Wilfried Härle

Habeas Corpus gilt auch für die Organspende

Wilfried Härle äußerte sich am 6. Februar kritisch zur angestrebten Widerspruchslösung bei der Organspende (FAZ vom 06.02.25, Nr. 31, S. 6):

Mit der Widerspruchsregelung wird eines der frühesten anerkannten Menschenrechte – nach dem Recht der Religionsfreiheit – in subtiler Weise aufgeweicht, ja ausgehebelt: das Menschenrecht, das in der Habeas-Corpus-Akte von 1679 allen Bürgern Englands vom König verbrieft wurde und das seitdem als ein Grundpfeiler jedes Rechtsstaates gilt. Dieses Menschenrecht besagt, dass die Regierung eines Landes keinen Rechtsanspruch auf die leibliche Existenz ihrer Bürger hat, es sei denn, sie hätten dieses Recht durch einen schweren, richterlich festgestellten Verstoß gegen die gesetzliche Ordnung verwirkt. Aber unter der Bedingung der Widerspruchsregelung gehört mein Körper zunächst nicht mir, sondern meinem Staat oder meiner Gesellschaft, und wenn ich mich dem verweigern will, muss ich das ausdrücklich dokumentieren. Die Besitzverhältnisse im Blick auf den menschlichen Leib werden damit umgekehrt.

Sollte die Widerspruchsregelung im Blick auf die Organentnahme auch bei uns in einem erneuten Anlauf doch Rechtskraft erhalten, so würde ich am selben Tag meinen Spenderausweis vernichten und meinen Widerspruch gegen die Organ„spende“ erklären, weil sie dann keine Spende mehr wäre. Das glaube ich meinen Kindern und Enkeln, ja meinem Land schuldig zu sein.

Mehr: zeitung.faz.net.

Offener Brief von Wilfried Härle

Der evangelische Dogmatiker Prof. Dr. Wilfried Härle hat einen Offenen Brief an den Ratsvorsitzenden der EKD zur Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ verfasst.

Ich zitiere aus dem mir vorliegenden Schreiben:

Die evangelische Kirche ist von ihrem Ursprung her bestimmt von der Grundüberzeugung, dass ihr die Offenbarung Gottes, die sie in dieser Welt zu bezeugen hat, auf keinem anderen Weg überliefert ist als durch die Bibel. Deshalb gewinnt die Kirche ihre Orientierung aus der Heiligen Schrift, die aus sich selbst auszulegen ist. Dieser Grundüberzeugung setzt der EKD-Text (S. 13) die These entgegen: „Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familialen Zusammenlebens bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und damit Orientierung geben“. Damit wird die Orientierungsfunktion der Bibel für Kirche und Theologie ersetzt durch die Orientierungsaufgabe, die Kirche und Theologie durch die Art ihrer Auslegung der Bibel wahrnehmen sollten. Und woran orientiert sich diese Auslegung, wenn nicht am Wortlaut der Bibel und damit an dem durch ihn bezeugten Inhalt der Schrift? In der vorliegenden Orientierungshilfe ist es offensichtlich die „historische Bedingtheit des familialen Zusammenlebens“, wie die Verfasser dieses Textes sie sehen. Eine Folge dessen ist, dass die schöpfungstheologische Aussage über das Zusammenleben von Mann und Frau (Gen 2,24), die im Neuen Testament, insbesondere von Jesus, so oft zitiert wird, wie kein anderer Text, faktisch auf die mehrfach zitierte Formel reduziert wird: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“. Und der EKD-Text versteigt sich sogar zu der Behauptung, ein normatives Verständnis der Ehe als göttliche Stiftung entspreche nicht dem biblischen Zeugnis. Und das nennt er selbst „Theologische Orientierung“.

Der zweite Bruch mit einer evangelischen Grundüberzeugung findet dort statt, wo der EKD-Text sein erweitertes Familienverständnis gegen alle normativen Aussagen über (geschlechtsbedingte) Lebensformen in Stellung bringt: „Wo Menschen auf Dauer und im Zusammenhang der Generationen Verantwortung füreinander übernehmen, sollten sie Unterstützung in Kirche, Gesellschaft und Staat erfahren. Dabei darf die Form, in der Familie und Partnerschaft gelebt werden, nicht ausschlaggebend sein. Alle familiären Beziehungen, in denen sich Menschen in Freiheit und verlässlich aneinander binden, füreinander Verantwortung übernehmen und fürsorglich und respektvoll miteinander umgehen, müssen auf die Unterstützung der evangelischen Kirche bauen können.“ (S. 141) Wenn man diese Aussagen ernst nimmt, heißt das, dass die evangelische Kirche in Zukunft Bigamie, Polygamie, sexuelle Dauerbeziehungen in Kommunen, inzestuöse Lebensverhältnisse etc. tatkräftig unterstützen muss, wenn diese Lebensformen in Freiheit, Verlässlichkeit, Verantwortung, Fürsorge und Respekt eingegangen und geführt werden.

