Wahrheit

Was ist Wahrheit?

Die meisten Menschen haben ein ganz gutes Gespür dafür, was Wahrheit ist. Andererseits ist »Wahrheit« umstrittener als jeder andere Begriff. Ohne große Anstrengungen wäre es möglich, mehr als 10 Wahrheitstheorien aufzulisten, die in den Geisteswissenschaften oder der Wissenschaftstheorie miteinander konkurrieren. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Wahrheit eine lange und nicht immer ruhmreiche Geschichte hat. Im Namen der Wahrheit wurden bedeutende Bücher verfasst und Menschen befreit. Doch im Namen der Wahrheit wurden ebenfalls furchtbarste Verbrechen verübt, Fehlurteile gefällt und tragische Kriege angezettelt. Der Wahrheitsbegriff ist also zwiespältig und komplex.

Anbei ein kleiner Vortrag zum Thema »Was ist Wahrheit?«, den ich im Januar in einer Gemeinde gehalten habe: wasistwahrheit.pdf. Außerdem die dazugehörigen Folien im Flash-Format: wasistwahrheit.swf.

Alltägliche Wahrheitsstrategien und Argumentationen

Vor einigen Wochen habe ich an dieser Stelle das Buch Wahrheit und Wandel von Christian Bensel vorgestellt. Die Dissertation ist inzwischen auch als PDF online und kann unter folgender Adresse abgerufen werden: http://sammelpunkt.philo.at:8080/1586.

Abstract: Ist Wahrheit wirklich relativ, wandelbar und kulturell bedingt? Sind sogar unsere Wahrheitskriterien kulturabhängig? Neun Kriterien werden aus der Diskussion verschiedener Theorien gewonnen und helfen bei der Beantwortung dieser Fragen. Über alltägliche, praktische Zusammenhänge von Wahrheit, Wissen, Sprache und Argumentation führen sie zu neun Wahrheitsstrategien. Diese Strategien sind gesellschaftlich akzeptierte Handlungen, die Überzeugungen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. Da sie in Argumentationen zu finden sind, untersucht diese Arbeit fünf apologetische Texte aus verschiedenen Epochen und Kulturen, die versuchen, so allgemein akzeptabel wie möglich für ihre christlichen Überzeugungen zu argumentieren. Die Analyse der enthaltenen 3393 Argumentationen zeigt gemeinsame Strategien und vergleichbares argumentatives Verhalten. Diese Ergebnisse belegen die epochen- und kulturübergreifende Akzeptanz gewisser grundlegender Überzeugungen und legen die Existenz allgemein menschlicher Wahrheitsstrategien nahe.

Wahrheit und Wandel

Zur Zeit behauptet kaum jemand einen ahistorischen Wahrheitsbegriff. Für viele Menschen ist Wahrheit relativ, kulturell bedingt und damit wandelbar.

Christian Bensel hat während seiner Promotion an der philosophisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität das historische Wahrheitskonzept kritisch geprüft und dafür fünf christliche apologetische Texte aus verschiedenen Epochen und Kulturen untersucht (Justin der Märtyrer, Aurelius Augustinus, Petrus Venerabilis, Josh McDowell, und Jürgen Spieß). Seine Analyse der enthaltenen 3393 Argumentationen zeigt (für manche wahrscheinlich überraschend), dass die Autoren auf gemeinsame Strategien und vergleichbares argumentatives Verhalten zurückgreifen. Die Ergebnisse der empirischen Arbeit belegen eine epochen- und kulturübergreifende Akzeptanz gewisser grundlegender Überzeugungen und legen die Existenz allgemein menschlicher Wahrheitsstrategien nahe.

Das Buch richtet sich an Philosophen, Linguisten und alle, die sich für Apologetik, Argumentation oder kulturübergreifende Kommunikation interessieren. Auch Theologen, die sich dem existentiellen Wahrheitsbegriff verschrieben haben, sei die nicht ganz einfache Lektüre sehr empfohlen.

