Vor etwa 20 Jahren habe ich mich ergiebig mit dem Verhältnis von Seelsorge und Psychologie o. Psychotherapie beschäftigt und bin dabei unter anderem bei der Feministin Isolde Karle gelandet. An der Seelsorgelehre in der Tradition Schleiermachschers hat mich immer abgeschreckt, dass die Theologie fast völlig für die Anthropologie verzweckt wurde. Alles, selbst Gott, dreht sich um den Menschen. Ein ähnliches Unbehagen empfand ich bei der Lektüre von Seelsorge in der Moderne, auch wenn ich dankbar war, dass Karle der Gemeinde in der Seelsorge wieder mehr Raum zugestehen wollte. Zitat (Seelsorge in der Moderne, 1996, S. 224):
Der Realitätsbezug der Parochie scheint manchen Pastoralpsychologen
aufgrund ihrer starken Orientierung an der psychotherapeutischen
Praxis verloren gegangen zu sein. Selbst Scharfenbergs Beispiele
erinnern eher an die therapeutische, denn an die parochial-seelsorgerliche
Praxis, obwohl er sich intensiv um die Vermittlung beider
Beratungsformen bemüht.
Als ich verstand, dass sie sich in postmoderner Manier für die Destabilisierung der Zweigeschlechtlichkeit stark macht, hatte sich mich dann allerdings völlig verloren (S. 191):
Eine Überwindung der Geschlechterbinarität ist nicht wahrscheinlich, solange unsere Kultur die Zuordnung zu einem Geschlecht so wichtig nimmt. Dennoch ist eine Destabilisierung der Geschlechterpolarität möglich und gesellschaftlich längst schon im Gange. Wie im ersten Kapitel dieser Studie ausführlich dargestellt, läßt sich eine Diversifizierung der Geschlechter: beobachten, die mit den Modernisierungsund sozialen Wandlungsprozessen der letzten Jahrzehnte einhergeht. Durch die „nachholende Individualisierung“ von Frauen, durch ihre Partizipation an den Funktionssystemen der Gesellschaft, durch die Selbstverständlichkeit der Berufstätigkeit von Frauen sind Entdifferenzierungsprozesse in Gang gekommen, die das zweigeschlechtliche Symbolsystem relativieren. Wenn Frauen die Tätigkeiten von Männern und Männer die Tätigkeiten von Frauen übernehmen, verlieren die geschlechtsdifferenzierenden Bedeutungen von Tätigkeiten ihren Sinn. Nehmen die Optionen, das eigene Leben individuell zu gestalten, zu, werden die Selbstkonzepte und damit die Identitäten auch und gerade im Hinblick auf das je eigene Geschlecht variabler und vielfältiger. Durch zunehmende Überlappungen und Grenzüberschreitungen schleift sich die Schärfe des Geschlechterdualismus ab und verliert dieser tendenziell seine Polarität.
Frau Prof. Karle gehört zu jenen evangelischen Theologen und Theologinnen, die diakonischen Einrichtungen in Ausnahmefällen den assistierten Suizid ermöglichen möchten (vgl. hier). Sie wurde kürzlich von Ute Welty für den DLF zu dem von ihr mitgetragenen Vorstoß interviewt. Frau Karle lehnt die Mithilfe bei einem affektiven Suizidwunsch strickt ab. Auch Beihilfe bei einem gefestigten Suizidwunsch muss die „absolute Ausnahme“ bleiben. Wenn sie jedoch angemessen scheint, sei das ein Akt christlicher Nächstenliebe.
Dieses Umdeuten ist nicht ganz neu. Ich habe es hier bereits vor 9 Jahren vorgestellt und kritisiert. Alan Mann und Steve Chalke hatten die aktive Sterbehilfe wie folgt „geframed“:
Der Christ kann in der Euthanasie – und das betrifft auch die aktive Sterbehilfe – keinen Akt der autonomen Selbstbestimmung sehen, denn das stellte die Usurpation göttlichen Rechts dar, Leben zu nehmen. Eine solche Entscheidung sollte von einer fürsorglichen und mitfühlenden Gemeinschaft im Glauben getroffen werden. Sie dem Einzelnen zu überlassen, wäre ein Akt höchstmöglicher Preisgabe und widerspräche diametral der ethischen Einstellung eines jeden, der behauptet, Nachfolger Jesu zu sein.
Wir nehmen kein Leben, sondern räumen dem Einzelnen das Recht ein, von sich aus auf ein Weiterleben zu verzichten und dem Gott, der das Leben gegeben hat zu vertrauen, dass nichts uns „kann scheiden von der Liebe Christi … weder Leiden noch Tod“ (Röm 8,35ff.).
Genau lesen. Der Einzelne hat nicht die Vollmacht, sich über von Gott gesetzte Grenzen hinwegzusetzen. Die Gemeinschaft der Glaubenden darf allerdings – so die beiden Emergenten – im Glauben die Gebote Gottes suspendieren. Und derjenige, der sein Leben gewollt beendet, stiehlt nicht etwa das Geschenk des Lebens. Nein, er verzichtet bescheiden auf das Leben.
Das ist die sanfte Umdeutung der christlichen Botschaft, die heutzutage fast überall aufblitzt und leider auch von vielen, die ihre Bibel lesen, nicht erkannt wird.
Wer das glaubt, wird nicht selig.
Hier nun das Interview mit Prof. Karle:
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2021/01/26/soll_die_evangelische_kirche_den_assistierten_suizid_drk_20210126_0740_3276c3ce.mp3