Sollte dies tatsächlich die Meinung (des Rates) der EKD sein, dann folgt daraus u. a., dass auch für Pfarrerinnen und Pfarrer künftig die Form, in der sie Familie und Partnerschaft leben, nicht ausschlaggebend sein darf. Sollte man dem Rat der EKD empfehlen, diese beiden fatalen Brüche mit den normativen Grundlagen der evangelischen Kirche nachträglich aus dem Text herauszunehmen und den Rest zu erhalten? Bei diesem Versuch würde sich voraussichtlich zeigen, dass genau dies in methodischer Hinsicht die beiden tragenden Pfeiler des ganzen Textes sind, ohne die er in sich zusammenbräche. Aber ich fände: immer noch besser, der Text bräche zusammen, als dass die evangelische Kirche theologisch den Boden unter den Füßen verliert.

VD: EP

Die Grenzen der kontextuellen Theologie

Die kontextuelle Theologie akzeptiert sozio-politische, religiöse, ökonomische und kulturelle Bedingtheiten einer Gesellschaft als nicht hintergehbaren Bezugsrahmen ihrer Reflexion. Entsprechend will die radikale Kontextualisierung nicht nur die Anpassung der in jüdisch-hellenistischer Umwelt formulierten christlichen Botschaft an ein neues kulturelles Umfeld, sondern einen Dialog dieser Botschaft mit der Kultur. Der kontextuellen Theologie geht es also um mehr als um ein Verstehen des lebensweltlichen Kontextes, denn der Kontext wird zum Text.

Nach Wilfried Härle überschreitet die kontextuelle Theologie deshalb eine Grenze. Wenn die Kultur neue Inhalte des Glaubens einspeist, wird der Glaube verfremdet (vgl. Dogmatik, S. 182). Allerdings lässt sich dieser Verfremdung meist nicht so ohne weiteres aufdecken. Denn diese Theologien treten, „(sei es aus Überzeugung, sei es aus taktischen Überlegungen) in der Regel mit dem Anspruch auf, nichts anderes als sachgemäße und zeitgemäße Interpretation der christlichen Botschaft für die gegenwärtige Lebenswelt zu sein“ (S. 182).

Härle gibt drei Hinweise im Blick auf Fremdeinspeisung in die Theologie (S. 182):

• Das kann in subtiler Weise schon dort geschehen, wo nur solche Aussagen des christlichen Glaubens zugelassen werden, die sich als Antworten auf Fragen ausweisen lassen, die im jeweiligen lebensweltlichen Kontext tatsächlich gestellt werden.

• In deutlicherer Form geschieht das dort, wo die in der Lebenswelt anerkannten Überzeugungen und Standards den unhinterfragbaren Rahmen abgeben, innerhalb dessen sich die christlichen Glaubensaussagen zu bewegen haben.

• Unübersehbar ist das dort der Fall, wo nur einzelne Elemente des christlichen Glaubens ausgewählt und zugelassen werden, sofern sie sich als Versatzstücke mit einem anderswoher gewonnenen (z. B. faschistischen, marxistischen, humanistischen) Wirklichkeitsverständnis verbinden lassen und dieses komplettieren, verstärken oder illustrieren.

Es lohnt sich, theologische Werke der letzten Jahrzehnte entsprechend dieser Hinweise zu befragen.

Ist die Wirklichkeit nur ein Konstrukt?

Der Dogmatiker Wilfried Härle setzt sich in seinem Aufsatz „Die Wirklichkeit – unser Konstrukt oder widerständige Realität?“ mit dem erkenntnistheoretischen und ontologischen Konstruktivismus auseinander. Am Ende seiner Untersuchung kommt Härle nicht umhin, dem radikalen Konstruktivismus das Prädikat „außerordentlich gefährliche Theorie“ auszustellen:

Dass jede Deutung bzw. Interpretation unserer Wirklichkeitserfahrungen mittels sprachlicher, kulturell vereinbarter Zeichen die Wirklichkeit nur ungenau, unzureichend oder ganz verkehrt erfassen kann, ist wohl richtig, aber das bedeutet nicht, dass die Unterscheidung zwischen res und intellectus, zwischen Wirklichkeit und Sprache sinnlos oder überflüssig wäre, im Gegenteil: Gerade weil unser Denken und Reden so irrtumsanfällig ist, müssen wir nicht nur den Dialog untereinander suchen, um uns mit neuen Wahrnehmungen, Perspektiven und Einsichten konfrontieren zu lassen, sondern wir müssen uns dem Kontakt und der Kontrolle durch die widerständige Realität aussetzen, und dabei können wir dessen innewerden, dass es diesen Segen der Möglichkeit des Irrtums gibt, der als erkannter Irrtum ja immer schon eine Wahrheitserkenntnis, folglich der erste Schritt zum Lernen und damit zu einem angemesseneren Umgang mit der Wirklichkeit ist. Deswegen bin ich der Überzeugung, dass der Radikale Konstruktivismus grundfalsch ist. Er lebt von einer Einsicht, die an ihrer Stelle (auf der Ebene der Drittheit) richtig und wichtig ist, er generalisiert diese Einsicht und wendet sie auf Ebenen bzw. Schichten des Erkennens und der erkannten Wirklichkeit an, auf denen sie nicht gilt. Darum hat der Radikale Konstruktivismus als Theorie für mich selbst den Charakter eines Irrtums, den man erkennen und vermeiden oder überwinden kann.

Ich kann ihm in diesem Punkt nur zustimmen. Und was für ein wunderbarer Schlusssatz:

Aber gegen diese drohende – und in der Geschichte immer wieder realisierte – Ersetzung der Wahrheitsfrage durch die Machtfrage gibt es einen Impuls aus der christlichen Überlieferung, an dem wir uns nicht irremachen lassen sollten – auch um derer willen, die die Wahrheitsfrage längst vergessen oder ersetzt haben. Ich meine die Aussagen des johanneischen Christus aus Johannes 18,37 und 8,31f.: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“ und: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“. Darauf kommt es an.

Der Aufsatz „Die Wirklichkeit – unser Konstrukt oder widerständige Realität?“ ist in dem Buch:

zu finden (S. 54–68).

›De servo arbitrio‹

Wilfried Härle schreibt in seiner Einleitung zu Luthers Kampfschrift Disputationsfrage über die Kräfte und den Willen des Menschen ohne Gnade (Martin Luther: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Band 1: Der Mensch vor Gott, Leipzig, 2006, S. XI):

Ganz am Ende von ›De servo arbitrio‹ spricht Martin Luther (1483-1546) seinen Widerpart Erasmus von Rotterdam (ca. 1466–1536) noch einmal direkt an – diesmal frei von Ironie, Polemik, Zorn oder Empörung. Er schreibt: »Dann lobe und preise ich dich auch deswegen außerordentlich, dass du als einziger von allen die Sache selbst angegangen bist, das heißt: den Inbegriff der Verhandlung, und mich nicht ermüdest mit jenen nebensächlichen Verhandlungen über das Papsttum, das Fegfeuer, den Ablass und ähnliche Verhandlungsgegenstände – oder vielmehr: dummes Zeug -, mit denen mich bisher fast alle vergeblich verfolgt haben. Nur du allein hast den Dreh- und Angelpunkt der Dinge gesehen und den Hauptpunkt selbst angegriffen, wofür ich dir von Herzen Dank sage.«

Diese Sätze besagen nicht etwa, dass Luther nun am Ende der Auseinandersetzung seine Kritik an Erasmus sachlich zurücknähme oder auch nur abmilderte. Im Gegenteil: Wenige Sätze später heißt es: »Dass du diesem unserem Fall gewachsen wärest, hat Gott noch nicht gewollt und nicht gegeben. Ich bitte dich, du wollest das als mit keiner Anmaßung gesagt verstehen. Ich bete aber darum, der Herr möge dich bald in dieser Sache mir so überlegen machen, wie du mir in allem anderen überlegen bist.«

Die zitierten Aussagen Luthers zeigen Zweierlei, das von großer Bedeutung ist: einerseits, worin nach Luthers eigener Auffassung das Zentrum der Kontroverse mit der römischen Kirche – aber auch mit den sog. Schwärmern – nicht zu suchen ist, nämlich in der Lehre vom Papsttum, vom Fegfeuer und vom Ablass, und sie zeigen andererseits, dass nach Luthers Auffassung der Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung in der Frage nach der Entscheidungsfreiheit und der Kraft des menschlichen Willens liegt.

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