Christian Bensel. Wahrheit und Wandel: Alltägliche Wahrheitsstrategien und Argumentationen in apologetischen Texten. Saarbrücken: Vdm Verlag Dr. Müller, 2007. ISBN 3836420708, 59,00 €.

Über Lüge, Bullshit und die Wahrheit

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Noch gut kann ich mich an jenen Moment erinnern, in dem ich das sonderbar kleine Büchlein mit dem Titel Bullshit zu lesen begann. Der amerikanische Autor Harry G. Frankfurt eröffnet seinen Essay mit dem bemerkenswerten Satz: »Zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, daß es so viel Bullshit gibt.«

Die Textvorlage für das Essay lag fast zwei Jahrzehnte in einer Ablage. Das Buch spricht all jenen aus dem Herzen, denen die Deutungshoheit der Bullshiter unerträglich geworden ist. Bullshiter tun so, als betrieben sie Vermittlung von Informationen, tatsächlich manipulieren sie Meinungen und Einstellungen von Menschen in ihrem eigenen Interesse. So sind wir umgeben von Meinungsmüll, der eine Unterscheidung von Wahrheit und Lüge kaum mehr zulässt. Die Kultur des Alltags ist die Kultur des Bullshits.

Der Lügner hat – in einem gewissen Sinn – noch Respekt vor der Wahrheit. Wer lügt, weiß, das ihm die Wahrheit gefährlich werden kann. Der Bullshiter interessiert sich nicht für die Wahrheit, sondern für die Durchsetzung seiner Interessen. Insofern kommt Frank­furt zu dem Ergebnis, dass das Desinteresse an der Wahrheit moralisch verwerflicher ist als das Lügen (welches auch verwerflich ist).

Der aufmerksame Leser des seltsamen Bestsellers konnte spüren, dass Frankfurt noch mehr zu sagen hat. Neugierig macht zum Beispiel folgender Abschnitt:

Die gegenwärtige Verbreitung von Bullshit hat ihre tieferen Ursachen auch in diversen Formen eines Skeptizismus, der uns die Möglichkeit eines zuverlässigen Zugangs zur objektiven Realität abspricht und behauptet, wir könnten letztlich gar nicht erkennen, wie die Dinge wirklich sind. Diese »antirealistischen« Doktrinen untergraben unser Vertrauen in den Wert unvoreingenommener Bemühungen um die Klärung der Frage, was wahr und was falsch ist, und sogar unser Vertrauen in das Konzept einer objektiven Forschung. Eine Reaktion auf diesen Vertrauensverlust besteht in der Abkehr von jener Form der Disziplin, die für die Verfolgung eines Ideals der Richtigkeit erforderlich ist, und der Hinwendung zu einer Disziplin, wie sie die Verfolgung eines alternativen Ideals erfordert, nämlich eines Ideals der Aufrichtigkeit. Statt sich in erster Linie um eine richtige Darstellung der gemeinsamen Welt zu bemühen, wendet der einzelne sich dem Versuch zu, eine aufrichtige Darstellung seiner selbst zu geben. In der Überzeugung, die Realität besitze keine innerste Natur, die als wahre Natur der Dinge zu erkennen er hoffen dürfe, bemüht er sich um Wahrhaftigkeit im Hinblick auf seine eigene Natur. Es ist, als meinte er, da das Bemühen um Tatsachentreue sich als sinnlos erwiesen habe, müsse er nun versuchen, sich selbst treu zu sein. (Bullshit, S. 9)

Inzwischen liegt die Übersetzung eines neuen Buches von Frankfurt vor. Das nur bescheidene 93 Seiten umfassende Werk trägt den ganz und gar nicht zurückhaltenden Titel: Über die Wahrheit. Es ist ein Pamphlet gegen den postmodernen Skeptizismus im Sinne Richard Rortys oder Hilary Putnams. Frankfurt spricht nun lautstark aus, was er in Bullshit stillschweigend voraussetzt: Man kann wahre von falschen Aussagen unterscheiden.

