theologisches Recht auf Selbsttötung habe, lässt dies erahnen, wie fortgeschritten die Selbstsäkularisierung innerhalb der Evangelischen Kirche bereits ist. Die Kirche als Vordenker eines gottlosen Lebens und Sterbens! Zumindest in diesem Sinne wird der missionarische Auftrag noch ernst genommen.