Walter Brueggemann: Wie lesen wir die Bibel?

Walter Brueggemanns Aufsatz zum Thema „Bibel und Homosexualität“ hat weite Verbreitung gefunden. Der auf einer katholischen pro LGBGT+-Plattform erschienene Text ist in mancherlei Hinsicht aufschlussreich. Brueggemann, der als Bibelausleger von vielen konservativen Christen geschätzt wird, erklärt einerseits, dass die biblischen Texte, die sich speziell mit homosexuellen Praktiken befassen, diese bedingungslos verurteilen. Gleichzeitig beruft er sich auf die Vielstimmigkeit der Heiligen Schrift und fordert, dass die Verbote durch das Evangelium überboten werden. Für aufrichtige Christen heißt das: Sie müssen die eindeutigen biblischen Gebote ablehnen, um das Evangelium zur Geltung zu bringen. Das klingt etwa so:

Die exegetische Situation ist klar: Wir wissen, was der Text sagt. Aber was sollen wir mit dem tun, was der Text sagt? Ich halte es für wichtig, klar zu sagen, dass wir die eindeutigen Gebote der Heiligen Schrift ablehnen und uns stattdessen auf eine andere Autorität berufen, wenn wir erklären, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften heilig und gut sein können.

Ian Paul hat diesen Aufsatz gründlich analysiert und kommt zu dem Ergebnis:

Und es lässt sich nicht leugnen, dass verschiedene biblische Texte beim ersten Lesen in Bezug auf zentrale Themen wie Gewalt, Sklaverei, die Rolle der Frau – und natürlich den Gehorsam gegenüber der Tora – in Spannung zueinander zu stehen scheinen. Die Frage ist: Worin besteht diese Spannung? Hat das mit unterschiedlichen kulturellen und kontextuellen Aspekten zu tun, oder sind diese Spannungen auf unüberbrückbare Widersprüche zurückzuführen? Bei jedem dieser strittigen Themen scheinen verschiedene Texte zunächst in ihrem direkten Bezug auf das jeweilige Thema in Spannung zueinander zu stehen. Wir sollten nicht zu Texten greifen, die nichts miteinander zu tun haben, um das Gesamtbild, das die Heilige Schrift bietet, zu widerlegen.

Aber hier liegt die Ironie: Während Brueggemann behauptet, dass „die Bibel zu keinem Thema mit einer einzigen Stimme spricht“, ist die gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivität das eine Thema, zu dem die Bibel tatsächlich „mit einer einzigen Stimme“ zu sprechen scheint. Die Menschheit ist nach dem Bilde Gottes erschaffen als Mann und Frau und die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau wird als Ausdruck dieses Schöpfungsmusters dargestellt. Die levitische Ablehnung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen scheint sich auf diesen Bericht zu stützen und sowohl Paulus als auch Jesus beziehen sich ausdrücklich darauf: Jesus in seinem Verständnis der Ehe und Paulus speziell in seiner Ablehnung gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs, wobei er sich in Römer 1 auf die Schöpfung und in 1. Korinther 6,9 und 1. Timotheus 1,9 auf den levitischen Kodex beruft.

Das vielleicht Hilfreichste, was Brueggemann in seinem Artikel für uns tut, ist hervorzuheben, dass die heutige Debatte über Sexualität in der Kirche im Kern eine Debatte über die Bibel ist. Können wir der Schrift vertrauen, dass sie die Wahrheit Gottes zu uns spricht? Ist die Schrift „Gottes geschriebenes Wort“, das eine wesentliche theologische Kohärenz aufweist (vgl. Artikel XX in den XXXIX Articles of Religion), oder ist sie ein Gemisch aus Gottes guter Nachricht an uns, in das sich sündige und sogar abstoßende menschliche Ideen gemischt haben und wir somit das eine vom anderen trennen müssen, um das Gold des Evangeliums aus der biblischen Schlacke zu retten?

Die Analyse von Ian Paul ist bei Evangelium21 erschienen: www.evangelium21.net.

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3 Kommentare
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Udo
1 Jahr zuvor

Die Unterscheidung von Brüggemann zwischen biblischen „Texten der Strenge“ und „Texten des Willkommens“ mit dem Resultat, dass die „Texte der Strenge“ verworfen werden, weil sie nicht dem eigenen Verständnis von „Evangelium“ entsprechen, hat sich meiner Wahrnehmung nach wie eine Nebelbank über die Verkündigung in unseren Kirchen und Gemeinden gelegt. Dass Christusnachfolge anspruchsvoll ist und auch mit Leid und Nachteilen verbunden ist, dass der Mensch ohne die Rechtfertigung durch Christus im „jüngsten Gericht“ nicht bestehen kann, verloren geht und die Ewigkeit in der „Hölle“ verbringt (unerfreulicherweise enthält das NT viele Aussagen Jesu zur „Hölle“) kann man dann im textkritischen Geiste „ausschwärzen“.
Wenn Brüggemann dazu aufruft „eindeutige Gebote der Heiligen Schrift abzulehnen und uns stattdessen auf eine andere Autorität zu berufen“, fragt man sich natürlich, welche Autorität er da wohl meint. Vielleicht sich selbst – streng nach der Verdrehung der ersten Worte des Dekalogs „ICH bin mein Herr, mein Gott“.

Matze
1 Jahr zuvor

@ Udo,
Danke Du sprichst mir aus dem Herzen. Ob das die Postevangelikalen/ Progressiven auch so sehen?

Alex aus Cloppenburg
1 Jahr zuvor

Ihr Lieben, „die Hölle, das sind die Anderen“ – ob es evangelikale oder progressive Andere sind, hängt von der Perspektive ab.

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