Frankfurt umschifft epistemologische Diskussionen und verzichtet auf eine philosophische Definition von Wahrheit. Sein Interesse gilt der Verteidigung eines pragmatischen Wahrheitsbegriffs. Die Wahrheit als Alltagsvernunft sei wegen ihres praktischen Nutzens unaufgebar. Wir können ohne Wahrheit, so der Philosoph, einfach nicht leben.

In allen Dingen, die wir unternehmen, und daher im Leben überhaupt hängt der Erfolg oder Mißerfolg davon ab, ob wir uns von der Wahrheit leiten lassen oder ob wir in Unwissenheit oder auf der Grundlage von Unwahrheit vorgehen. Er hängt natürlich auch ganz entscheidend davon ab, was wir mit der Wahrheit anfangen. Ohne Wahrheit jedoch sind wir vom Glück verlassen, bevor wir Überhaupt begonnen haben. Wir können wirklich nicht ohne Wahrheit leben. Wir brauchen die Wahrheit nicht nur, um zu verstehen, wie wir gut leben sollen, sondern auch, um zu wissen, wie wir überhaupt überleben können. (Über die Wahrheit, S. 36–37)

Das Buch kann überall im Buchhandel für 10,00 € erworben werden: Harry G. Frankfurt, Über die Wahrheit. München: Hanser, 2007, ISBN 3446208380.

Ein Interview mit Harry Frankfurt zum Buch finden Sie hier.

Was hat Kierkegaard mit der Emerging Church zu tun?

Hören wir, wie zugespitzt bei Sören Kierkegaard die leidenschaftliche Innerlichkeit zum Wahrheitskriterium der Gottesfrage wird.

Wenn einer, der mitten im Christentum lebt, zu Gottes Haus hinaufsteigt, zu des wahren Gottes Haus, mit der wahren Vorstellung von Gott im Wissen, und dann betet, aber in Unwahrheit betet; und wenn einer in einem heidnischen Lande lebt, aber mit der ganzen Leidenschaft der Unendlichkeit betet, obgleich sein Auge auf einem Götzenbild ruht: wo ist dann am meisten Wahrheit? Der eine betet in Wahrheit zu Gott, obgleich er einen Götzen anbetet; der andere betet in Unwahrheit zu dem wahren Gott, und betet daher in Wahrheit einen Götzen an. (Unwissenschaftliche Nachschrift: 342)

Es würde mich nicht wundern, wenn dieses Gleichnis von der »Emerging Church-Bewegung« positiv aufgenommen wird.

Kurz: Die Emerging Church-Bewegung (EmCh) (engl. ›to emerge‹: ›auftauchen‹, ›sich bilden‹, ›sichtbar werden‹) ist eine post-evangelikale Reformbewegung innerhalb konservativer und westlich geprägter christlicher Kreise. Die Väter der Bewegung versuchen den christlichen Glauben gegenwartsnah zu gestalten und den postmodernen Strukturen und Codes anzupassen. (Was in gewisser Weise in der Tat hilfreich sein kann und von Teilen der Bewegung auf beeindruckend erfolgreiche Weise umgesetzt wird.)

Wichtigster Vordenker der Bewegung ist Brian McLaren, der früher zu einer Brüdergemeinde gehörte. McLaren dekonstruiert viele (und darunter wesentliche) Begriffe und Positionen der reformatorischen Lehre und definiert sie aus seinem postmodernen Verstehenshorizont heraus neu. Diese Reformulierungen seien nötig, da die reformatorische Lehre auf dem Hintergrund des modernen Weltbildes entwickelt worden sei. McLaren steht in der existentialistischen Tradition und äußerst sich skeptisch gegenüber einem inhaltlich bestimmbaren oder bestimmten Glauben. Obwohl er persönlich meint, dass es außerhalb des Erlösungswerkes von Jesus Christus kein Heil gibt, hält er an der Option fest, dass Gott auch außerhalb des Glaubens an Jesus Christus Heil vermittelt. Christen sollen (im Namen von Jesus Christus) Freunde anderer religiöser Gemeinschaften werden und sich für das Wachstum des Weizens in allen Religionen einsetzen (vgl. McLaren, A generous or+hodoxy: 287) McLaren schreibt:

Es mag unter vielen (nicht allen!) Umständen ratsam sein, Menschen zu helfen, Nachfolger Jesu zu werden und [Hervorhebung im Original] dabei in ihrem buddhistischen, hinduistischen oder jüdischen Kontext zu belassen. (A generous or+hodoxy: 293)

Ich finde diesen Gedanken dichotomisch. McLaren erweckt zunächst den Eindruck, es wäre unmöglich, Respekt vor anderen Religionen und Kulturen zu haben und zugleich missionarisch zu einem »Glaubenswechsel« einzuladen. (Genauso, wie er wohl in Frage stellt, dass man Respekt für Homosexuelle haben könne, wenn man eine weitere rechtliche Privilegierung Homosexueller, z.B. in der Familienpolitik, ablehne. Vgl. McLaren, A generous or+hodoxy: 20). Tatsächlich setzt sich z. B. gerade die Evangelische Allianz seit ihrer Gründung 1846 für den Schutz anderer Religionen und Minderheiten ein (Vgl. dazu Karl Heinz Voigt u. Thomas Schirrmacher (Hrsg.), Menschenrechte für Minderheiten in Deutschland und Europa, Bonn: VKW 2004). Außerdem sehe ich hier eine Dichotomie zwischen inneren Glaubensüberzeugungen und äußerlichen Glaubensbekundungen. In der Reformationszeit nannte man Menschen, die innerlich der Reformation zustimmten und dennoch an der Eucharistie teilnahmen, Nikodemiten. Sie waren die verborgenen Evangelischen, da sie Diskriminierung und Verfolgung fürchteten. (Der Begriff leitet sich von Nikodemus ab, der ein öffentliches Bekenntnis zu Jesus scheute. Vgl. Joh 3). Sollte McLaren von einem »anonymen Christsein« ausgehen (im Sinne Karl Rahners) oder gar keinen substantiellen Unterschied zwischen dem eigentlich »Guten«, »Heiligen« oder »Göttlichen« in den unterschiedlichen Religionen ausmachen, umgeht er zwar diese Aufspaltung, zahlt jedoch einen hohen Preis. Eine Prüfung der Geister scheint dann nicht mehr möglich zu sein.

Ein anderer Vordenker der Bewegung ist Dave Tomlinson, der im Jahre 1995 sein bemerkenswertes Buch The Post-Evangelical veröffentlichte. Ein Gleichnis aus diesem Buch erinnert stark an Kierkegaards oben zitierte Illustration des subjektiven Wahrheitsbegriffes.

Jesus erzählte auf einer Versammlung evangelikaler Verantwortlicher ein Gleichnis. Ein Spring-Harvest-Redner und ein liberaler Bischof setzten sich und lasen, jeder für sich, die Bibel. Der Spring-Harvest-Redner dankte Gott für das herrliche Geschenk der Heiligen Schrift und gelobte einmal mehr, sie vertrauensvoll öffentlich zu verkündigen. »Danke, Gott«, betete er, »daß ich nicht bin wie dieser arme Bischof, der dein Wort nicht glaubt, und der unfähig scheint, sich zu entscheiden, ob Christus nun von den Toten auferstanden ist oder nicht.« Der Bischof schaute verlegen, als er die Bibel durchblätterte, und sagte, »Jungfrauengeburt, Wasser zu Wein, leibliche Auferstehung. Ich weiß ehrlich nicht, ob ich diese Dinge glauben kann, Herr. Ich bin mir nicht einmal sicher, daß ich glaube, daß du ein personales Wesen bist, aber ich werde weiter auf der Suche bleiben.« Ich sage euch, dieser liberale Bischof ging vor Gott gerechtfertigt nach Hause, nicht jener. (Tomlinson, 2003: 61f, zitiert aus Knieling, Unsicher – und doch gewiß, 1999: 101–102)

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